Ueber die Angelegenheiten des Orients

Textdaten
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Autor: w:Jean Maximilien Lamarque w:Jean Jacques Pelet
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Titel: Ueber die Angelegenheiten des Orients
Untertitel:
aus: Das Ausland, Nr. 136-137; 139 S. 541-542; 545-546; 555-556
Herausgeber: Eberhard L. Schuhkrafft
Auflage:
Entstehungsdatum: 1828
Erscheinungsdatum: 1828
Verlag: Cotta
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Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft: Le spectateur militaire
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Gedankenspiele zur militärischen Lage Frankreichs um 1828
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[541]

Ueber die Angelegenheiten des Orients.

(Von Generallieutenant Max. Lamarque.)
[1]

Eine Grundidee beherrscht das von General Pelet kürzlich ausgesprochene Urtheil über die Angelegenheiten des Orients [2] – die Furcht vor Rußland, der Schrecken, den seine, beinahe auf fünfzig Millionen steigende Bevölkerung einflößt, seine ungeheure, der Hälfte Europas gleichkommende Ausdehnung, sein schnelles Umsichgreifen gegen Abend und Morgen, der kriegerische Geist seiner Völker, der schrankenlose Ehrgeiz seiner stolzen Czare, die, das Schwert vereinend mit der Tiare, im Namen dieser und jener Welt gebieten. Pelets farbenreiches Gemälde hat lange unsern Blick gefesselt, ohne unsere Ansichten zu ändern. Wir legen diese Ansichten dem Publikum vor, das gleich gerecht seyn wird gegen zwei Schriftsteller, die von denselben Gefühlen belebt sind, und gleich entflammt für den Ruhm und das Glück ihres Vaterlandes.

Es liegt nicht in unserer Absicht, den Artikel, dem wir antworten, Schritt für Schritt zu bekämpfen. Doch müssen wir gleich von vorn herein gestehen, daß uns die Lection, die der alte Aranda einem jungen Diplomaten gab, nicht als etwas Bedeutendes erschien. Die Geographie ist in unsern Augen nicht alles; wir glauben nicht, daß die Kraft der Staaten auf absolute Weise durch ihre Grenzen bestimmt werde. Unserer Ansicht nach liegt wenig daran, ob ein Punkt des Cirkels den Mittelpunkt Europas berühre, wenn der andere über Eismeere läuft, über öde Küsten, unfruchtbare Steppen, über die mit ewigem Schnee bedeckten Gipfel des Elburz, Kedela, Kasbeck etc. Auch können wir einem vorgeschobenen Punkte irgend einem vorspringenden Winkel des Gebiets unmöglich eine bedeutende thätige Kraft beilegen, wenn er nicht dadurch, daß er einen Kriegsplatz einschließt, wie Straßburg, Mailand, Luxemburg, ein großes Depot wird, ein zu fürchtendes Arsenal, der Ausgangspunkt einer Operationslinie.

Die geographische Lection, die in Paris der zweite Consul, Cambaceres, erhielt, scheint uns viel geistreicher als die des spanischen Gesandten: eine Charte von Europa lag auf seinem Tische: er deutete mit dem Finger auf England und zeigte es dem berühmten Fox, der gekommen war, um einige Zeit in Paris zuzubringen, und sein Blick schien ihm zu sagen: „Sehen Sie den kleinen Raum den Britannien in der Welt einnimmt.“ Der Britte verstand ihn, und sagte ihm, sich stolz aufrichtend, mit Würde: „Ja, mein Herr, auf diesem kleinen Punkt der Erde ist es, wo wir unsere Häuser bauen, unsere Frauen lassen, und wo unsre Kinder geboren werden; England aber, England ist die ganze Welt!“

Untersuchen wir diese stolze Behauptung! Eine Hauptstadt von dreizehnmalhunderttausend Seelen ist das Herz dieses ungeheuren Körpers. Hier ist der Sitz einer Regierung, die, stets jung, stets kräftig, stets vorschreitend mit der Meinung, die sie leitet, weder den Schwächen der Kindheit, noch der Mattigkeit des Alters unterworfen ist; hier ist die Quelle eines Credits, der, in dem letzten Kampfe mit Frankreich, es möglich machte, eilf Milliarden auszugeben, unmittelbar nach einem Kriege, der neun Milliarden gekostet hatte; hier endigen alle Intriguen, die das übrige Europa bewegen; hier discutirt man mit kaltem Blute, ob es im Interesse Englands liegt, daß die Völker frei seyn sollen wie die von Südamerika, oder Sklaven wie die an den Ufern des Indus und des Ganges; hier lebt stets ein Haß gegen Frankreich, den man vergebens zu verbergen sich bemüht, eine Eifersucht, die jeder Vergrößerung unseres Gebiets entgegentritt, und mit Schmerz auf unsere Fortschritte in Kunst, Industrie und Handel blickt. Versucht es einmal, die Umstände des Augenblicks zu benützen, um das alte Gallien wieder herzustellen, und unsere natürlichen Grenzen wieder zu gewinnen. Wer wird sich widersetzen? Rußland? Nein! England, England das gegen uns das Königreich der Niederlande aufgestellt hat, und das stets bereit ist, Cannings Wort zu wiederholen: „Eher ewigen Krieg, als die Schelde Frankreich zu lassen!“ So begreift man, warum es sich so angelegen seyn läßt, daß Mons, Tournay, die Plätze Hollands und Flanderns, die seine Brückenköpfe bilden, zu befestigen; warum seine Heerführer sich das Recht vorbehalten haben, diese Werke zu leiten und zu beaufsichtigen.

Wenn wir von jener ungeheuern Hauptstadt aus die drei Königreiche durchlaufen, so erblicken wir hier dreiundzwanzig Millionen Einwohner, so vereinigt, so dicht gedrängt, daß vier bis fünftausend auf eine Quadratmeile kommen, und diese materielle Kraft ist noch verzehnfacht durch ihren Muth, ihren Unternehmungsgeist, ihre nationale Selbstliebe, ihre vorgeschrittene Bildung, ihre Anhänglichkeit an das Mutterland und ihre Erfindungen in allen Künsten. Die Aristokratie, die herrscht, die Industrie, welche die Reichthümer aufhäuft, das Volk, das [542] arbeitet – alle sind gleich englisch und nichts als englisch. Die Theilung des Eigenthums ist so groß, daß, während sie den Regierenden eine fast unwiderstehliche Kraft verleiht, sie zugleich eine Masse von Proletariern erzeugt, die eine unerschöpfliche Quelle für die Flotten und die Landarmee bilden. Soll ich noch jener zwölfmalhunderttausend Gewehre erwähnen, die im Tower aufgehäuft sind, jener schwimmenden Citadellen, welche, die Herrschaft der Meere sichernd, schnell wie der Strom des Windes, Armeen auf die entferntesten Punkte tragen können, und es leicht machen, stets angreifend aufzutreten, während sie die Garantie gewähren, nie auf dem eigenen Gebiete angegriffen zu werden?

Von diesem so mächtigen Stamme gehen zahlreiche Aeste aus – die hundert Arme des Briareus, die die Welt umfassen. Im Norden beherrscht Helgoland das nördliche Deutschland; wie zwei vorgeschobene Posten bewachen Jersey und Guernesey den Canal und bedrohen die Küsten Frankreichs; Gibraltar schließt das Mittelmeer und kann auf seine unangreifbaren Wälle das Wort der Herkulessäulen setzen: „Nicht weiter!“ Wollen wir etwa aus unsern Seehäfen von Toulon oder Marseille auslaufen? Malta und Corfu verkündigen uns, daß dieses und das adriatische Meer englische Besitzungen sind, die man, nur wenn der Britte es für gut findet, beschiffen kann. Hoffen wir vielleicht auf den Antillen und auf dem Festlande Amerikas einige Trümmer unsrer alten Macht zu finden? Canada, St. Domingo, St. Lucia, das die beiden schwachen Kolonien, die man uns gelassen hat, wirkungslos macht, gehören nicht mehr Frankreich; Englands Kriege und Intriguen haben sie ihm geraubt. Halifax verleiht Großbritannien die Herrschaft über den Norden der atlantischen See, so wie Jamaica und Trinidad die Küsten Mexicos in seine Hand geben. In Ostindien ist seine Macht noch weniger unangefochten. St. Helena, das Cap, sind seine Stationen; weiter hin ließ es uns, gleichsam aus Mitleiden, ein Inselchen ohne Hafen und Rhede, raubte uns dagegen das schöne Isle de France; seinem Alliirten entriß es den wichtigen Punkt Ceylan, und nun hat es keinen Rivalen mehr an jenen Gestaden, wo Lahourdonnaie, Dupleix und Suffrein dem französischen Namen Liebe, Bewunderung und Furcht erweckten. England herrscht dort über achtzig Millionen Einwohner! Das Reich der Mahratten ist vernichtet, das der Birmanen dem Sturze nah – der Britte steht an der Grenze China’s!

Soll ich auch die Sundinseln, und Neu-Holland und Neu-Seeland, und Sincapur, und Vandiemensland etc. etc. anführen? Gestehen wir, er hatte Recht, der Redner Albions: England ist die ganze Welt! [545] Und in der Gegenwart einer solchen Macht, die mit ihrem ganzen Gewicht auf den Continent drückt, die stark ist durch unsere Schwäche, reich durch unsern Raub, die, das Monopol der Welt nöthig habend, bereit ist, Jeden niederzuschlagen, der sich erhebt, Alles zu vernichten, was producirt – will man uns mit Rußland schrecken, will man uns sagen: „Wir sind der Entwicklung des Dramas nahe: Constantinopel erobert, und Europa ist unterjocht?“

Was liegt Europa an Constantinopel und der Türkei, jenem ungeheuern Leichnam, der von Bosnien bis an den Bosporos, vom Pruth bis an den Archipel nur Elend und Tod verbreitet? England allein ist es, dem er Nutzen bringt, England, das, Herr des Mittelmeers und des Welthandels, gerne einen status quo erhalten möchte, der seinen Ruhm und seinen Reichthum schütze. Aber Frankreich! Es kann bei jeder Veränderung nur gewinnen. Vergebens verkündigt eine verirrte Politik, die Frucht der Traditionen vergangener Zeit, noch jetzt unter uns, daß die Allianz mit der Türkei Frankreich stets vortheilhaft war; man beginnt einzusehen, daß was 1536 gut war, es heute nicht mehr ist; daß, Mann gegen Mann mit Carl V kämpfend, Franz I einigen Vortheil aus der Allianz mit den Barbaren ziehen konnte, daß aber in einem Kriege gegen Oesterreich oder England die Türkei uns nichts nützen würde. Bedauern wir vielmehr den Verlust unsres levantischen Handels, jene Stapelplätze, an die der geistreiche Graf Segur die große Catharina erinnerte, die schon 1787 sagte, daß Frankreich die Türkei unterstütze, ohne zu wissen warum. Man gehe über die Märkte von Constantinopel, Aleppo, Smyrna, Tripolis, und man wird sehen, wie die Fremden uns überall den Rang ablaufen, und wie wenig wir zu verlieren haben. Sind aber die Türken [3] nach Asien zurückgeworfen, so wird eine Vereinigung von Griechen, Armeniern, Juden, Slaven, die gegenwärtig allein zwei Siebentheile der Bevölkerung ausmachen, den Grundstock eines neuen Staates an den Ufern des Bosporos bilden, und bald wird sich diese Bevölkerung, befreit von einem brutalen und tyrannischen Joche, vermehren; sie wird dem Laufe der Civilisation folgen, sie wird neue Bedürfnisse erhalten und einen ungeheuern Absatzweg unserm Handel darbieten, der gegenwärtig täglich schwächer wird, aus dem ganz einfachen Grunde, weil die Pest, die Hungersnoth, und eine Regierung, die noch verderbenbringender ist, als diese beiden Geiseln, alle zwölf bis fünfzehn Jahre die Zahl der Einwohner um ein Neuntheil vermindert.

Aber nicht blos sein Handel mit Klein-Asien, seine Uebermacht im Mittelmeer, die durch die Oeffnung des Bosporus und der Dardanellen zweifelhaft werden könnte, veranlassen England zu dem Wunsche, den status quo der Türkei zu erhalten; noch andere Schrecken bewegen es: in dunkler Zukunft sieht es Indien bedroht. Calcutta und Bombay sind es, die es in Constantinopel zu vertheidigen glaubt. Schon längst ließ das fortschreitende Vorrücken einer großen Macht gegen das schwarze Meer, ihre Niederlassung in der Krym, England beunruhigende Plane fürchten. Gegenwärtig sind diese Plane nicht mehr zweifelhaft, seitdem der Kuban aufgehört hat, als Grenzscheide zu dienen, seitdem die Besitzergreifung von Abasa und Mingrelien Trapezunt, Sinope und die Küsten Anatoliens bedroht; hauptsächlich aber seitdem, den Phasis übersteigend, die Russen an die Quellen des Cyrus vorgedrungen sind, und sich jenseits des Kaukasus festgesetzt haben, jener furchtbaren, einst von eiserner Pforte verschlossenen Grenze. So sind sie nun Herren von Georgien und der ganzen Küstenstrecke der kaspischen See, von der Mündung der Wolga bis zum Meerbusen von Ghilan! Sie herrschen zu Tiflis, das der große Stapelplatz Asiens werden muß, und von wo zahlreiche Handelsverbindungen mit Bucharien, Kaschimir und Tibet ausgehen; schon richten sich nach diesem Punkte die Karavanen, die, von den Gestaden des Indus kommend, dem brittischen Monopole sich entziehen wollen. Schon öffnet sich durch Arzerum ein directer Weg nach dem persischen Meerbusen. Ispahan schwankt noch zwischen russischem und englischem Einfluß, aber der größere Schrecken, den die Krieger einflößen, die den Araxes überschritten, wird die Wahl nicht lange zweifelhaft lassen.

Diese Umänderung der Verhältnisse, die den Handel auf seine alten Bahnen zurückführen zu wollen scheint, mag wohl der ostindischen Compagnie Besorgnisse einflößen; welches Interesse aber soll Europa daran nehmen [546] Was liegt Frankreich daran, wenn die Karavanen, ihre bisherigen Wege verlassend, nicht mehr nach Constantinopel, Aleppo, Smyrna kommen? Soll es einen Krieg anfangen, weil die blauen, scharlachroth ausgeschlagenen Röcke der persischen Armee aufhören könnten, aus den englischen Fabriken hervorzugehen, und fix und fertig in einem Seehafen des persischen Golfs anzukommen?

Wenn ich mich über diesen Gegenstand verbreitet habe, so geschah es, weil der Handel gegenwärtig die Basis ist, auf welcher das Glück der Staaten ruht, und weil England durch ihn allein auf eine so hohe Stufe der Macht gelangt ist, und um ihn zu erhalten und zu vergrößern, stets bereit ist, die Welt in Blut zu tauchen. Kehren wir nun zu unserem Gegenstande zurück, betrachten wir die Angelegenheiten des Orients unter dem militärischen Gesichtspunkte, und verfolgen wir die verschiedenen Hypothesen, welche die Zukunft darbieten kann.

Um Ordnung in diese Untersuchung zu bringen, fühle ich, daß ich nach der Hinweisung auf die Macht Englands, nun auf die von Rußland den Blick richten sollte; ich gestehe aber, daß seine auf einer ungeheuern Flächenausdehnung sparsam ausgesäete Bevölkerung, die Zeit, die Ausgaben, die nöthig sind, um Menschen, die von den Ufern der Weichsel bis zu denen der Wolga wohnen, in Bewegung zu setzen, seine mäßigen Revenüen, die keine langen und entfernten Kriege erlauben, selbst die Leichtigkeit, mit der es die Staaten eroberte, die es sich einverleibte, Rußland in meinen Augen viel weniger furchtbar machen. Ueberdieß sind seine Interessen den unsrigen durchaus nicht entgegen. Es kann wollen, ja es will, daß Frankreich reich und glücklich sey. Rußland verdanken wir, daß Flandern, Lothringen, das Elsaß noch uns angehören, daß wir nicht auf das Frankreich Carl’s VII beschränkt sind. Irren wir aber in unserm Urtheil, ist Rußland wirklich so drohend als man es darstellt, war der Norden, was ich nicht glaube, wirklich jene „Werkstätte des menschlichen Geschlechts,“ aus der zweimal die Ströme der Barbaren hervorgingen, die Europa verwüsteten, so wäre es weise, so wäre es klug, jene Ströme in ihrem Laufe abzulenken.

Als die Russen den Niemen überschritten, als sie Polen an sich rissen, als sie zwölf Stunden von der Oder ihren Grenzgott aufstellten, der nie zurückweicht, da war es Zeit, daß Europa zu den Waffen griff. Es fühlte dieß nicht. Ja später verließ es den Eroberer, der in riesenhafter Unternehmung zu gleicher Zeit seine Liebe zum Ruhm, die Gefühle seiner Brust, wie das, was er für das dringendste Bedürfniß des Abendlandes hielt, zu befriedigen suchte. Welcher Arm ist nun stark genug, das zu vollbringen, was jenem nicht gelang, eine Schranke aufzurichten, die Frankreich stets zu vertheidigen haben würde?

Lassen wir also den Vulcan sich einen Krater gegen den Orient öffnen, lassen wir ihn auf Asien seine drohende Lava schleudern, und betrachten wir die Hindernisse, die sich ihm entgegenstellen könnten.

Als 1123 Jahre, nachdem Constantin den Sitz des Reichs hieher verlegt hatte, Mahommed II Constantinopel mit Sturm nahm, mußte Europa befürchten, dem Halbmonde unterworfen zu werden. Die Zeiten haben sich geändert. Ein Volk, das damals auch nicht einmal dem Namen nach bekannt war, droht nun der ottomanischen Pforte, und die Türken, die fast noch so tapfer als ihre Väter sind, aber sich durch alle andere Völker in den Künsten des Friedens wie in der Wissenschaft des Krieges überflügeln ließen, sind nicht mehr im Stande, jenem Volk zu widerstehen. Die Stunde naht, wo Mahommeds II Werk zusammenstürzen wird. Diplomatische Feinheit kann diesen Sturz noch etwas verschieben, aber die Kraft der Dinge wird ihn vollenden.

Ehe Rußland an diese große Unternehmung denken konnte, war es nöthig, seine Basis von allen Seiten zu erweitern. Die Erwerbung Finlands mußte die einst so furchtbaren Schweden entfernen; Polen mußte seine rechte Flanke decken; die Besitzergreifung der Krym, der Ufer des schwarzen Meers und der kaspischen See erlaubte ihm unter seinen Fahnen jene Wolken von Tataren, Scythen, Kosaken zu sammeln, die zur Zeit Montecuculis und Eugens die Hauptmacht der türkischen Armeen bildeten, und an den Ufern des Pruth die Soldaten Peter des Großen einschloßen und aushungerten.

Jene Präliminär-Unternehmungen Rußlands sind erfüllt; Europa hat sie theils geduldet, theils mit vollendet. Da so die Russen nichts mehr auf ihren Flanken zu fürchten haben, setzen sie sich, aufgefordert von einem blinden Feinde, in Marsch nach der Moldau und Wallachei, die sie, ohne eine Lunte anzuzünden, durchziehen werden. Sie werden dort nicht mehr Widerstand finden, als Romanzow 1771 und Michelson 1806. Die Donau wird sie nicht lange aufhalten, denn Ismaël verleiht ihnen gegenwärtig außerordentliche Vortheile zur Vereinigung von Kriegs- und Transportschiffen. Im Jahre 1773 ging Romanzow bei Silistria über jenen Strom; 1809 Bragation bei Galacz; 1810 gelang es gleich gut bei Vetrova, wie bei Hirsova (Kersova) und Tertukai; so haben trotz des am rechten Ufer fast überall herrschenden raschen Falls des Wassers die Russen den breitesten Strom Europas, wo und wann sie wollten, überschritten. In den neuern Kriegen, mit unsern leichttransportablen Pontons, mit der Superiorität der Artillerie, die man sich an dem Punkte, den man gewählt hat, geben kann, bieten Flüsse und Ströme nur ein leicht zu übersteigendes Hinderniß dar.

Den öffentlichen, ohne Zweifel etwas übertriebenen Gerüchten zufolge, rücken die Russen mit einer Armee von 180,000 Mann vor. Sonst haben sie nie mehr als 40,000 Mann über die Donau gesetzt. Es wird ihnen daher leicht seyn, die zwölf oder dreizehn schlechten Festungen, die den Fluß bekränzen, zu nehmen oder zu blokiren. Ohne sich aufzuhalten, werden sie in die Defileen des Balkans rücken, die nicht in Vergleich zu stellen sind mit den von unsern Hochgebirgen der Alpen und Pyrenäen gebildeten, sondern die man, Valentini zufolge, nur mit denen der Vogesen oder der niedrigen Höhen des Schwarzwaldes vergleichen kann. [555] Man begreift, daß England gegen einen Feind, der es auf so vielen Punkten bedroht, Alliirte zu werben sucht. Oesterreich gibt ihm, wie wir gezeigt haben, keine große Sicherheit für die Zukunft. Preußen kann es auch vortheilhaft finden, seine unsichere Stellung zu ändern, und es müde seyn, sich lang und schmal auszustrecken, gleich einem Bande, das vom Niemen bis zu den Grenzen Frankreichs flattert. Der Rest von Sachsen (?), einige Abtretungen in Polen, selbst die Einverleitung Hannovers, das schon früher ein Gegenstand seiner Wünsche war, können es vermögen, die Entwürfe einer Macht zu begünstigen, an die es bereits durch die Erinnerungen naher Vergangenheit und durch Familienbande geknüpft ist. Es bleibt also nur Frankreich übrig. Welches Interesse aber hätte Frankreich, England in diesem Kampfe zu unterstützen, wenn er zum Ausbruch kommen sollte? Was würde man ihm als Entschädigung der Kriegskosten anbieten? Wird England einwilligen, daß die uns von Preußen abgenommenen Provinzen aufs Neue mit uns vereinigt werden? Wird es uns Candia, einige Colonial-Niederlassungen auf den Küsten Afrikas anbieten? Wird es uns Isle de France und unsere ehemaligen Besitzungen auf dem Festlande von Ostindien zurückgeben? Wird es zulassen, daß Spanien, um sich seiner Schulden zu entledigen, uns Porto-Rico, Cuba oder die Philippinen abtrete? Nein, es wird uns Alles verweigern. Wir werden uns für die Ehre schlagen, ihm nützlich zu seyn, und wir werden aus dem Kampfe treten, ohne ein anderes Resultat, als daß wir unsere Todten auf dem Schlachtfelde lassen, und unsere Wunden nach Hause tragen.

Vielleicht wird man uns entgegen halten, wir sehen nur Eine Seite der Frage: Europa sey nicht weniger bedroht als England, und nach diesem Kriege würde Rußland ein so übermächtiger Koloß werden, daß Nichts mehr ihm zu widerstehen vermöchte. Untersuchen wir diese Frage; sehen wir, ob nach Vertreibung der Türken Rußland stärker, furchtbarer seyn wird, als es diesen Augenblick ist. Entweder würde es, eine Linie von Widdin bis an den Golf von Salonichi ziehend, seinen ungeheuern Staaten diese Eroberungen einverleiben, oder es würde ein unabhängiges Königreich aus denselben machen. Im erstern Falle wären die Ausdehnung des Gebiets, das Wiederaufbauen des in Trümmer Zerfallenen, die Unterhaltung der Garnisonen, so wie des Kriegs in Anatolien und auf den Küsten Klein-Asiens in der That ein Grund der Schwächung für Rußland, und ein Grund der Ruhe für Europa. Alsdann könnte auch die Hauptstadt, deren Lage einen so großen Einfluß auf die Schicksale eines Staates hat, nicht mehr in St. Petersburg bleiben, sondern müßte nach Moskau verlegt werden, und so würde man freier athmen in Stockholm, in Berlin und Wien.

Wenn aber, was wahrscheinlicher ist, weil es mehr in seinem Interesse liegt, Rußland an den Ufern der Donau stehen bleibt, und ein unabhängiges Königreich gründet, während es sich begnügt, den ganzen Umfang des schwarzen Meeres einzunehmen, und sich eine freie Durchfahrt durch den Bosporos und die Dardanellen zu sichern, so würde dieser neue Staat eine getrennte Existenz, bestimmte, eigenthümliche Interessen erhalten, und mit ein Gewicht legen in die von den Diplomaten äquilibrirte Wagschale Europas; doch würde es lange einen mächtigen Protector brauchen, und würde für seine Alliirten mehr eine Last als ein Hebel der Thätigkeit und der Kraft seyn. Wenig liegt daran, ob ein russischer, französischer oder griechischer Prinz auf den Thron gesetzt werde. Die Bande der Verwandtschaft fesseln die Souveräne nie für lange Zeit. Philipp V erklärte dem Regenten den Krieg; in Neapel, in Madrid hört man mehr auf Englands als auf Frankreichs Stimme.

Welche Stellung nun hat Frankreich in diesem bedeutungsschweren Momente einzunehmen? Es muß eine selbstständige Politik haben; es darf sich nicht feig und träg am Schlepptau nachziehen lassen von einer Macht, deren Bahn zu folgen für uns kein Interesse hat; es muß geradezu erklären, daß es beim Ausbruch des Kriegs im Orient neutral bleibe, nicht in jener Art der Neutralität, [556] die nur ein verstecktes Zugeständniß der Schwäche ist, eine Unmacht zu handeln, eine furchtsame Resignation auf eine Stellung, die den Sieg beherrschen würde, sondern in jener bewaffneten Neutralität, welche die Stärke in der Ruhe ist, die dem Unterdrückten eine Hülfe verspricht, übertriebene Ansprüche in Schranken hält, den Ereignissen gebietet, und die einer Nation geziemt, die vor kurzem noch allgefürchtet war und in ihrem Schooß noch dieselben Elemente der Macht und des Ruhmes trägt. Zu diesem Zweck hat Frankreich eine Armee nöthig, die im Einklang steht mit seinen Institutionen und der von ihm erreichten Stufe der Civilisation; eine Armee die nur den Fremden, nie seinen Freiheiten droht; die, gestützt auf eine imposante, wahrhaft nationale Reserve, ihm ein sicheres Mittel bietet, Erfolge zu benützen, und die Bürgschaft, nicht von dem ersten Unfalle überwältigt zu werden.

Ich habe mich nicht über die griechische Frage ausgedehnt, weil diese Frage den Cabineten gegenüber eigentlich noch gar nicht existirt, wenigstens nicht in England, das durch den Vertrag vom 6 Juli nichts suchte, als den Marsch der Russen aufzuhalten. Würde sonst das Cabinet von St. James, gleich den Krämern der City, den Ruhm von Navarin von sich gewiesen haben? Würden sonst die neun oder zehn theuer bezahlten Dampfschiffe in der Themse verfaulen? Wozu nützt aber doch seine Intervention? Daß eine einzige der großen Mächte es gut meint, daß sie Ibrahim den Befehl eröffnet, Griechenland zu verlassen, und daß so der neue Attila, jeder Hoffnung auf Hülfe zum Unterhalt seiner Barbarenhorden beraubt, diese heilige Erde verläßt, die er zur Wüste und zum Todesacker umwandelte. Sollten sich die Türken widersetzen, so ist die Durchfahrt durch die Dardanellen 1828 nicht schwerer zu erzwingen als 1807, und Frankreich hat erprobt, daß es seine Dukworths hat.
  1. Le spectateur militaire. Avril 1828.
  2. In dem gleichfalls aus dem Spectateur militaire entlehnten Artikel in Num. 115 und den folgenden Blättern des Auslandes
  3. Sie bilden keineswegs ein Viertel der Einwohner. Major Ciriaky, der 1824 schrieb, schätzt sie auf 3/14. Dieser schwache Theil ist militärisch postirt: die einen an der Donau gelagert, um den Russen die Stirn zu bieten, die andern in Bosnien vereinigt, um die Avantgarde gegen den Westen Europas zu bilden, während die Reserve, in Constantinopel zusammengezogen, den Brückenkopf Asiens deckt.
[645]

Ueber die Angelegenheiten des Orients,

von General Pelet [1]
Ein Supplement zu dem Lamarque’schen Aufsatze über denselben Gegenstand [2]


Das Interesse meines Vaterlandes bei dem bevorstehenden Krieg und die Nothwendigkeit einer Kriegsmacht nach dem im übrigen Europa herrschenden militärischen Maßstabe, war die Grundidee meines ersten Aufsatzes. Mit Nachdruck erklärte ich mich für ein System der bewaffneten Neutralität als für das geeignetste Mittel, Frankreich den Rang wieder zu geben, der ihm gebührt. Von diesem Gesichtspunkte aus war meine Aufgabe einerseits die russische Frage, die ich deswegen von der griechischen trennte, andererseits die auswärtige Politik überhaupt, die ich mit der Delicatesse behandelte, auf welche jene vornehme Geheimnißvolle Anspruch macht. Wenn ich meine Besorgnisse über das Uebergewicht Rußlands zu erkennen gegeben und mich getäuscht habe, so theile ich diesen Irrthum mit den besten Ministern, die Frankreich hatte, mit dem preußischen Friedrich, mit Joseph II, mit Gustav III, mit unsern ersten Publicisten [3], und – soll ich es sagen? – mit Napoleon: denn diese Politik war die seinige.

Seit jener Aufsatz bekannt gemacht ist, sind drei Monate verflossen, und die Ereignisse haben ihn nicht widerlegt. Vielmehr hat das Ministerium in Betracht „der durch die türkischen Angelegenheiten in den Beziehungen einiger Mächte herbeigeführten Verwickelungen so wie der dadurch eingetretenen besondern Gestaltungen der äußern Politik“ bei den Kammern die erforderlichen Geldmittel nachgesucht, „um unsre Streitkräfte auf einen angemessenen Fuß zu bringen.“ Ein öffentliches Actenstücke sagt: „Alte Nationen sollen ferner nicht mehr die Beute gieriger Nachbarn werden.“ Eine gewagte Expedition ist weislich aufgeschoben, die letzten Conscriptionen sind ganz einberufen worden. Ferner, darf man einigen Zeitungsgerüchten Glauben beimessen, so wären die englischen Truppen aus Portugal bereits auf den ionischen Inseln angekommen, vier große Mächte hätten ihre Neutralität erklärt, Preußen und Oesterreich näherten sich Frankreich und England, und es stünde zu erwarten, daß die alte Politik der Cabinete nicht ganz vergessen wäre. Sollte nicht die frei sich aussprechende Willensmeinung Europa’s hinreichend seyn, den russischen Entwürfen Einhalt zu thun und dem Ausbruch eines allgemeinen Kriegs vorzubeugen? Da die Interessen Rußlands und Griechenlands getrennt sind, so könnten die neutralen Staaten den beiden kriegführenden Mächten die Bedingung auferlegen, der einen, die Donau nicht zu überschreiten (?), und der andern, Griechenland zu räumen. Seit einem Monat hat man nun wohl zwar auch die Nachricht von einem zwischen dem Czar und Persien abgeschlossenen Frieden, und der im Februar unterzeichnete Tractat scheint eine Klausel zu Gunsten des Prinzen Abbas-Mirza zu enthalten; allein der Schah dürfte in einem Krieg, welcher die Sache des Islams so genau berührt, doch vielleicht seinen endlichen Entschluß anders fassen.

Jene Neutralität des Augenblicks wird indessen, wie ich glaube, den künftigen Gang jener Regierungen zum voraus nicht bestimmen. Preußen könnte ein anderes System als das des großen Königs und seines Nachfolgers annehmen; es könnte sich über seine wahren politischen Verhältnisse zu Rußland und dem Continent täuschen: man müßte deshalb auf die Bewegungen seiner Truppen ein wachsames Auge richten, ohne sich auf bloße diplomatische Demonstrationen zu sehr zu verlassen. Aber – werden die übrigen Mächte Zeit haben, ihre Rüstungen zu vollenden?

Ein zweiter Aufsatz über denselben Gegenstand ist seit kurzem erschienen.[4] Er soll den erstern bekämpfen. Wozu dieser Angriff? Sind es verschiedene Gesinnungen oder Wünsche, von denen die beiden Schriftsteller ausgehen? Nein; sie weichen nur in einigen Puncten der auswärtigen Politik von einander ab. Der zweite stellt in nicht stärkern, aber in elegantern Farben ein imposantes Gemälde von England voran, wie es die Welt beherrscht, und in dem Kampf, der sich entspinnt, im Grunde allein betheiligt ist. Dagegen zeigt er Rußland in einem minder günstigen[5] Lichte, den Blick mehr gegen den Orient, gegen Indien gerichtet, nicht geeignet, Europa Besorgnisse einzuflößen. Nach ihm wären „die Russen die natürlichen Verbündeten, die wohlwollenden Beschützer Frankreichs; [646] wir verdanken ihnen die Erhaltung unsers Gebiets und sie werden uns nicht hindern, die alten Grenzen Galliens wieder zu gewinnen. Die Ottomanen aber sind Barbaren, deren Erhaltung nur eine veraltete falsche Politik im Interesse Frankreichs finden konnte. Es ist Zeit, daß man sie über den Bosporos zurückwirft, daß man die Völker, die unter ihrem Joche schmachten, befreit, aber nicht die Nachkömmlinge der Griechen allein, sondern auch die Thrazier, die Armenier, die Juden.“

Ich würde geschwiegen haben, wenn die Frage nicht zu wichtig wäre, wenn sich in das glänzende Gemälde nicht einige ziemlich bedeutende Verstöße gegen dessen Wahrheit eingeschlichen hätten. Es scheint, den General habe der Reichthum seiner Darstellungskunst verführt, so daß er vor seinen Lesern blos seinen Witz spielen lassen wollte. Er versetzt sie bald in den Osten, bald in den Westen; er hält sie schwebend zwischen Furcht und Hoffnung. Bald soll eine Schlacht, „deren Entscheidung nicht zweifelhaft seyn kann,“ Konstantinopel und das Reich der Osmanen niederwerfen, zwei Schlachten sollen die Eroberung von Wien und Oestreich vollenden; bald leisten die Türken mit Hülfe einiger englischen Kriegsschiffe und Soldaten einen unbesiegbaren Widerstand. Indem der General so mit Hypothesen spielt, führt er etwas aus einander laufende Operationslinien über Wien, Sophia und Kleinasien nach Byzanz. Er schreibt Rußland Absichten auf Bombay, Calcutta und Indien zu. Umsonst sucht man in diesem merkwürdigen Abschnitte seines Aufsatzes eine Widerlegung desjenigen, den er bekämpft. Er schließt endlich, wie sein Vorgänger, mit dem Wunsch, Frankreich das System einer bewaffneten Neutralität annehmen zu sehen, wiewohl sich nicht verkennen läßt, daß er sich von einer Allianz mit Rußland beträchtlichere Vortheile verspricht. [649] Um eine vollständige Ansicht von der brittischen und russischen Macht zu erhalten, stellen wir beide Staaten neben einander. England, dessen Hauptstärke im Handel und Gewerbfleiß besteht, beherrscht die Welt durch seine Reichthümer, seine Marine und seine Politik; aber überall, wo es Mann gegen Mann gilt, ist es schwach, und um so schwächer, je mehr es sich ausgedehnt hat. Rußland ist eine große Landmacht, der Geist seiner Völker kriegerisch, seine Verfassung militärisch; seine weiten Landschaften bedecken sich nach und nach mit unermeßlichen Kasernen, Militärkolonien [6] genannt, wo das heilige Recht des Menschen, die Freiheit des häuslichen Heerds, durch die gewaltsame Einführung des Kriegers verletzt wird; denn der russische Bauer ist sein ganzes Leben Soldat oder muß für den Soldaten arbeiten. England gab dem Continent das erste Beispiel einer Beschränkung der Militärmacht, indem es sein Heer auf den Friedensfuß setzte. England, das lange Zeit Europa in seinem Sold hatte, wäre gegenwärtig nicht im Stande[7] gegen Preußen allein Hannover zu vertheidigen. Und Rußland? Es hat seit dem Jahr 1815 nicht aufgehört, seine Heere zu vermehren, es kann gegen alle Mächte kämpfen, und, wenn sie nicht gemeinschaftliche Sache machen, alle besiegen. Wir sahen in dem letzten Kriege Großbritannien nahe daran, zu unterliegen; eine starke Erschütterung, schon allein die Fortschritte des Gewerbfleißes in beiden Welten, ein Fehljahr oder eine Bankverlegenheit können es über den Haufen werfen; weit entfernt, in seiner Bevölkerung von Proletariern eine unerschöpfliche Quelle der Kraft zu besitzen, seufzt es unter der erdrückenden Last der Armentaxe [8]), die noch zu so vielen andern Lasten hinzu kommt, und den Staat immerwährend mit völligem Untergang bedroht. Das alte Reich der Scythen ist durch sein Eroberungssystem und durch die Entwicklung seiner groben Civilisation, die keinen andern Zweck hat, als das Werkszeug der Herrschaft zu vervollkommnen fort und fort im Zunehmen begriffen. Gegen die Invasion der Czare hat endlich der Continent keine Waffen, während eine einzige durchgeführte Polizeimaßregel, die Schließung [650] aller Häfen, und eine allgemeine Ausrüstung von Korsaren, die Macht Englands zerstören könnte.

Um gerecht zu seyn, müßte man noch hinzufügen, daß zu London, an der Seite einer Machiavellistischen Regierung, im Brennpunkt des englischen Patriotismus, der freilich nur zu oft nichts als ein kräftiger Nationalegoismus ist, eine Tribüne sich erhebt, wo das Recht und die Freiheit der Völker ein Organ findet, wo über die Handlungen fremder Regierungen und des großbritannischen Ministeriums selbst eine strenge Kritik ergeht, wo letzteres schon mehr als einmal in demüthigenden Verhören Rede zu stehen oder gegen gerichtliche Anklagen sich zu vertheidigen hatte. Das Joch des römischen Volks drückte schwer, aber der Bauer Illyriens konnte doch seine Beschwerden im Senat laut werden lassen. Wo soll man aber damit in Rußland hin? Um es gerade zu sagen, es ist in Rußland derselbe Fall wie in Konstantinopel, daß sich eben Alles im Innern des Palastes macht, daß, so lange der Herr lebt, er der Absolute, der Allmächtige ist, dessen Fermane oder dessen Ukasen mit der Schnelligkeit und der Strenge eines Militärbefehls vollzogen werden. Zwar die Revolutionen in diesem Innern sind häufig und schrecklich; unbemerkt jedoch geht Alles vor sich unter dem dichten Schleier, in die die Autorität des Augenblicks sich hüllt. Wie manche Parallele ließe sich zwischen diesen beiden Reichen ziehen, welche eben sowohl Asien als Europa angehören! Was wären die Russen, wenn sie nicht seit hundert Jahren von fremden Souveräns beherrscht würden? Was könnten die stolzen Ottomanen seyn, wenn es in des Sultans Macht stände, die seit drei Jahrzehnten begonnene politisch-religiöse Wiedergeburt zu vollenden?

Vorweg müssen wir einen nur zu allgemein verbreiteten Irrthum widerlegen, wenn man von allen Seiten von Rußlands „unermeßlicher Ausdehnung, dünngesäter Bevölkerung, mäßigen Einkünften“ sprechen hört. Unsere Gegenbehauptungen sollen sich durch Thatsachen rechtfertigen. Die Bevölkerung der neun innern Gouvernemens, – Moskowa, Riasan, Tula, Kaluga, Orel, Tambow, Kursk, Poltawa, Kiew, Podolien – welche das Land von Moskau bis an den Dniester und Pruth in sich begreifen, beläuft sich auf 12,000,000: Zahl und Vertheilung der Einwohner ist wie in Preußen, die Einkünfte sind dieselben, aber Rußland hat das voraus, daß es fruchtbarer ist. Indessen gibt es mehrere Gouvernemens, die, was den Reichthum des Bodens, den Gewinn der Industrie und des Handels betrifft, noch besser stehen; es gibt ganze Provinzen, die wenigstens Schottland und Spanien, und namentlich die europäische Türkei an Bevölkerung und Fruchtbarkeit übertreffen. Das Uferland des schwarzen Meeres zeichnet sich durch seinen Ueberfluß an Getreide aus. Endlich liegen die entvölkertsten und unangebautesten Theile Rußlands, die von 16 bis 175 Einwohnern auf die Quadratmeile zählen, gegen das baltische, das weiße, das kaspische, das asowsche Meer und gegen den Ural. Das mit großen Wäldern bedeckte Lithauen, mit 495 bis 870 Einwohnern auf die Quadratmeile, gehört zu den am Wenigsten fruchtbaren und reichen Ländern; und doch haben es die Czare nicht verschmäht und sich dessen bemächtigt, um in die Mitte Europa’s vorzudringen.

Ich will mich aber auf die einzige Thatsache berufen, die sich nicht wegvernünfteln läßt: wer will leugnen, daß Rußland 800.000 Mann unter den Waffen hält? daß es auf seiner südwestlichen Grenze in erster Linie 180,000, in zweiter Linie 100,000 Mann aufgestellt hat, ungerechnet mehrere Corps, die auf den andern Grenzen vertheilt sind? daß es seine schlagfertigen Reserven, seine bleibende Soldatenpflanzschule in den Militärkolonien, seine Kosacken, seine unregelmäßige Reiterei besitzt? Die Schwierigkeit, große Truppenmassen zu vereinigen, zeigt sich nur bei der ersten Vereinigung, weil bei Heeren, die einmal ihre Standquartiere haben, und bei Soldaten, die der Staat an einen fünf und zwanzigjährigen Dienst kettet, nur selten Ergänzungen nöthig und die nöthigen nicht schwierig sind. Da die südlichen Provinzen Getreide vollauf erzeugen, so können die Lebensmittel nie fehlen; die Zufuhr derselben aber wird durch das Medium der innern Schifffahrt ungemein erleichtert. Die Cabinete können sich von der Richtigkeit dieser Angaben selbst überzeugen. Was ich anführe, habe ich aus authentischen Quellen geschöpft. Uebrigens wird der Marsch und das Vorrücken der Russen bald alle Streitfragen überflüssig machen.

Mag Europa eine Partei ergreifen, welche es will; – der Franzose hat nicht vergessen, und keiner weniger als ich, wie sehr England unser Feind war und wie theuer uns Großbritanniens Nebenbuhlerschaft zu stehen kam. Doch lassen wir die Vergangenheit und beschäftigen uns mit dem, was unserem Vaterland jetzt Noth thut. Hätte Frankreich blos von Seiten Englands etwas zu fürchten, so müßten wir Schiffe bauen und Flotten ausrüsten, statt Schlachthaufen zu bilden; alle unsre Aufmerksamkeit müßte sich gegen das Meer wenden. Wer sich nun aber auch die übertriebensten Dinge von der brittischen Seemacht einbildet, wird denn doch nicht in Abrede ziehen, daß als Seemacht allein uns England ungefährlich bleibt, so lange seine Landmacht wegfällt, die indessen Frankreich auf dem Feld der Ehre achten gelernt hat. Was sich also am Meisten gegen das in dem zweiten Aufsatze geltend gemachte System anführen läßt, ist, daß während dasselbe uns alle Gefahren von der See her verkündigt, es uns gegen den Osten hin in eine Sorglosigkeit versetzt, die verderblich werden könnte.

Ich will mich so deutlich ausdrücken, als gewisse Schicklichkeitsrücksichten es erlauben. Die Schlacht von Navarin ist ein Ereigniß, das sich in den Augen der Völker durch das Unglück Griechenlands und selbst durch den Ruhm der Sieger gerechtfertigt hat. Aber schwer möchte es halten, jetzt auch den Angriff Rußlands zu rechtfertigen. Verdankte nicht diese Macht im J. 1812 ihre Rettung dem Friedensvertrag mit der Türkei? Hat sie nicht auf allen Congressen die Legitimität des Sultans wie aller andern Souveräne feierlich ausgesprochen? Weiß man nicht, daß die Pforte ihre Bereitwilligkeit zu unterhandeln erklärt hat und noch jeden Augenblick erklärt? Cannings Hand – man muß es gestehen – wäre allein stark genug gewesen, die europäische Politik auf der Grundlage des [651] Tractats vom 6 Juli fest zu halten. Er starb, und die anden Cabinete, die nicht zum Kampf vorbereitet waren, ließen sich von Rußland in ein falsches System verwickeln. Wahrlich, einer der stärksten Vorwürfe, welchen man ihnen machen kann, ein Vorwurf aber, der um so gegründeter ist, als er allein die Möglichkeit erklärt, wie mehrere Ereignisse eine gewisse Wendung nehmen konnten. Wem diese Ansicht befremdend erscheint, den frage ich, ob die Parteilichkeit der Schriftsteller zu Gunsten der Moskowiten weniger befremdend sey? Denn die Zeit ist vorbei, wo Philosophen und Höflinge zu sagen pflegten, daß die Sonne im Norden aufgehe und vom Throne der Catharina herab die Welt erleuchte.

Wenn Frankreich zwischen zwei großen Mächten zu wählen hätte, sollte es Rußland oder England den Vorzug geben? Welche Vortheile, welche Gefahren böte in einem von beiden Fällen die Allianz dar? Fragen wir die Geschichte, so sagt sie uns, daß wir nicht Ursache haben, einem dieser Cabinete mehr zu trauen als dem andern. Die Engländer waren immer unsere Nebenbuhler, fast sogar immer unsre Feinde. Als Seemacht werden sie nie einwilligen, daß Frankreich die Mündungen der Schelde, zum Wenigsten die Inseln, die davor liegen oder die andern Häfen, die Englands Ostküsten bedrohen, in Besitz nimmt. Es ist indessen wahrscheinlich, daß man sich über sonstige Interessen mit ihnen leicht verständigen würde. Rußland hingegen war nie ein zuverlässiger Alliirter irgend einer Macht. Zu Frankreich steht es in zu entfernter Beziehung, als daß beide einander als Freund oder als Feind unmittelbar nützen oder schaden könnten. Die Czare werden höchstens in Ermanglung anderer Continentalmächte unsere Allianz suchen.

Ich muß es wiederholen: Frankreich verdankt die Erhaltung dessen, was ihm übrig bleb, blos dem Muthe seiner Söhne, der Achtung, welche unsre Siege unsern Feinden eingeflößt hatten. Alexander herrschte auf den Congressen zu Châtillon und Wien; er ist es, der preußisch und österreichisch Polen (?) an sich riß und die Entschädigungen auf uns anwies; seine Nachfolger könnten eines Tags versucht seyn, diesem Beispiele zu folgen. Warum hätte im Januar 1815 Ludwig XVIII einen Tractat mit England und Oesterreich gegen Rußland abgeschlossen, wenn letztere Macht die Beschützerin Frankreichs im Unglück gewesen wäre? Und dermalen spricht man von Ansinnen, die der Czar an seinen Schwiegervater und an seinen Schwager mache. Wenn man nun auch den Ersatz zeigen kann, den er Preußen anbieten wird, woher will er denselben für das Königreich der Niederlande nehmen?

Weg mit kleinmüthigen Entschlüssen! Nein, der Ruhm des Vaterlands, der durch mein Blut und durch das Blut so vieler Tapfern versiegelt ist, soll durch mich nicht entweiht werden! Als ob ich meinte, Frankreich solle sich von einer andern Macht ans Schlepptau nehmen lassen! Frankreichs Schicksal hängt nicht von England, nicht von Rußland ab, sondern von ihm selbst. Die Stärke hat immer ihre Allirten; die Schwäche hat nur Beschützer, die ihr auf hohe Zinsen borgen. Wenn zweimal hundert tausend Bajonette unsre Diplomatie unterstützen werden, so fürchten wir die Gefahren, die sich jetzt in der Ferne zeigen, nicht mehr. Wir wählen dann den günstigen Augenblick, in die Schranken zu treten, und zu nehmen, was wir verloren haben, ohne daß wir unsre Hülfe an Europa verkaufen und durch das Losungswort; „Laßt uns theilen“ unsre Rechtlichkeit beflecken. Europa hat noch nicht vergessen, daß die Degen von Zürich, von Austerlitz, von Wagram, von der Moskowa, von Bautzen .... schwer in der Wage liegen.

Sollte sich Europa den Eroberungen der Russen, weil es sie bisher geduldet hat, nie widersetzen? Sollte – weil in Folge von Intriguen, die noch nicht hinlänglich bekannt sind, der Feldzug von 1812 gescheitert ist – Europa, das damals in Meinungen und Interessen getheilt war, auch jetzt nicht jene Barriere wieder aufrichten, die Frankreich stets hätte vertheidigen sollen? So bliebe also dem Continent Nichts übrig, als die demüthigende Wahl zwischend dem Joch der civilisirtesten Nation oder dem Joch der Leibeignen? Keineswegs; es fehlt nicht an Soldaten, die sich Jedem, der den Unterdrücker spielen wollte, widersetzen könnten. Oesterreichs Heere verdienen, daß man mit Achtung von ihnen spricht; das Lob, welches Montecuculi den ottomanischen Truppen ertheilt, darf man auch nicht ganz vergessen; endlich haben die Russen in den letzten Kriegen nicht immer die Unbesiegbarkeit gezeigt, die man ihnen sonst beimaß.

Die Angelegenheiten des Orients sind aber nicht blos eine Frage des europäischen Gleichgewichts. Heutzutage darf man die Grundsätze der Politik nicht mehr aus dem westphälischen Frieden schöpfen: es handelt sich um die großen Interessen der Humanität und der Civilisation, um die Unabhängigkeit des Continents, um die Vertheidigung der constitutionellen Freiheit gegen den Absolutismus; es handelt sich endlich darum, der Permanenz jener beträchtlichen stehenden Heere ein Ziel zu setzen, welche stets die Ruhe der Völker bedrohen und ihre Finanzen erschöpfen. Die hohe Civilisation zwar, die eine Vertretung aller Rechte und aller Interessen fordert, geht so schnell nicht vorwärts, aber sie geht doch. Nach und nach, wenn auch langsam, unterwerfen sich die europäischen Monarchen der Gesetzgebung des menschlichen Geistes; die, welche die französische Revolution am Heftigsten bekämpft haben, konnten dem Einfluß ihrer Principien nicht widerstehen. Auch für Rußland wird dieser Tag kommen. Aber wenn dem asiatischen Zepter der Autokraten der Continent sich beugen müßte, so würde der endliche Sieg dieser hohen Civilisation auf eine entfernte Zukunft hinausgeschoben werden. [658] Weit entfernt, dem Gedanken Raum zu geben, daß es mit dem Fall Konstantinopels um die Unabhängigkeit der Welt schon geschehen sey, haben wir blos behauptet, daß alsdann die Entwicklung der russischen Eroberungsplane gegen Europa beginnt. Wir haben uns eben so wenig von England eingebildet, daß es mit zehn Battaillonen, fünfzehnhundert Kanonieren und zwölf Linienschiffen die Unternehmungen der Russen vereiteln werde; aber es würde in allweg ihre Fortschritte aufhalten, und die Kontinentalmächte würden Zeit gewinnen, ihre Intervention geltend zu machen. Glaubt man damit Europa zufrieden zu stellen, daß man ihm von der Leichtigkeit vorredet, mit welcher die Russen Konstantinopel und Wien wegnehmen werden? Man hat uns nicht gesagt, was sie thun werden, wenn sie erst Herren von Oesterreich sind! Vielleicht, daß es alsdann zu spät wäre, an Vertheidigungsmaßregeln zu denken.

Ein schöner Traum, mit dem man sich schmeichelt, wenn man glaubt, Rußland beabsichtige auf dem Gebiet der europäischen Türkei die Gründung eines unabhängigen griechischen Staats! Wo hätte bis jetzt das Cabinet von St. Petersburg eine Uneigennützigkeit gezeigt, welche zu diesem Uebermaß von Zutrauen berechtigte? Hat es, ungeachtet seiner Verheißungen, das Verbrechen des achtzehnten Jahrhunderts gegen Polen – ein Land, das eben so sehr unsere Theilnahme verdient, als Griechenland – wieder gut gemacht? Zu oft hat man uns schon das Beispiel Philipps V angeführt, der Frankreich bekriegte. Ohne Zweifel würde der neue Herrscher von Byzanz in der Politik nicht erkenntlicher seyn. Dieß weiß Rußland so gut als wir. Es weiß wohl, wenn es sich der Propontis nicht für sich bemächtigt, daß es umsonst eine Regierung sucht, die geneigter wäre als die türkische, ihm die Freiheit der Durchfahrt und die Vortheile des Handels zu erhalten.

Die Wiederherstellung eines großen europäischen Staats im Norden des Bosporos und des Hellesponts ist eine Frage, die in ernstliche Betrachtung gezogen zu werden verdient, aber ihre Lösung nicht von poetischer Sentimentalität, sondern von tiefer praktischer Kenntniß des Landes und seiner Völker, ihrer Gegenwart und ihrer Vergangenheit erwartet. Wer wollte die Ueberreste des oströmischen Reichs ausgraben, um ihnen ein ephemeres Leben [659] einzuhauchen? Zum Mindesten also müßte man untersuchen, wo sich die Civilisationselemente am Ehesten finden, bei den drei Millionen Ottomanen oder bei den vier Millionen Rayas, die seit sechs Jahrhunderten das alte Thrazien inne haben?

Die Frage wird noch verwickelter durch die Lage von Konstantinopel. Es wäre zu wünschen, daß diese zweite Hauptstadt der alten Welt von Neuem der commerzielle Mittelpunkt des Morgenlandes würde, und seinen Hafen allen Nationen öffnete. Sollte die Verwirklichung einer im Sinne der Menschheit so schönen Idee möglich seyn, so wäre es unklug, ihre Ausführung in die Hand einer einzigen Macht zu legen. Alle Mächte müßten mitwirken, weil alle beinahe gleich betheiligt sind. Die Bestimmung der Donau ist, eine Haupthandelsstraße des Kontinents zu seyn. Oesterreich und selbst Bayern ergießen durch sie ihre Gewässer in das schwarze Meer, dessen Schifffahrt und dessen Küsten lange Zeit dem Handel Frankreichs und Italiens angehört haben.

Man will uns glauben machen, daß die Einverleibung der Türkei ein Grund der Schwäche für Rußland, wie der Ruhe für Europa seyn würde. Man höre den Grund! – Weil dieses kolossale Reich eine weitere Küstenstrecke von 60 geographischen Meilen zu vertheidigen, weil es den Krieg in Anatolien fortzusetzen hätte. – Müßte es aber als Beschützer des neu zu errichtenden Staats nicht ebenfalls unter den Waffen bleiben? Uebrigens einmal im Besitz des Hellesponts hätte sicherlich Rußland wenig mehr zu fürchen, weder von Preußen, das sein Verbündeter seyn soll, noch von Oesterreich, das ja so leicht über den Haufen zu werfen ist, noch von den englischen Flotten, die keine Dardanellen mehr durchsegeln würden. Wird alsdann aber Moskau, die eigentliche Hauptstadt des russischen Landes und seiner Macht, weniger schwer auf dem Kontinent liegen, als die von den Elementen bedrohte provisorische Hauptstadt St. Petersburg, die eines Tags nichts seyn wird als das Zeughaus des baltischen Meers?

Mit der Berufung auf die früheren Kriege ist Nichts bewiesen. Die Türken sind von keiner europäischen Macht je wirklich unterstützt worden. Im J. 1769 hatten sie mit ihren Bundesgenossen, den Polen, bei Chotzim über den Dniester gesetzt und drangen in Podolien vor. Choiseul, der damals Polen und die Türkei gegen Rußland in Schutz nahm, schickte Dumouriez zu den Verbündeten, und der französische Offizier träumte schon von einem Feldzuge gegen Moskau. Allein bald darauf befand sich Aiguillon an der Spitze des Cabinets von Versailles, während Oesterreich und Preußen durch die Theilung Polens geködert wurden, welche damals schon im Werk war. In den Jahren 1806 und 1810 erlaubten die Kriege, welche die europäischen Mächte unter sich führten, ihnen nicht, sich in die Angelegenheiten der Türkei zu mischen; auch waren die Ottomanen damals nicht in ihrer Existenz bedroht. Sollten nun im jetzigen Augenblicke die Türken so leicht zu besiegen seyn? Wenn die mechanischen Evolutionen der Russen auch besser geleitet sind, so werden sie davon in den Pässen Bulgariens und Rumeliens wenig Vortheil haben, zumal da es den Türken diesmal an Rath und Hülfe nicht fehlen dürfte.

Soll man glauben, daß die Herrscher von Tiflis und dem caspischen Meer den Weg nach Konstantinopel und selbst nach Wien blos deswegen einschlagen werden, um Indien zu erobern? Soll man es gerade jetzt glauben, da sie mit Persien Frieden geschlossen haben? Nein, ihre Basis stützt sich auf das schwarze Meer.[9] Vorausgesetzt, daß sie wirklich Absichten auf Hindustan hätten, würden sie nicht in diesem Fall die bestehende, ihnen so nützliche, Verbindung mit der Pforte enger geschlossen und dagegen ihre Anstrengungen wider die Perser wenigstens bis nach Asterabad, dem südlichen Hafen des caspischen Meers, dem eigentlichen Stapelplatz zwischen diesem Meere und dem Indus, fortgesetzt haben? Aber was wäre zuletzt für sie gewonnen, wenn sie auf diesem neuen mehrere tausend Meilen von Großbritannien entfernten Schauplatze nun auch wirklich auf die Engländer träfen, während diese, durch die Ausrüstung einiger Linienschiffe nach dem schwarzen Meer, dem Krieg eine ganz andere Gestalt geben könnten? Ueberhaupt, was kann Rußland an den eingebildeten[10] Reichthümern Indiens liegen, im Vergleich mit den Vortheilen der Propontis und des Sundes, deren Besitz ihm zur Entwicklung seiner innern Kraft unentbehrlich ist? Die Früchte einer so entfernten Eroberung zu ernten; [660] den Welthandel streitig zu machen, oder nur ihn zu benutzen, ist es noch lange nicht Seemacht genug.

Wenn jedoch der ausbrechende Vulkan, was wir nicht glauben, gegen den Orient, auf Asien seine unheilsprühende Lava schleudert, und in Beziehung auf uns blos von einer Handelsfrage dabei die Rede seyn kann, so laßt uns schnell alle Anstöße entfernen. Zu glücklich wäre Europa, den Kampf zwischen der Türkei, Rußland und England nach der fernen asiatischen Grenze verlegt zu sehen. Aber wenn alle Anzeigen, alle Beweise dafür sind, daß die moskowitische Streitmacht sich gegen den Süden des Kontinents richtet, so laßt uns sie aufhalten, so lang es noch Zeit ist.

Die Geographie, wie alles geschichtliche Wissen, ist in unsern Augen keineswegs die Hauptsache. Aber sie stellt uns auf der militärischen Wagschale der Mächte gewisse Verhältnisse dar, die der Compaß angeben kann, und deren Bedeutung der Verstand zu würdigen weiß. Als der Sieg uns auf seinen Flügeln von der Oder nach der Moskowa trug, da ging es durch ziemlich fruchtbare und bevölkerte Landschaften, nirgends sahen wir Einöden, unangebaute Steppen, eisbedeckte Meere. – Sollen wir nun noch darthun, daß die Grenzen wie die Hauptstädte eines Staates, Einfluß auf dessen Schicksal haben? – Man hätte in der That sehr Unrecht, wollte man jenem zwischen Oesterreich und Preußen tief einschneidenden Winkel des russischen Polen deswegen alle Bedeutung absprechen, weil sich noch keine imposante Festung darauf befindet: als ob nicht schon der Besitz dieses Landes allein Rußland in den Stand setzte, seine Heere, die sich von Kowno bis Dubno ausdehnen, auf geradem Weg und selbst ohne Wissen der benachbarten Mächte, auf einem Punkte daselbst zu concentriren; oder als ob Rußland nicht in kurzer Zeit die europäische Citadelle, die in unserem ersten Aufsatze angedeutet ist, wirklich bauen könnte.

Damit genug. Uebergehen wir einige Punkte, die noch einer Erörterung bedürften, um nicht zwischen zwei Männern, die von gleicher Vaterlandsliebe beseelt sind, einen Streit zu verlängern, der nie hätte begonnen werden sollen. Mag die Zukunft entscheiden.

Nachschrift.

Während Europa berathschlagt, handeln die Russen; man wird bald hören, daß sie ihren Hauptzweck erreicht haben. Ihre Mäßigung und Uneigennützigkeit versichernd fordern sie von denen, welche sie angreifen, Schadloshaltung, Gewährleistungen, ein künftig unantastbares Recht, den Bosporos zu beschiffen; sie erklären zu gleicher Zeit, daß keine Unterhandlung die militärischen Operationen aufhalten solle. So sehen wir also wieder einmal einen Gelegenheitskrieg. Kein Wort des Beifalls oder des Tadels. Ich sage blos; Europa kann die Folgen zu büßen haben.

Was wollen die Russen in diesem Krieg? Wollen sie die ganze europäische Türkei? Nein, sondern Konstantinopel nebst der Propontis und der westlichen Küste des schwarzen Meers! Diese Hauptstadt, eben so See- als Landstadt, vermag zumal nach den Verlusten der Navariner Schlacht nicht einem zu Wasser und zu Lande zugleich auf sie gerichteten Angriff zu widerstehen. Wenn die englische Flagge nicht im Bosporos weht, wenn die österreichischen Heere nicht marschiren, so werden die Russen nicht mit Führung eines regelmäßigen Kriegs ihre Zeit verlieren; sie können den rechten Flügel der türkischen Linie durchbrechen, und eine durch Landungen zu Burgas, Ainada und Midia unterstützte Heersäule auf Konstantinopel werfen. Diese Operation würde dadurch maskirt, daß die Heerhaufen des Centrum, die auf der Straße von Silistria gegen Adrianopel vorrückten, die türkische Hauptmacht beschäftigen, während der rechte Flügel sich bei Koblowa am Balkan aufstellte, wo die Straßen von Rustschuk und Orsowa zusammenlaufen, um Servien zu beobachten.

Bald wäre den englischen Schiffen der Eingang ins schwarze Meer versagt, an dessen südlichen Küsten die Russen herrschten. Gedrängt zu Wasser und zu Lande, zertrümmert durch das Feuer der Flotten und das Feuer des gelandeten Geschützes, mit völliger Verbrennung bedroht, könnte Konstantinopel vor Ende des Juni unterliegen. In dieser letzten Noth könnte die Ankunft der englischen Hülfe es nicht mehr retten.

Herren von Byzanz, werden die Russen fortfahren, ihre Mäßigung zu versichern; sie werden Waffenstillstände und Unterhandlungen vorschlagen. Sie werden einen Aufruf an die Rayas ergehen lassen, eine Regierung und einen Souverän zu wählen – unter dem Schutz ihrer Schlachthaufen. So haben sie Polen an sich gerissen und es lange Zeit besetzt gehalten, ehe sie es endlich theilten.

Indessen befestigen sie Constantinopel oder einige Theile der Stadt; sie lassen ein Korps von 20,000 Mann, eine Flotte nebst Brandern daselbst, um die Reste der Muselmänner im Zaum zu halten und ihnen den Beistand von der See abzuschneiden; in einem bis zwei Monaten ist die Stadt beinahe unangreifbar. Die große russische Armee aber nimmt eine Centralstellung in der Gegend von Adrianopel, theils gegen die ottomanischen Korps, die von Bosnien, Rumelien etc. anrücken, theils gegen die christlichen Mächte, die etwa versucht werden möchten, der Pforte zu Hülfe zu kommen.

Die auf Konstantinopel geworfene Heersäule ist nicht gegen die Grundsätze der Kriegskunst, denn das auf dem Bosporos gelassene Corps wäre in keinem Fall preisgegeben, weil seine Verbindungslinie und seine Zufuhr über das schwarze Meer gesichert blieben.

Dieß sind die Gefahren, auf die wir aufmerksam machen wollten. Nach dem Fall von Konstantinopel hätte Europa die Wahl, entweder von den Russen sich seinen Theil an der Beute zu erbitten, oder als erste Friedensbedingung die schnelle Räumung dieser Hauptstadt und des Landes bis an den Balkan zu fordern. Die Sachen stünden zwar schlimm, aber wären noch nicht verloren. Gallipoli war die erste Eroberung der Türken in Europa; über Gallipoli könnten sie Hülfe von der See und aus Asien empfangen.


  1. Le spectateur militaire
  2. ;Man vergl. Ausl. Num. 136 ff. und Num. 115 ff.
  3. Montesquieu, grandeur des Romains chap. 23; Rulhiére, Histoire de l’anarchie de Pologne; Ségur, Politique des cabinets, Tableau historique et Souvenirs; de Pradt, Paralléle entre la puissance anglaise et russe pag. 56–171. Bignon, les Cabinets et les Peuples etc.
  4. Man sehe die Mittheilung der Regierung vom 14 April und vom 13 Mai, den Bericht des Generals Sebastiani vom 29 April.
  5. siehe Berichtigung auf S. 660 an Stelle von ungünstig.
  6. Ueber die Militärkolonisation und die Macht Rußlands findet man schätzbare Nachrichten in dem historischen Versuch des Dr. Lyall, erschienen mit den Bemerkungen des gelehrten M. v. M. Nach dem englischen Doctor wird die ganze leibeigene Bevölkerung, die Kroneigenthum ist, nach und nach in die Regimenter eingereiht, wo sie nicht nur einer eisernen Kriegszucht und dem Militärgericht, das, in letzter Instanz erkennend, den Kolonisten zur Verbannung nach Sibirien, dem Straf-Maximum russischer Justiz, verurtheilen kann, sondern wo sie einer täglichen inquisitorischen Polizei unter den Korporalstöcken der Kolonialoffiziere unterliegt, wo nicht nur die Weiber und die Kinder unter denselben harten Gesetzen gehalten werden, sondern selbst die ältesten Männer den Soldatenrock anziehen müssen. Wenn Rußland seinen Plan verfolgt, so hat es mit der Zeit eine Million Soldaten, die beinahe so gut sind als die Linientruppen, und später eine militärische Bevölkerung von fünf Millionen. Ein Kolonialoffizier behauptete, in dreißig Jahren könne Rußland sechs Millionen geübter Soldaten in’s Feld rücken lassen.
    Dr. Lyall prophezeit als Folge des fortgesetzten Militär-Kolonisationsystems „den Umsturz aller Dynastien Europas durch einen kriegerischen Autokraten, oder die Zersplitterung Rußlands unter einem schwachen.“ Er bemerkt, „daß die Bauern über eine Maßregel, die aus der friedlichen Hütte eine Wachtstube macht, als über einen Angriff auf die Freiheit selbst der Sklaverei murren; wohl könnten sie mit dem römischen Landmanne sagen: Impius haec tam culta novalia miles habebit. ...“ Die Russen suchten das Gehässige der Maßregel dadurch zu bemänteln, daß sie dieselbe als ein Mittel der Civilisation darstellten. Aber welche Civilisation! Und welche Perspective für die von Rußland bedrohten Länder!
  7. Nach Dupin (Force militaire de la Grande-Bretagne) hätte der definitive Friedensfuß dieser Macht, im J. 1820, 88,423 Mann betragen. Zur Zeit, da England 200,000 Mann regulärer Truppen und, seine Miethtruppen eingerechnet, 260,000 Mann unter den Waffen hielt, verwandte es in seinen Continentalkriegen nie mehr als 40,000 Nationalsoldaten auf einem Punkt. Dieser gelehrte Schriftsteller schätzt die Militärkräfte Rußlands auf 800,000 Mann. „Rußland, sagt er (Th. 1, S. 254), wird auf seiner westlichen Grenze ein Lager aufschlagen, welches die Pflanzschule künftiger Invasionen werden wird.“
  8. Die Plage der Bettler nimmt in dem Lande, dem das Gold der Welt zufließt, von Tag zu Tag mehr überhand. Im Jahr 1816 lebte in England 1/3 der Bevölkerung (= 4,000,000 Menschen) von den Almosen der Kirchspiele, d. h. von der jährlich auf 300,000,000 Fr. sich belaufenden Armentaxe. Dieses Uebel hat seinen Grund in der ungleichen Vertheilung des Eigenthums und in dem Pachtwesen. Die vormaligen Erbpächter einiger Grundstücke sanken nach und nach zu Taglöhnern und zuletzt zu Bettlern herab. Histoire de la situation de l’Angleterre, par M. de Montveran.
  9. Rußland hat mit seinen Vernichtungsplanen gegen das türkische Reich nicht gewartet, bis seine Basis erweitert, seine Seiten durch den Besitz Polens, Finlands und der Ufer des Pontus Euxinus gedeckt waren. Lange vor der Unterjochung dieser Länder ließ der brillantirte Wilde, der groteske Repräsentant des moskowitischen Reichs, Potemkin, auf das Thor von Cherson schreiben: „Weg nach Konstantinopel.“ Er rechnete damals nicht darauf, über Wien sich dahin zu begeben: wie seine Gebieterin machte er Joseph II den Hof. Aber der deutsche Kaiser, der den falschen Glanz, womit man ihn zu blenden suchte, nach dem wahren Werth schätzte, sagte zu unserem Gesandten, Segur: „Ich werde nicht zugeben, daß die Russen sich in Konstantinopel festsetzen. Die Nachbarschaft der Turbane ist für Wien immer noch weniger gefährlich als die der Czackes.“
  10. Der indische Handel ist nicht mehr in jenem glänzenden Flor, wie vor etlichen und zwanzig Jahren. Die ostindische Compagnie ist in ihrem Monopol wie in ihrer politischen Macht beschränkt worden, ihre Ausgaben haben ihre Einnahmen überstiegen. Die unmittelbare Schifffahrt von beiden Amerika und vom russischen Asien aus ist es, welche den Handel der Engländer; so wie der Bund der Mahratten, der zwar äußerlich gesprengt, aber noch vorhanden ist, das neue Reich der Afghanen, der Geist der Meuterei unter den eingebornen und selbst unter den englischen Truppen, die Bestechlichkeit der Beamten, endlich die in den neuen Geschlechtern emporkeimende Civilisation, welche ihre Herrschaft bedrohen. Montveran, der genau unterrichtet ist, sagt (Histoire de la Situation de l’Angleterre, Vol. VIII, p. 367): „Ich werde nachweisen, daß die Britten mehr aus Dünkel und Herrscherstolz, als wegen reeller Interessen dieses Reich behaupten.“ – Warum sollte also Rußland seine Heere nach Indien führen, da die Karavanen Hochasiens Rußland in Astrachan und auf dem Markte von Nischnei-Novogorod suchen?