Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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In einem freundlichen Thale der hier schon schiffbaren Donau, an der Marke zweier Königreiche, liegt die uralte Hauptstadt des Schwabenlands, Ulm, sonst frei, groß, stark und reich; jetzt eine der guten Städte Würtembergs. Es ist der Sitz der Behörden eines Kreises und Oberamts.
Der goldene Tag Ulms ist längst vorüber; doch steht seine Gegenwart dem Morgen näher als der Mitternacht. Schon die Urgroßväter sahen die Sonne untergehen, und die Aeltern der jetzigen Generation haben die schwärzeste Nacht und das tiefste Weh überstanden. Geht auch die Nachkommenschaft der Lebenden noch im Zwielicht und Morgennebel, dauert es auch noch eine Weile, bis die Sonne wärmend durchscheint und der glänzende neue Tag da ist: so kann er doch nicht ausbleiben; die Zeit und ihre Verhältnisse verheißen ihn zuversichtlich. In der sich rasch vorbereitenden Umgestaltung des commerziellen und industriellen Lebens Deutschlands und Europa’s überhaupt muß Ulms glückliche Lage an dem Punkte, wo der größte Strom des Welttheils zuerst Schiffe trägt, zur vollen Geltung gelangen. Es wird ihm die Vermehrung der Bevölkerung, des Gewerbfleißes und Wohlstandes aus derselben Quelle fortströmen, aus der sie ihm vor Jahrhunderten so reichlich floß.
Schon offenbart sich das neue Gedeihen Ulms mehr und mehr mit jedem Jahre. Die Bevölkerung, welche vor drei Dezennien unter 12,000 gesunken war, hat sich seit dem Frieden auf 18,000 erhoben, und Handel und Industrie haben sich in gleichem Verhältniß gemehrt. In den theilweise verödet gewesenen Straßen ist wieder ein rühriges Leben, der verarmte Handwerksstand kräftigt sich allmählig, und der anscheinend ganz erstorben gewesene Unternehmungsgeist der Ulmer treibt neue Schößlinge zu starken Aesten. Der Ulmer Handelsstand war vor ein paar Jahrzehnten an den Börsen fast verschollen; jetzt gebietet er wieder über große Hülfsmittel, den uralten Ruf der Energie, Thätigkeit und Sparsamkeit hat er sich neu erworben und er erntet seine Früchte. Im Allgemeinen geht Ulm auf gleicher Linie mit Nürnberg, Augsburg und Regensburg stätig, wenn auch nicht eilig, den Weg des Gedeihens und Verjüngens.
Und auch darin ist es jenen Schwesterstädten gleich, daß es das wohlbewahrte, alte Gewand nicht leichtfertig abwirft, sondern es liebend putzt und sich zu erhalten sucht. Das gemüthliche Gesicht der alten, süddeutschen, großen Reichsstädte schaut Einem in Ulm noch frisch an: – die unregelmäßig in einander geschlungenen,
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/109&oldid=- (Version vom 31.12.2024)