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dabei aber reinlichen und wohnlichen Straßen, die Häuser mit den hohen Giebeldächern, Spitzen und Wetterfahnen, die sonnigen Erker, die unregelmäßigen, nur dem Gesetz wohnlicher Bequemlichkeit dienenden Fenster, die sogenannten Guckhäuslein, und das Guckhütlein (so nennt man nämlich ein auf dem Dache zur Aussicht in’s Freie angebrachtes, kleines, freundliches Gemach) sind noch da. Der große Vorraum vieler Hauser heißt noch immer hier „die Laube“, der uralte, ehemalige Sammelplatz der Familie, der Freunde und Nachbarn nach gethaner Arbeit zu Gespräch, Gesang und Saitenspiel. Er ist häufig mit Ziegelplatten auf Art der Mosaik ausgelegt und mit Gemälden ausgeschmückt. Doch verschwindet in neuerer Zeit dieser Theil der Häuser schneller: denn da, bei der Zunahme der Bevölkerung, der Raum werthvoller geworden ist, so wird er häufig zu Läden oder Wohnungen umgebaut.

Ulms große Zeit hat manches schöne Monument zurückgelassen: den weltberühmten Münster, das Rathhaus, den Kaiserhof (jetzt sogenannten Neuen Bau) u. a. m. Vor allem ist der Münster ein der Gegenwart kaum begreifliches Zeugniß von dem, was religiöse Begeisterung und Gemeinsinn über die Bürgerschaft einer mäßig großen Stadt vermochten; es ist räthselhaft, wie es möglich war, sie zu Werken zu ermuthigen, die zu unternehmen manches Reich jetzt nicht wagen würde. Dem Cölner Dom allein (wenn er ausgebaut seyn wird) steht der Ulmer an Masse nach, und, von fern gesehen, wirft er auf die ihn umgebende Häusermasse wahrhaft erdrückend. Der Maßstab ist so ungeheuer, daß er die Möglichkeit eines Vergleichs ausschließt, und die ihn umgebenden stattlichen und großen Wohnhäuser (er steht frei auf einem ansehnlichen Platze) erscheinen dem Betrachter klein und zerbrechlich. Des Münsters äußere Dimensionen sind: Länge 485, Breite 200, Höhe 141 Fus. Sechs Zugänge führen in den Tempel; der prachtvolle Haupteingang ist unter dem Thurme, der, obschon unfertig gelassen, doch nahe an 400 Fuß hoch ist. Fertig würde er, die große Pyramide von Gizeh ausgenommen, daß höchste Gebäude der Welt geworden seyn.

Das Fundament dieses Baucolosses ruht auf einem Rost von Ulmenbäumen. 1377 wurde der erste Stein gelegt. Hundert und drei Jahre hatte der Bau gedauert, da wurde die Kirche geweiht. Dann wurden noch 122 Jahre am Thurme fortgebaut. Aber inzwischen war die neue Zeit herangekommen, und vor dem Wissen und der Erkenntniß, die sie mitbrachte, trat die Religion in den Hintergrund. Der Enthusiasmus für den Bau nahm ab, die Goldquellen, welche das Unternehmen nährten, rieselten schwächer. Der Hader in der Kirche öffnete der Menge die Augen. Zu ihrem Siechthum trat auch die Erschlaffung des Reichs, und die Krankheit des Hauptes verbreitete sich durch alle Glieder. Die freien, einigen Gemeinwesen in den Reichstädten zerrissen in Parteiungen, sie verwandelten sich in Oligarchien, und eine trugvolle, tyrannische Familien-Kliken-Politik trat an die Stelle geschirmter Bürgerfreiheit. Bis in die untersten Schichten der Gesellschaft verbreitete sich die Lähmung,