Ulm (Meyer’s Universum)

CCCXCIV. Die Burg von Trient in Tyrol Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCXCV. Ulm
CCCXCVI. Windsor-Castle
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ULM

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CCCXCV. Ulm.




In einem freundlichen Thale der hier schon schiffbaren Donau, an der Marke zweier Königreiche, liegt die uralte Hauptstadt des Schwabenlands, Ulm, sonst frei, groß, stark und reich; jetzt eine der guten Städte Würtembergs. Es ist der Sitz der Behörden eines Kreises und Oberamts.

Der goldene Tag Ulms ist längst vorüber; doch steht seine Gegenwart dem Morgen näher als der Mitternacht. Schon die Urgroßväter sahen die Sonne untergehen, und die Aeltern der jetzigen Generation haben die schwärzeste Nacht und das tiefste Weh überstanden. Geht auch die Nachkommenschaft der Lebenden noch im Zwielicht und Morgennebel, dauert es auch noch eine Weile, bis die Sonne wärmend durchscheint und der glänzende neue Tag da ist: so kann er doch nicht ausbleiben; die Zeit und ihre Verhältnisse verheißen ihn zuversichtlich. In der sich rasch vorbereitenden Umgestaltung des commerziellen und industriellen Lebens Deutschlands und Europa’s überhaupt muß Ulms glückliche Lage an dem Punkte, wo der größte Strom des Welttheils zuerst Schiffe trägt, zur vollen Geltung gelangen. Es wird ihm die Vermehrung der Bevölkerung, des Gewerbfleißes und Wohlstandes aus derselben Quelle fortströmen, aus der sie ihm vor Jahrhunderten so reichlich floß.

Schon offenbart sich das neue Gedeihen Ulms mehr und mehr mit jedem Jahre. Die Bevölkerung, welche vor drei Dezennien unter 12,000 gesunken war, hat sich seit dem Frieden auf 18,000 erhoben, und Handel und Industrie haben sich in gleichem Verhältniß gemehrt. In den theilweise verödet gewesenen Straßen ist wieder ein rühriges Leben, der verarmte Handwerksstand kräftigt sich allmählig, und der anscheinend ganz erstorben gewesene Unternehmungsgeist der Ulmer treibt neue Schößlinge zu starken Aesten. Der Ulmer Handelsstand war vor ein paar Jahrzehnten an den Börsen fast verschollen; jetzt gebietet er wieder über große Hülfsmittel, den uralten Ruf der Energie, Thätigkeit und Sparsamkeit hat er sich neu erworben und er erntet seine Früchte. Im Allgemeinen geht Ulm auf gleicher Linie mit Nürnberg, Augsburg und Regensburg stätig, wenn auch nicht eilig, den Weg des Gedeihens und Verjüngens.

Und auch darin ist es jenen Schwesterstädten gleich, daß es das wohlbewahrte, alte Gewand nicht leichtfertig abwirft, sondern es liebend putzt und sich zu erhalten sucht. Das gemüthliche Gesicht der alten, süddeutschen, großen Reichsstädte schaut Einem in Ulm noch frisch an: – die unregelmäßig in einander geschlungenen, [64] dabei aber reinlichen und wohnlichen Straßen, die Häuser mit den hohen Giebeldächern, Spitzen und Wetterfahnen, die sonnigen Erker, die unregelmäßigen, nur dem Gesetz wohnlicher Bequemlichkeit dienenden Fenster, die sogenannten Guckhäuslein, und das Guckhütlein (so nennt man nämlich ein auf dem Dache zur Aussicht in’s Freie angebrachtes, kleines, freundliches Gemach) sind noch da. Der große Vorraum vieler Hauser heißt noch immer hier „die Laube“, der uralte, ehemalige Sammelplatz der Familie, der Freunde und Nachbarn nach gethaner Arbeit zu Gespräch, Gesang und Saitenspiel. Er ist häufig mit Ziegelplatten auf Art der Mosaik ausgelegt und mit Gemälden ausgeschmückt. Doch verschwindet in neuerer Zeit dieser Theil der Häuser schneller: denn da, bei der Zunahme der Bevölkerung, der Raum werthvoller geworden ist, so wird er häufig zu Läden oder Wohnungen umgebaut.

Ulms große Zeit hat manches schöne Monument zurückgelassen: den weltberühmten Münster, das Rathhaus, den Kaiserhof (jetzt sogenannten Neuen Bau) u. a. m. Vor allem ist der Münster ein der Gegenwart kaum begreifliches Zeugniß von dem, was religiöse Begeisterung und Gemeinsinn über die Bürgerschaft einer mäßig großen Stadt vermochten; es ist räthselhaft, wie es möglich war, sie zu Werken zu ermuthigen, die zu unternehmen manches Reich jetzt nicht wagen würde. Dem Cölner Dom allein (wenn er ausgebaut seyn wird) steht der Ulmer an Masse nach, und, von fern gesehen, wirft er auf die ihn umgebende Häusermasse wahrhaft erdrückend. Der Maßstab ist so ungeheuer, daß er die Möglichkeit eines Vergleichs ausschließt, und die ihn umgebenden stattlichen und großen Wohnhäuser (er steht frei auf einem ansehnlichen Platze) erscheinen dem Betrachter klein und zerbrechlich. Des Münsters äußere Dimensionen sind: Länge 485, Breite 200, Höhe 141 Fus. Sechs Zugänge führen in den Tempel; der prachtvolle Haupteingang ist unter dem Thurme, der, obschon unfertig gelassen, doch nahe an 400 Fuß hoch ist. Fertig würde er, die große Pyramide von Gizeh ausgenommen, daß höchste Gebäude der Welt geworden seyn.

Das Fundament dieses Baucolosses ruht auf einem Rost von Ulmenbäumen. 1377 wurde der erste Stein gelegt. Hundert und drei Jahre hatte der Bau gedauert, da wurde die Kirche geweiht. Dann wurden noch 122 Jahre am Thurme fortgebaut. Aber inzwischen war die neue Zeit herangekommen, und vor dem Wissen und der Erkenntniß, die sie mitbrachte, trat die Religion in den Hintergrund. Der Enthusiasmus für den Bau nahm ab, die Goldquellen, welche das Unternehmen nährten, rieselten schwächer. Der Hader in der Kirche öffnete der Menge die Augen. Zu ihrem Siechthum trat auch die Erschlaffung des Reichs, und die Krankheit des Hauptes verbreitete sich durch alle Glieder. Die freien, einigen Gemeinwesen in den Reichstädten zerrissen in Parteiungen, sie verwandelten sich in Oligarchien, und eine trugvolle, tyrannische Familien-Kliken-Politik trat an die Stelle geschirmter Bürgerfreiheit. Bis in die untersten Schichten der Gesellschaft verbreitete sich die Lähmung, [65] Gleichgültigkeit für öffentliche Werke trat an die Stelle der Theilnahme, und mit dem Erstarren der politischen und religiösen Formen erstarb auch der letzte Hauch der Begeisterung, der die Seckel von Arm und Reich über zwei volle Jahrhunderte lang zur Fortsetzung des Riesenwerks offen gehalten hatte. Da erschien der Tag, wo die Steinmetzen die letzte Löhnung faßten und Schicht war fortan am Münsterbau für immer. 1502 wurde der Thurm, erst zu zwei Drittheile fertig, eingedacht; was in der Kirche noch zu ergänzen war, blieb ebenfalls unvollendet, was aber spätere Zeiten hinzugethan, war nicht Zier, sondern Unzier und Verunstaltung. Den nachfolgenden Geschlechtern, die unter ganz veränderten Verhältnissen und ihren Einflüssen groß gezogen worden, fehlte das Verständniß, den Architekten mangelte die Einsicht in die bedeutungsvolle Tiefe des ursprünglichen Bauplans. Den alten Baumeistern war Alles Symbolik, die Formen waren ihnen nur die Träger des Gedankens; die neueren hingegen, da die Begeistigung verflogen, sahen blos starre, todte Bilder der Willkühr oder der humoresken Laune, und im Verhältniß, wie die innere Anschauung erblindete, bildete sich bei ihnen der Begriff der Berechtigung aus, andere willkührliche Formen an die Stelle der älteren zu setzen. Im Uebermuthe unkünstlerischen Selbstgefühls drängte, so hier wie anderwärts, die neuere Architektur gegen alle Schranken an, die ihre Nichtachtung des Alten hemmen wollten. Was dieser barbarische Umbildungstrieb anfing, das vollendete nachher wirkliche Zerstörungssucht. Mit Mäßigung hatten die Reformatoren im Beginn nur das Gerechteste begehrt; aber von der antagonistischen Gewalt auch ihrerseits zur Gewalt getrieben, konnte bald das Maß nirgends mehr gefunden werden, und plumpe Rohheit, wohl auch Habsucht, der nach den Kirchenschätzen gelüstete, mischte sich darein und fand ein weites Feld, ihren Leidenschaften zu fröhnen. Die Reformation war damals der weite Mantel, der gar vieles Schändliche verhüllte. Während der bilderstürmenden Epoche wurde auch der Münster seines Schmucks zumeist beraubt. Zwei und fünfzig Altäre und viele Capellen wurden weggerissen, die Heiligenstatuen, viele Gemälde und unzähliger Zierrath abgenommen und verschleppt oder vernichtet und von der harmonischen Auszierung des herrlichen Gotteshauses blieb blos Einzelnes zurück. Die öden Wände wurden während des dreißigjährigen Krieges noch öder. Später zwar hat die Kunst sich zur neuen Ausschmückung versucht; was sie that, war jedoch des Hauses nicht würdig und meist eben so dürftig, als geschmacklos. Erst 1817, bei Gelegenheit des Reformationsfestes, ist für die Restauration des Tempels Besseres geschehen. Aber unendlich viel ist noch zu thun übrig und ein Ausbau, dem ursprünglichen Plane gemäß, wäre der Zeit wohl würdig, die es unternommen hat, in Cölns Dom die größte architektonische Idee aller Zeiten und Völker zur vollendeten That zu machen. – Der Chor des Ulmer Münsters ist derjenige Theil, welcher von den Stürmen der Reformation am meisten verschont blieb. Seine trefflichen, wohlerhaltenen Glasmalereien sind das Beste, was die (nun neuerstandene) Kunst in Süddeutschland aufzuweisen hat. Vor dem Chor steht der Hauptaltar mit Hans Schäuffelins herrlichem [66] Bilde, die Einsetzung des Abendmahls. Von Martin Schaffner, Dürer’s Zeitgenossen, ist der Gemäldeschmuck im Chore selbst; die schönen Bildschnitzereien eben da fertigte Daniel Meth. Ein kunstvolles Sakramenthäuschen, in Gestalt einer Pyramide, steht neben dem Chor, ein Werk des Meisters Jörgen Surlen um 1570. Von derselben Hand sind die Chorstühle geschnitten worden und das vortreffliche Christusbild in der Vorhalle; auch die kunstvolle Kanzel und der Taufstein.

Das Ulmer Rathhaus ist noch älter als der Münster und stand schon 1360. Auch da ist in den vielen Zimmern und Sälen mancher Schatz alter Kunst verborgen; aber Vieles ist schlecht gehalten, unpassend aufgestellt und bleibt fort und fort vernachlässigt. Im großen Rathsaale waren ehedem die Sitzungen der schwäbischen Reichsstände, als deren Haupt Ulm eine Zeitlang großen Einfluß auf die Angelegenheiten des Reichs besaß. Im Gewölbe unter demselben modert das schwäbische Archiv, eine Masse von Dokumenten und für die ältere Geschichte des Vaterlandes ein Schatz, welcher der Hebung wohl vergeblich harren wird. Hier befindet sich auch ein merkwürdiges Werk des großen Keppler, ein Hohlgefäß von Kupfer, auf welchem alle damals gangbaren Hohlmaße genau angegeben sind. – Tief unter dem Rathhause, wie unter dem Capitol des römischen Senats, sind scheußliche Kerker, in welchen die herrschenden Patrizier, nach der Unterdrückung der Bürgerfreiheit, den von Zeit zu Zeit heftig erwachenden Freiheitssinn der Bürger zu zügeln wußten. Man sieht noch die Folterkammer, man sieht noch die Kloben in der Mauer und an den Pfeilern, zur Ankettung der unglücklichen Schuldigen und der schuldlosen Opfer.

Fort aus diesen Schauergewölben und in Ulms lachende Umgebung! Den dichten Gartenkranz um die verfallenen Wälle fassen wir recht in’s Auge, denn wir sehen ihn nicht wieder. In einigen Jahren wird er verschwunden seyn. Ulm soll ja wieder ein Waffenplatz ersten Ranges werden. Wunderlicher Plan! während die Künste und Interessen des Friedens, Eisenbahnen und andere Dinge, den Krieg für immer würgen, baut man Festungen! –