Ueber Nervenschutz und Nervenstärkung

Textdaten
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Autor: Dr. Albrecht Eulenburg
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Titel: Ueber Nervenschutz und Nervenstärkung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 880, 882–884, 886–888, 890
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ueber Nervenschutz und Nervenstärkung.

Von Geh. Med.-Rat Professor Dr. Albert Eulenburg.

Wer an sommerlichen Gebirgs- und Seeaufenthalten als stiller Beobachter seinen Mit- und Nebengästen die gebührende Aufmerksamkeit widmet, der wird aus den ihn umschwirrenden Gesprächen der Kurgäste und Sommerfrischler kaum etwas so häufig heraushören als das Wort „Nerven“, und mit dem wiederkehrenden Beisatze, daß Sprecher – oder gewöhnlich Sprecherin – zur Stärkung besagter Nerven an den betreffenden Kurplatz gekommen oder ärztlich verschickt sei. Ob der angestrebte Zweck bei der Lebensweise, die die bedauerlichen Inhaber (und Inhaberinnen) dieser stärkungsbedürftigen Nerven zu führen pflegen, in allen Fällen auch wirklich erreicht wird, darüber dürften einige gelinde Zweifel gestattet sein. An der Ernsthaftigkeit der gehegten Absicht ist dagegen selbstverständlich kein Zweifel zulässig und es könnte böswilligerweise höchstens die Frage aufgeworfen werden, ob die Nerven unserer lieben Zeitgenossen und Zeitgenossinnen schon von Natur so „schwach“ angelegt seien, um einer solchen periodischen „Stärkung“ so dringlich zu benötigen, oder ob dieses Schwächegefühl sich nur alljährlich um die Zeit der Sommersonnenwende und der Hundstagshitze mit einer der regelmäßigen Wiederkehr der Sternschnuppenschwärme vergleichbaren Periodicität einstellt? – Aber wenn wir diese letztere Hypothese auch als einer ernsteren Begründung entbehrend vorläufig zurückweisen, so muß der rührende Anblick so vieler männlichen und weiblichen Nervenschwäche eine andere nahe liegende Gedankenverbindung in uns wachrufen. Das „Schwache“ bedarf vor allem des Schutzes – „schwache“ Nerven wohl nicht minder als andere Organe, für deren Schwächezustände wir bereitwillig den Gesichtspunkt der Schutzbedürftigkeit anerkennen: schwache Augen, schwache Herzen, schwache Mägen! Wie verhält es sich nun in dieser Hinsicht mit den „schwachen“ Nerven? Bedürfen sie mehr des Schutzes oder mehr der Stärkung, oder beider vereint? Und wie und in welchem Umfange lassen sich [882] Nervenschutz und Nervenstärkung überhaupt miteinander vereinen? Was könnte, was sollte, was müßte geschehen – wie müßten wir selbst, wie müßte unsere Umgebung sich verhalten – in welchem Milieu, nach welchen Grundsätzen müßten wir leben, um unsere Nerven zu schützen – und wie, um sie zu stärken?

Fangen wir mit dem „Nervenschutz“ an, so scheint es freilich auf den ersten Blick, als könne der Einzelne zu diesem Zwecke überhaupt nichts oder doch recht wenig ausrichten, und als seien wir den tausendfachen und millionenfachen Plagen und Schädigungen, die den übercivilisierten heutigen Daseinsformen nun einmal untrennbar anhaften, in dieser Hinsicht fast machtlos und rettungslos überliefert. Vielleicht müßte demnach der Staat, dem man ja in unserer Zeit alle möglichen Obliegenheiten zuweist und in dessen Pflichtenkreis ja bekanntlich gerade die Beschützung der Schwachen in erster Reihe gehören soll, auch das Schutzamt über die schwachen Nerven offiziell übernehmen? An Anlaß dazu würde es gewiß nicht fehlen; hat doch vor nicht langer Zeit in öffentlicher Reichstagssitzung einer unserer höchsten militärischen Beamten die Ablegung der bisherigen Nervosität im öffentlichen Interesse dringend befürwortet! Thun könnte der Staat ja vielleicht manches in diesem Sinne – aber was er thäte oder durch seinen Behördenapparat, vor allem durch die hochlöbliche Polizei in dieser Richtung thun ließe, würde sich vermutlich in den meisten Fällen kaum eines ungeteilten Beifalls zu erfreuen haben. Von dieser Art staatlich-polizeilicher Fürsorge bekommen wir ja dann und wann einen kleinen Vorgeschmack, und wir danken es der fürsorglichen Behörde in der Regel recht schlecht, wenn sie z. B. zum Schutze unserer bedrängten Nerven dem nächtlichen Treiben in gewissen Vergnügungslokalen oder der Entfaltung des Sportlebens auf öffentlichen Verkehrswegen strengere Grenzen zieht, oder wenn sie uns durch sorgsame Uebung der präventiven Theatercensur und durch gründliche Reinigung der Bahnhofslektüre vor gefährlichen Aufregungen pflichtmäßig behütet. Zu dieser Beschützung von Staats wegen läßt sich nun einmal kein rechtes Vertrauen gewinnen. So bleibt denn der Einzelne – und die aus diesen Einzelnen sich zusammensetzende Gesellschaft – auch hier, wie bei so vielen anderen Dingen, auf den langsamen und beschwerlichen, aber sicherer zum Ziele führenden Weg der Selbsthilfe ausschließlich angewiesen. Um ihn mit Erfolg zu betreten, ist es freilich unerläßlich, das Uebel selbst genauer zu kennen und seinen Ursachen, seinen Erscheinungen, den zur Abhilfe gebotenen Maßregeln ein gewisses Verständnis entgegenzubringen.

Nun scheint die Erlangung dieses Verständnisses ja auch keine besonders schwer erfüllbare Aufgabe zu sein. Im Gegenteil! – bilden doch die nervösen Schwächezustände, um die es sich hier vorzugsweise handelt, und ihre Bekämpfung ein allbeliebtes Modethema, worüber die meisten Bescheid zu wissen glauben, nachdem sie so schrecklich viel davon gehört und gelesen haben. Wie es mit diesem Gehörten und Gelesenen seiner Beschaffenheit nach zumeist bestellt ist, und was die auf solche Weise eingesogenen Kenntnisse demzufolge für einen thatsächlichen Wert haben und haben können – darum pflegt sich die ungeheure Mehrzahl in der Regel blutwenig zu kümmern. Es ist für den Kundigen geradezu mitleiderregend, aus was für abgestandenen, trüben und sumpfigen Quellen Unzählige ihren Durst auf den Gebieten der Gesundheits- und Krankheitslehre Tag für Tag löschen, und was für vergiftete und ekelhafte Gebräue sich ihnen zur Befriedigung dieses Durstes betrügerisch anbieten. Naturheilschriften von ehemaligen Schlossern, Tischlern, Barbieren u.s.w. werden in vielen Tausenden, ja in Hunderttausenden von Exemplaren abgesetzt und gelesen; die oft den hellen Wahnwitz atmenden medizinischen Offenbarungen von Heilmagnetiseuren und Somnambulen, Hygieïsten und Hygieinologen, von Gesundheitsaposteln aller möglichen Sorten, von Schäfern und Seelenhirten aller Konfessionen werden von unserem sonst so „aufgeklärten“ Publikum mit stupender Wundergläubigkeit hingenommen. Es ist ja durchaus natürlich und menschlich, daß jeder um das, was ihm das Wichtigste und Teuerste ist, die Erhaltung und Herstellung seiner Gesundheit, sich eifrig bekümmert. Gegen das Streben an sich ist gewiß nichts einzuwenden – desto mehr aber, wie gesagt, gegen die der Zeitrichtung entsprechende, überhastete und vielfach bedenkliche Art seiner Befriedigung. Der Altmeister ärztlicher Wissenschaft und Kunst, Hippokrates, hat seinen „Aphorismen“ den vielcitierten Weisheitspruch vorangestellt: „Die Kunst ist lang, das Leben kurz, die Erfahrung ist trügerisch, das Urteil vorschnell.“ Nun, wie „trügerisch“ die Erfahrung noch immer ist, davon wissen auch wir Aerzte der heutigen Zeit, trotzdem wir es nach der Meinung mancher so herrlich weit gebracht haben, gerade so gut wie der Koische Weise vor 2300 Jahren ein Wörtchen zu sagen; und wie „vorschnell“ das Urteil ist, darüber läßt uns das Publikum durch seine ebenso ungerechten wie schonungslos geäußerten Kritiken unseres ärztlichen Könnens und Wissens auch heute zuweilen nicht im unklaren. Darf man sich da über die Früchte wundern? Darf man sich wundern, daß das Publikum selbst in seinen vermeintlich „höchsten“ und „gebildetsten“ Schichten in allen sanitären und hygieinischen Fragen eine bedauerliche Unwissenheit oder ein oft noch viel bedauerlicheres Falschwissen und „Besserwissen“ bekundet? – und daß ihm insbesondere auch auf dem Gebiete des Nervenlebens selbst die elementarsten Anforderungen einer vernünftigen Nervendiätetik und Nervenhygieine nur zu oft vollständig fremd sind?

Gehen wir also etwas näher auf die Fragen ein: Was sind „gesunde“ und „kranke“, was sind „schwache“(oder geschwächte) Nerven? und was muß der auf Schutz und Stärkung seiner Nerven Bedachte im Interesse der Erhaltung und Herstellung eines normalen Nervenlebens thun und vermeiden?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns mit dem die gesamte Gesundheits- und Krankheitslehre beherrschenden Begriffe der Reizung, der Reizauslösung und Reizwirkung einigermaßen bekannt machen.

Alle, die winzigsten wie die größten, die unscheinbarsten und alltäglichsten wie die ungewöhnlichsten Vorkommnisse des inneren und äußeren Lebens wandeln sich, indem sie auf das unendlich feine Nervengeflecht unseres Organismus treffen, für uns in Reize und wirken als solche nervenreizend, nervenerregend. Die Gesamtheit dieser durch die Pforten der Sinnesnerven unablässig eingehenden und durch die höheren, komplizierten Apparate des centralen Nervensystems ebenso unablässig verarbeiteten Reizeindrücke bildet das Material, liefert die zahllosen Bausteine, aus denen sich in unserem Innern allmählich und unbewußt ein Weltgebäude musivisch zusammenfügt, wie unter den Klängen von Amphions Leier die Steine zur thebanischen Mauer geordnet zusammenrückten. In der Bewältigung dieser unabsehbaren Massen von inneren und äußeren Eindrücken, in ihrer Aneignung, Unterbringung, passenden Einordnung und Verknüpfung ist gerade eine der Hauptfunktionen des menschlichen Nervensystems und die wesentliche Grundlage jedes höheren Seelenlebens zu suchen. – Wirken nun also die äußeren und inneren Vorgänge auf unseren Organismus in der Form nervenerregender Reize, so rufen sie demgemäß entsprechende Gegen- und Folgewirkungen, Reizwirkungen, Reaktionen im Nervensystem hervor, deren Stärke, Ausbreitung und Verlaufsweise durch zwei Umstände wesentlich bedingt wird. Einmal natürlich durch die Art und Beschaffenheit der auslösenden Reize; sodann aber, hiervon ganz abgesehen, auch durch die gegebene besondere individuelle Beschaffenheit und Veranlagung des reizaufnehmenden Nervensystems selbst. Eben in dieser individuell so außerordentlich verschiedenen Stärke und Ablaufsweise der vom Reiz erzeugten Gegenwirkungen, der Reaktionen, auch bei ursprünglich ganz gleichartiger Beschaffenheit der auftreffenden Reize – eben hierin liegt im tiefsten Grunde das Geheimnis des Individuums, der Persönlichkeit als solcher; eben hierin aber auch, gerade im Hinblick auf Nerven- und Seelenleben, das Geheimnis von Gesundheit und Krankheit, von Stärke und Schwäche, Leistungsfähigkeit und Erschöpfung. Es giebt nun eine ansehnliche – und in unserer Zeit in bedenklichem Maße stetig anwachsende – Zahl abnorm veranlagter Persönlichkeiten, bei denen diese Vorgänge nicht in der gewöhnlichen, dem Durchschnitt entsprechenden Weise sich abspielen, vielmehr das Verhältnis zwischen Reiz und Reizwirkung mehr oder weniger erheblich verändert und in einer für den Bestand der körperlichen und geistigen Integrität ungünstigen Weise gestört ist. Dieses „Gestörtsein“ bezieht sich, um das nochmals ausdrücklich hervorzuheben, nicht bloß auf das den veränderten Nervenfunktionen [883] angepaßte körperliche, sondern ebensosehr auf das seelische Verhalten der betreffenden, als „nervös“, „neuropathisch“, „degenerativ“ oder mit ähnlichen Ausdrücken gekennzeichneten Individuen. Es fällt dem Nichtarzte in der Regel einigermaßen schwer, sich mit der – vom wissenschaftlichen Standpunkte im Grunde selbstverständlichen – Wahrheit vertraut zu machen, daß Nerven- und Seelenleben der Beobachtung als ein untrennbar zusammengehöriges Ganzes entgegentreten, das in gesunden und kranken Tagen den gleichen gemeinschaftlichen Gesetzen gehorcht und sich in seinem normalen und anomalen Verhalten wechselseitig bestimmt und beeinflußt. Es sei zum Verständnisse nur an die Thatsache erinnert, daß auf rein seelischem Wege körperliche Krankheitserscheinungen der verschiedensten Art, namentlich schwere Nervenstörungen, Krämpfe, Lähmungen u. dgl. überaus häufig entstehen, und daß umgekehrt derartige Krankheitszustände durch rein seelische Beeinflussung, wie sie u. a. in den Formen der Wachsuggestion und hypnotischen Suggestion sich vollzieht, zum Verschwinden gebracht werden.

Die bei diesen Formen nervös-seelischen Andersseins, Andersgeartetseins – ich spreche absichtlich noch nicht von eigentlichem Kranksein – zumeist hervortretende Abweichung macht sich nun in zweifacher Richtung, in abnormer Reizbarkeit und in abnormer Erschöpfbarkeit aller oder nur einzelner Abschnitte des Nervensystems, vorzugsweise bemerkbar.

Die abnorm gesteigerte Reizbarkeit, die Ueberempfindlichkeit, Hypersensitivität solcher Individuen bekundet sich darin, daß körperliche und seelische Reize, die für gewöhnlich die Schwelle des Bewußtseins nicht merklich überschreiten, schon mehr oder weniger stark empfunden, und zwar in der Regel ihrem Gefühlswerte nach als unlusterregend, schmerzerregend empfunden werden – und daß überhaupt die einwirkenden Reize Gegenwirkungen von abnormer Stärke, Ausbreitnng und Dauer, daher meist mit dem Charakter der Schmerzhaftigkeit auslösen. Das gilt, wie gesagt, auf körperlichem sowohl wie auf seelischem Gebiete; für rein sinnliche Wahrnehmungen und Eindrücke, wie für Affekte und Willensmotive. Dinge, die der „Gesunde“ kaum beachtet, mit denen er jedenfalls leicht und spielend fertig wird, können bei dem in solcher Weise anomal Veranlagten schon zur Quelle schwerster und anhaltender Erregungen, gewaltsam eindringender Vorstellungen und motorischer Entladungen werden. Körperlich betrachtet sind das die Leute von so verfeinerter und „differenzierter“ Empfindung, daß ihnen eine Farbe Zuneigung oder Abscheu einflößt, daß sie Töne sehen oder auch schmecken und riechen; die Leute, bei denen wir Erröten und Erblassen, Schwäche- und Ohnmachtanwandlungen, Zittern, Krämpfe, Ernährungs- und Absonderungsstörungen der verschiedensten Art auf kaum bemerkbaren äußeren Anlaß – ja, wie es dem Fernstehenden däucht, oft ganz ohne Anlaß, spontan, eintreten sehen. Seelisch betrachtet sind es die „Minderwertigen“, die „problematischen Naturen“, denen alles schwer wird, die überall Hindernisse sehen und finden, denen jeder Maulwurfshügel ein unübersteiglicher Berg ist; die Naturen, denen Gleichmut, Ruhe, Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung unbekannte und ewig fremde Dinge sind, die weder selbst leiden noch andere leiden sehen können, die über die Fliege an der Wand außer sich geraten und durch die Mücken- und Nadelstiche des alltäglichen Lebens bis zur Besinnungslosigkeit, bis zu blinder Wut, bis zu Selbstmordanwandlungen nicht selten heimgesucht werden.

Ich darf das Bild hier nur andeuten, nicht weiter ausführen; jeder wird sich aus eigener Erfahrung leicht dahingehörige, ergänzende Züge selbst Herbeitragen können. Die Kehrseite der geschilderten übermäßigen Reizbarkeit ist nun die abnorme Erschöpfbarkeit, die auf die gesteigerte Erregung und den damit verbundenen Kraftverbrauch rasch folgende Ermüdung und Abspannung, die sich in jähem Abfalle bis zu völliger Leistungsunfähigkeit auf dem körperlichen sowohl wie auf dem seelischen Arbeitsgebiete gleichermaßen bekundet. Das Leistungsvermögen solcher Individuen ist daher im ganzen genommen stets bedeutend unter der Norm, da sie wohl durch die gesteigerten Erregungen zu kurzer Energieäußerung aufgestachelt werden, sehr bald aber nachlassen und erschlaffen oder in völlige Passivität und Abstumpfung verfallen. Alle Ziele, deren Erreichung nicht bloß eine flüchtige Kraftanstrengung, sondern Zähigkeit und Ausdauer, stetiges und zielbewußtes Wollen und Handeln erheischt, sind für Naturen dieser Art schlechterdings unerreichbar; und aus der mit ihrer Eigenart zusammenhängenden Arbeits- und Berufsuntüchtigkeit ergeben sich für ihre gesamte, wirtschaftliche und gesellschaftliche Existenz oft verhängnisvolle Folgen! Und wenn ein gnädiges Geschick sie von vornherein weich genug bettet, um ihnen solche Kraftproben zu ersparen, so sind es – in Palästen und Bürgerhäusern – die aus der rauhen Wirklichkeit flüchtenden einsamen Träumer und Gefühlsschwelger, die phantastischen Schwächlinge und perversen Genußlinge, die „müden Seelen“, Aestheten und Mystiker – Typen, wie sie uns eminent moderne Autoren, ein Huysmans, Barres, Maeterlink, ein Arne Garborg und Strindberg, ein Gabriele d’Annunzio und andere mit Meisterschaft schildern.

Die Kombinatton dieser beiden sich gegenseitig bedingenden Erscheinungsreihen, der gesteigerten Sensitivität und der Schwäche, ist es nun eben, die dem nervös-seelischen Verhalten derartiger Individuen sein charakteristisches Gepräge verleiht, und die wir in ihren höheren Graden als reizbare Schwäche, auch wohl mit einseitig gefärbtem Ausdruck als Nervenschwäche (Neurasthenie), als nervöse Erschöpfung etc. bezeichnen. Diese nervösen Schwächezustände, zumeist angeboren, häufig ererbt, fallen nicht unbedingt unter den Begriff der Krankheit im engeren und eigentlichen Sinne, sondern halten sich in ihren leichteren Formen vielfach auf der einer genauen Abmessung schwer zugänglichen Uebergangsbreite zwischen Gesundheit und Krankheit. Sie können freilich in jedem einzelnen Falle zu ausgesprochener Krankheit werden, wie ja auch sonst die angeborene Konstitutionsschwäche leicht zu wirklicher Erkrankung hinüberleitet. Ob dies bei der nervösen Konstitutionsschwäche geschieht oder nicht, das hängt einerseits von der Schwere der angeborenen und ererbten Veranlagung ab, andererseits von den mehr oder weniger begünstigenden Einflüssen von Umgebung, Erziehung, Lebenslage, Beruf – von dem ganzen Milieu, worin sich die betreffenden Individuen von früh auf bewegen, und wodurch auch im Einzelfalle die besondere Form und Richtung der sich entwickelnden krankhaften Störung in maßgebender Weise bestimmt wird. Aus der verwirrenden Fülle und Mannigfaltigkeit der individuellen Krankheitsbilder hat man seit längerer Zeit der erleichterten Uebersicht halber gewisse Haupttypen dieser nervösen Schwächezustände herausgegriffen, zu denen, wenn wir von den schwereren Formen funktioneller Seelenstörung absehen, ganz besonders die als Neurasthenie im engeren Sinne, als Hypochondrie und als Hysterie bezeichneten Krankheitsbilder gehören. Indessen dürfen wir niemals vergessen, daß der einzelne Kranke ein in dieser Art nur einmal vorhandenes krankes Individuum, daß er ein leidendes Ich – und nicht der zufällige Träger einer theoretisch ausgeklügelten, schematischen und schattenhaften Krankheitsabstraktion ist. Die lange mit überängstlicher Sorgfalt abgezirkelten und gehüteten Grenzen zwischen den verschiedenen nervös-seelischen Anomalien beginnen sich bei fortschreitender Einsicht und Erfahrung mehr und mehr zu verwischen, da alle diese krankhaften Zustände auf der gleichen, eben geschilderten Grundlage beruhen und ihre Verschiedenheit mehr in zufälligen, durch die äußeren Umstände und Gelegenheilsanlässe oder durch die besonderen Einflüsse von Geschlecht, Alter etc. bedingten Abänderungen wurzelt. So ist, um nur bei den drei obigen Haupttypen zu bleiben, die „Neurasthenie“ im engeren Sinne durch das Vorherrschen mannigfaltiger, ohne ersichtlichen Grund eintretender, quälender Angstempfindungen und Angstvorstellungen als sogenannte „Angstneurose“ vielfach gekennzeichnet, während es sich bei der reinen Hypochondrie um eine besondere Form dieser Angstvorstellungen, um eine zumeist aus krankhaften Organempfindungen entspringende, aber allerdings ihrer Schwere nach zu diesen außer allem Verhältnisse stehende Krankheitsfurcht (Nosophobie) und daraus hervorgehende Gemütsverstimmung handelt. Bei der Hysterie endlich haben wir es mit einer in dieser Besonderheit vorwiegend dem weiblichen Geschlechte eigenen Form krankhafter Nerven- und Seelenstörung zu thun, wobei übrigens die Disposition nicht, wie man von alters her irrtümlicherweise gemeint hat, in den organischen Geschlechtscharakteren, vielmehr in der besonderen seelisch-geistigen Veranlagung und Entwicklung des Weibes, in der Eigenart seines Nerven- und [894] Gemütslebens offenbar in weit höherem Grade zu suchen sein dürfte. Knüpfen wir also an die beiden gemeinschaftlichen Hauptmerkmale aller dieser nervösen Schwächezustände – die krankhaft gesteigerte Reizbarkeit und die abnorme Erschöpfbarkeit – an, so lassen sich daraus die allgemeinen Grundgedanken, die für die Behandlung dieser Zustände im Sinne des Nervenschutzes und der Nervenstärkung maßgebend sein müssen, ohne Schwierigkeit herleiten. Krankhaft reizbare, „überreizte“, „überempfindliche“ Nerven bedürfen als solche des „Schutzes“ in Form der schonenden Fernhaltung von schädigenden Reizen: der Passivität, der Ruhe. Schwache, krankhaft ermüdbare und erschöpfbare Nerven andererseits bedürfen in entsprechendem Grade der „Stärkung“, durch methodische Zuführung geeigneter Reizerregungen, d. h. durch Uebung, durch vorsichtig gewählte, den individuellen Verhältnissen sich anpassende Beschäftigung, mit einem Worte durch Thätigkeit. Ruhe und Thätigkeit – darin haben wir die beiden Pole des gesunden und kranken Nervenlebens und die unverrückbaren Grundpfeiler einer jeden, den mannigfachen Störungsformen dieses zarten Mikrokosmos gerecht werdenden, rationellen Behandlung. Ruhe und Thätigkeit – das scheinen auf den ersten Blick freilich Gegensätze zu sein, die sich wechselseitig ausschließen; in Wahrheit liegen darin aber nur zwei für jede Art organischer Funktion gleich wichtige Prinzipien, die sich gegenseitig ergänzen und fordern. Wie die schwachen, stärkungsbedürftigen Organe in der Regel zugleich auch die krankhaft reizbaren, schutzbedürftigen sind, so ist auch das Bedürfnis der methodischen Anwendung von Ruhe und Thätigkeit bei krankhaften Organstörungen meist gleichzeitig gegeben, und es kann sich nur darum handeln, beiden Forderungen in geeignetem Umfange, in der richtigen Auswahl und Kombination, in dem richtigen Mischungsverhältnisse verständnisvoll zu genügen. Nach dieser Richtung hin ist freilich oft genug gesündigt worden, indem unter der Herrschaft einseitiger Theorien und wechselnder Modeströmungen zeitweise bald das Prinzip der Ruhe und Schonung, bald das der kräftigenden Uebung und Thätigkeit in unstatthafter Uebertreibung zur Herrschaft gelangte. Wir haben das ja u. a. bei den Herzkranken erlebt, als vor ungefähr fünfzehn Jahren die sogenannten Terrainkuren aufkamen, und diese Kranken, die man bis dahin aufs peinlichste geschont und als noli me tangere betrachtet hatte, nun auf einmal turnen, marschieren, bergsteigen, später radfahren sollten, und es ja auch wirklich thaten, bis dann doch gegen die zu weit gehende Ueberspannung dieser Richtung der natürliche Rückschlag sich allmählich geltend machte und uns mit der Zeit auf einen gesunden Mittelweg der Behandlung zurückführte. Aehnliche Einseitigkeiten machen sich auch auf dem Gebiete der nervös-seelischen Störungen hin und wieder deutlich bemerkbar. Während man lange genug das Schutz- und Pflegebedürfnis, das Prinzip der Ruhe in allzuängstlicher Weise übertrieb, den Kranken vor jedem Luftzuge des Lebens, jedem Wellenschlage anregender und erfrischender Thätigkeit fast hermetisch abzusperren beflissen war – möchte man dann wieder einmal, mit der unserer Zeit überhaupt eigenen Launenhaftigkeit und sprunghaften Veränderlichkeit, die Sache plötzlich beim ganz entgegengesetzten Ende anfassen. Da kommt der und jener Modeheilkünstler und läßt die Insassen seiner Anstalt im Schweiße ihres Angesichts Holz sägen und klein machen und es mit noch größerem Schweißverluste die Treppen hinauf- und wieder herabschleppen; der andere sucht sie mit Garten- und Feldarbeit in mehr idyllischer Art zu beschäftigen; der dritte verweist sie auf das von der Mode sanktionierte Gebiet sportlicher Künste, wobei freilich auch manche Verkehrtheit mit unterläuft und die gedanken- und kritiklose Nachtreterei oft mehr Unheil als Nutzen anstiftet. Natürlich giebt es unter Aerzten und Nichtärzten passionierte Ruhe- und Bewegungsfreunde, ja Ruhe- und Bewegungsfanatiker – und der selten völlig ausgeglichene und überbrückte Gegensatz dieser beiden Strömungen macht sich dem Besucher der von Nervenkranken bevölkerten Kuranstalten öfters in recht drastischer Weise bemerkbar. Noch auf meiner vorjährigen Sommerreise in der Schweiz hatte ich Gelegenheit, zwei diese beiden Richtungen recht lebhaft veranschaulichende Bilder unmittelbar hintereinander in mich aufzunehmen. In einer übrigens bekannten und altrenommierten Anstalt war man eben mit der Errichtung geräumiger Liegehallen beschäftigt, die, mit den einzelnen Krankenzimmern in Verbindung stehend, deren Bewohnern Gelegenheit bieten sollten, sich auf den eigens dazu verschriebenen bequemen Triumphstühlen malerisch hingelagert dem ungetrübtesten dolce far niente im Anblick und Genusse des großartigsten der Schweizer Seeen kurmäßig zu überlassen. Also, wenn man will, eine Art von Ruhe- oder Liegekur, da ja doch heutzutage alles, um zu imponieren, den Namen einer „Kur“ tragen und mit diesem Zeichen gestempelt sein muß. – Ein ganz anders geartetes Bild trat mir am nächsten Tage entgegen. Da besuchte ich die seit wenigen Jahren errichtete Anstalt des Herrn Grohmann in Hirlanden (einer Vorstadt von Zürich), die eine kleine Anzahl meist jugendlicher Nervenkranker als Pensionäre beherbergt, um sogenannte „Arbeitskuren“ oder „Beschäftigungskuren“ bei ihnen anzuwenden. Die Kranken werden zu dem Zwecke mit verschiedenen mechanischen Arbeiten, namentlich mit gröberer und feinerer Tischlerei, und mit typographischen Arbeiten, wie Zeichnen und Modellieren, hier und da auch mit Gartenarbeiten in einer den individuellen Neigungen und Befähigungen möglichst angepaßten Weise unter der fortwährenden Aufsicht des Anstaltleiters planmäßig beschäftigt – ein Verfahren, wodurch in geeigneten Fällen schon recht erfreuliche Resultate erzielt wurden. Es liegt mir völlig fern, gegen die relative Berechtigung der einen wie der anderen Methode irgendwelchen Einwand zu erheben. Beide können und werden, an richtiger Stelle angewandt und in richtiger Weise gehandhabt, unzweifelhaft nützlich wirken; beide werden aber auch bei verkehrter Auswahl der Fälle und unzweckmäßiger, den Einzelverhältnissen nicht genügend angepaßter Durchführung leicht Schaden stiften. Aufgabe des denkenden Arztes muß es eben sein, das dem Einzelfalle Angemessene herauszufinden und ohne jede Voreingenommenheit für oder wider, vor allem ohne jede Schablonisierungssucht die Auswahl zu treffen. Sache des Kranken sollte es dann freilich auch sein, dem erkorenen Arzte das zu erfolgreicher Einwirkung unentbehrliche Vertrauen entgegenzubringen und zu bewahren, und sich seinen Anordnungen, auch wo sie dem eigenen Verständnisse entrückt sind oder mit den eigenen Neigungen und Liebhabereien in Kollision geraten, widerspruchslos zu fügen! Nach dieser Seite hin erfahren wir leider nur zu oft schmerzliche Enttäuschung.




Nachdem wir in dem ersten Teil unserer Ausführungen einen flüchtigen Blick auf die aus der Natur der nervösen Schwächezustände sich ergebenden Behandlungsprinzipien geworfen haben, wollen wir nun der noch ungleich wichtigeren Frage uns zuwenden, was zur Verhütung derartiger Erkrankungen bei nervös veranlagten Individuen zu thun und zu lassen ist. Denn der wirksamste Nervenschutz und zugleich die wirksamste Art der Nervenstärkung bewährt sich in vorbeugender Richtung, in einer von früh auf nach hygieinischen Grundsätzen geregelten Nervenpflege und Nervendiätetik. Freilich „von früh auf“ – in frühester Kindheit muß damit begonnen werden und das oft schwierige Werk durch alle Klippen des Jugendlebens, durch die gefährlichen Krisen der Pubertätsentwicklung und darüber hinaus fortgeführt werden.

Ich muß mich der überwältigenden Fülle des Stoffes gegenüber natürlich auch hier mit flüchtigen Andeutungen begnügen. Ganz allgemein gesprochen dient und wirkt im Sinne einer vernünftigen Nervenpflege alles, was die harmonische Entwicklung des Organismus in allen seinen Teilen begünstigt und fördert. Eine gute Ernährung des Nervensystems und seiner Centralorgane, vor allem des Gehirns, durch reichliche Zufuhr normal beschaffenen Blutes bildet für Aufbau, Stoffersatz und richtige Funktion der Nervensubstanz die erste und wesentliche Bedingung. Um eine solche zu schaffen und zu unterhalten, dazu bedarf es unter anderem einer gesunden und reichlichen, aber alles Ueberflüssige und Aufreizende verschmähenden Nahrung, einer auf Entwicklung der Muskulatur, vor allem der Herz- und Atmungsthätigkeit Bedacht nehmenden systematischen Uebung, einer den Bedürfnissen des heranwachsenden Organismus angepaßten Kleidung, reichlichen und rechtzeitigen Schlafes, angemessenen Wechsels von körperlicher und geistiger Arbeit, von Arbeit und Erholung. Selbstverständlich ergänzen sich diese [886] positiven Vorschriften durch negative von ebenso großer oder noch größerer Wichtichkeit – wie ja fast überall im Leben die Verbote eine noch wichtigere Rolle spielen als die Gebote, und bekanntlich schon die zehn Gebote der Mehrzahl nach aus Verboten bestehen. Die Liste alles dessen, was im Interesse einer vernünftigen Nervenhygieine schon im kindlichen und jugendlichen Alter zu „verbieten“ wäre, dürfte vielleicht so lang werden wie Leporellos Register. Was gehört da nicht alles hinein! – oder vielmehr was gehört nicht alles an Unvernünftigem und Unhygieinischem aus der Kinder- und Jugendsphäre heraus! – von dem nachgemachten „Tokayer“, den man kaum einjährigen Kindern als vermeintliches Stärkungsmittel kredenzt, herauf bis zum Biertrinken und Tabakrauchen der Gymnasiastenjahre! – vom Korset, in das thörichte Mütter schon die unreifen Körper ihrer sechs- oder siebenjährigen Töchter einpressen, bis zu den verfrühten Theater-, Konzert- und Ballgenüssen des kaum aus der Pubertätsentwicklung heraustretenden Backfisches! – Muß schon unter gewöhnlichen Umständen, bei normal veranlagten Kindern, Haus und Familie aufs peinlichste die gebotenen Pflichten erfüllen, alles thun und vermeiden, um bedrohlichen Schädigungen vorzubeugen, so gilt das selbstverständlich in noch weit höherem Grade überall da, wo es sich um angeborene, ererbte, krankhafte nervös-seelische Veranlagung handelt. Und gerade hier versagt die häusliche Erziehung am leichtesten und häufigsten – nur allzubegreiflich, weil eben Eltern und Anverwandte dieser krankhaft veranlagten Kinder auch ihrerseits der zu erzieherischer Einwirkung unumgänglichen Eigenschaften nur zu häufig ermangeln!

Unter solchen Umständen soll nun die obligatorische Schulerziehung ergänzend und ersetzend eintreten. Kann sie das? Erwägen wir doch, um was es sich handelt! Charakterbildung – Entwicklung des Denkens, des Verstehens und Urteilens und eines daraus entspringenden festen, selbständigen Wollens – das ist es, was wir brauchen und was wir als Schutzwehr gegen die früher oder später hereinbrechende Flut der Nervosität bei unserer Jugend aufrichten müssen; nicht aber einseitige Anhäufung von Kenntnissen, von allerlei, innerlich fern und fremd bleibendem Wissensstoff oder gar totem Gedächtniskram, wie ihn die heutige Schule leider nur zu massenhaft bietet! Es läßt sich nicht verkennen – so ungern ich dies auch ausspreche – daß die Schule teils durch die ihr vielfach anhaftenden hygieinischen Mängel, teils durch die Art und Weise des üblichen Lehrbetriebs in gewissem Sinne eine wahre Brutanstalt für künstliche Züchtung und Hervorrufung von Nervosität darstellt – wie denn auch die in verschiedenen, zum Teil recht schweren, typischen Formen auftretende „Schulnervosität“ ein den Nervenärzten längst bekannter und geläufiger Begriff ist.[1] In- und ausländische Statistiken ergeben an manchen Orten, namentlich in Großstädten, eine geradezu schreckenerregende Häufigkeit derartiger Zustände, die wesentlich auf die von einsichtsvollen Aerzten und Pädagogen längst dargelegten Mängel des Unterrichtsbetriebs zurückgeführt werden müssen. Ich will die vielbesprochene „Ueberbürdungsfrage“ hier nicht weiter berühren. Gewiß läßt sich zu Gunsten der Schule den oft erhobenen Anschuldigungen gegenüber manches entlastende Wort sagen; eine Einschränkung der Ziele, ein Ziehen festerer und engerer Grenzen den einmal angenommenen Bildungsansprüchen gegenüber ist schwer durchzuführen; der Erwerb dieser „Bildung“ und der damit nach unseren Lebensanschauungen verknüpften Rechte und Privilegien erheischt und verdient Opfer. Aber auf Kosten der körperlichen und geistigen Gesundheit der nachwachsenden Generation sollten und dürften diese Opfer doch nicht gebracht werden; sonst müßte das damit Errungene in den Augen unverblendeter Beurteiler als zu teuer erkauft gelten! Das schulmäßige Wissen ist, wie die Dinge heutzutage liegen, für den Einzelnen wie für die Gesamtheit jedenfalls weit entbehrlicher als bestimmte, oft nur auf Kosten des Wissensumfanges zu erwerbende Charaktereigenschaften, als Mut, Entschlossenheit, Energie, deren Vorhandensein dem Leben des Einzelnen wie dem nationalen Gesamtleben erst höheren Wert giebt. Es ist ein treffendes, wenn auch zum Populärwerden in unserer bildnngswütigen Zeit nicht sehr geeignetes Wort Bismarcks, daß man unter Umständen auch den Mut der Unwissenheit haben müsse! Wenn nun das Haus seine Erziehungspflichten nur zu oft sträflich verabsäumt, die Schule vielfach sich auf bloße Wissensspendung beschränkt, so liegen die Aussichten in dieser Beziehung, wie es scheint, ziemlich trübe. Freilich wird sich der Hoffnungsfreudige auch darüber hinaus noch weiter vertrösten können. Nicht bloß Haus und Schule erziehen ja an uns, sondern als Dritter in diesem Bunde vor allem das „Leben“! Das ist ebenso unbestreitbar wie andrerseits die Erfahrung, daß das „Leben“ nur zu vielen von uns ein recht schlechter, ein jedenfalls sehr grausamer und harter Lehrmeister ist, der mit der überwiegenden Mehrheit seiner Zöglinge wenig Ehre einlegen kann und so manchen von ihnen in Nerven- und Geisteszerrüttung, nicht wenige in Verzweiflung und freiwilligen Tod treibt. Die stetig anwachsende Ziffer der Nerven- und Geisteskranken, die Häufung der schwersten Formen von Geisteskrankheit im jugendlichen Alter und beim weiblichen Geschlechte, die anschwellende Statistik der Selbstmorde bekunden deutlich genug, was wir von den Einflüssen des modernen Lebens nach dieser Richtung zu halten haben. Wer hier nicht schon mit sicheren Schutzwaffen ausgerüstet hereintritt – oder von der gütigen Fee nicht das alles ausgleichende und ersetzende Patengeschenk des Glücks in die Wiege gelegt erhalten hat – der hat bei den immer höher geschraubten socialen und wirtschaftlichen Anforderungen, in dem immer erbitterter geführten Daseinskampfe wenig Aussicht, sich zu behaupten und ohne die schwersten Wunden und Narben sein Lebensziel zu erreichen. Um so größere und dringendere Veranlassung also, diese Schutzwaffen schon beizeiten zu rüsten und beständig zu schärfen!

Aber noch ungleich gefahrvoller als die ringsum drohenden äußeren Schwierigkeiten und Hindernisse sind die von uns selbst heraufbeschworenen inneren Kämpfe und Stürme, die Qualen der Leidenschaft, die Sorgen und Aufregungen, Zweifel und Reue – alle die verwüstenden und zerstörenden, negativen Mächte, für die leider in unseren Tagen keine tröstende und aufrichtende, positive Weltanschauung das Gegengewicht bildet. Denn von einer solchen sind wir, trotz aller Versuche und Anläufe, ferner als je. Wir haben uns längst damit abgefunden, daß eine allgemein giltige, objektive Wahrheit nicht existiert oder uns wenigstens nicht zugänglich ist, und daß jeder Weltanschauung, wie hoch- oder tiefstehend sie uns auch erscheine, doch im Grunde nur eine einzelpersönliche, subjektive Bedeutung zukommt. Diese subjektive Bedeutung ist für ihren Träger allerdings hoch genug zu bewerten; dem Einzelnen kann seine Ueberzeugung, sein Glaube, je nach dessen Stärke und Beschaffenheit, entweder zu einer unversiegbaren Quelle lebendiger Kraft und innerer Freudigkeit oder zur Ursache düsterer Trostlosigkeit und Enttäuschung werden. Leider ist nun die in unserer Zeit in weiten Kreisen vorherrschende Weltanschauung – soweit man ein solches Wort auf die gangbaren Ansichten und Meinungen überhaupt anwenden darf – weit geeigneter zur Erzeugung schlaffer Resignation und hoffnungsloser Verzagtheit als schwellenden Kraftgefühls und hochgemuter Befriedigung. Die „Decadence“-Stimmung, die „fin de siècle“-Stimmung, und mit was für anspruchsvollen Ausdrücken wir sonst noch das uns nur zu oft beschleichende, niederdrückende Gefühl innerer Schwäche und Haltlosigkeit in selbstgefälliger Epigoneneitelkeit herausputzen – dieses ganze traurige Selbstbekenntnis nervös-seelischen Siechtums verweist deutlich auf eine in den höchsten Regionen des Geisteslebens aufzufindende Lücke. Aus dem Mangel an tiefwurzelnden Ueberzeugungen und Idealen, aus der Glaubens- und Autoritätslosigkeit unseres modernen Bewußtseins entspringt jene unselige innere Leere und Oede, die so viele Existenzen zur Zerrissenheit und Ohnmacht verurteilt, das Leben so vieler zu einer großen Lüge oder bestenfalls zu einer Kette von Halbheiten und Kompromissen, von verfehlten Anläufen und nichtigen Aufregungen gestaltet. Unsere Zeit hat nicht bloß mit ihren technischen Fortschritten die alten Naturgewaltcn überwunden und in ihren Dienst gezwungen, sondern sie hat auch ungeheure Gedankenernten eingebracht, sich ganz neue und ferne Geisteswelten erobert – ohne freilich bisher für eigene innere Befreiung und Befriedigung davon Nutzen zu ziehen. Vorläufig liegen noch rings herum die Ruinen aller gestürzten Gedankengebäude der Vergangenheit aufgehäuft, mit ihrem Schutt- und Trümmergeröll ein unerfreulicher, das Gemüt [887] bedrückender und die Phantasie qualvoll beschäftigender Anblick! Auf diesem Schüttboden, in dieser noch von keinem Lichtstrahl einer neuen Zukunft erhellten trüben Atmosphäre müssen die Keime krankhaften Nerven- und Seelenlebens leicht und üppig emporschießen. Charakteristisch für die moderne Decadence-Stimmung ist ja genau dasselbe, was die Neurasthenie, die reizbaren Schwächezustände, charakterisiert: der schreiende Gegensatz von Empfinden und Thun, von Wollen und Können, die bis zur Krankhaftigkeit verfeinerte und verzerrte Sensitivität bei krankhaft gebrochenem, unlustigem und versagendem Wollen. „Sie möchten gern und können nicht. Die Decadence ist der Renaissancetraum der psychisch und physisch Geknickten“ – so charakterisiert ein jüngerer kritischer Dramaturg[2] recht zutreffend dieses Epigonentum in der Litteratur, allerdings unter besonderer Bezugnahme auf eine gewisse Neu-Wienerische Abart; und wer möchte diesem Zeugnisse nicht in der That für die Geistesprodukte einzelner – übrigens feinsinniger und talentbegabter – Autoren eine gewisse Berechtigung zugestehen, ohne dabei zu verkennen, daß diese Autoren zumeist in ausländischen, skandinavischen, französischen, italienischen Mustern ihre Ur- und Vorbilder finden? Wer möchte überhaupt so manchem Produkte der heutigen Litteratur, der bildenden Künste und selbst der Tonkunst das gleiche bedenkliche Prädikat innerer Krankhaftigkeit, das Prädikat der Schwäche bei hochgesteigerter und unglaublich verfeinerter Sensitivität – mit einem Worte, das neurasthenische Ursprungszeugnis versagen? Selbst an den höchsten und mit Recht verehrtesten Kunstschöpfungen unserer Zeit macht sich dieser pathologische Zug nur zu oft auffällig geltend – so sehr, daß wir ihn schon fast als ein notwendiges, zur Steigerung der Wirkung unentbehrliches Ingrediens hinzunehmen geneigt werden. Ich vermeide es, Beispiele zu nennen; jeder wird sie aus der eigenen Lektüre, aus dem Besuche unserer Theater, unserer Konzertsäle und Kunstausstellungen leicht genug herausholen.




Fragen wir uns nun nach den vorausgegangenen Erörterungen: wenn denn doch die Krankheitsursachen und die Mittel und Wege der Heilung so offen liegen, woher kommt es, daß dieses aufs innigste zu wünschende Ziel dennoch so überaus häufig verfehlt und nur bei einer kleinen Minderheit von Nervenkranken thatsächlich erreicht wird? Gerade mit dieser praktisch so wichtigen Frage beschäftigt sich eine vor kurzem erschienene kleine Schrift, die, von einem selbst nervenleidenden Arzte herrührend, wohl berufen erscheint, auch Nichtärzte mit dem Gegenstande vertraut zu machen und ihnen, soweit es dessen bedarf, die richtigen Wege zu weisen.[3] Ich möchte dieses sehr beachtenswerte Schriftchen um so mehr zur Lektüre empfehlen, als ich selbst nur kurz auf die Frage hier einzugehen imstande bin. Es sind der Klippen äußerst viele, an denen eine erfolgverheißende Behandlung Nervenkranker nur zu häufig scheitert; und man muß leider sagen, daß daran keineswegs bloß die Schwere der Krankheit und die Unvollkommenheit der zu Gebote stehenden Heilverfahren schuld trägt – sondern in noch höherem Grade die von den Kranken selbst und von ihrer Umgebung begangenen Fehler und Mißgriffe.

Zunächst wird – wie der Verfasser der genannten Schrift mit Recht hervorhebt – oft viel zu spät mit der Kur begonnen, sei es aus Leichtsinn, sei es aus der den Kranken dieser Art überhaupt eigenen Energie- und Entschlußlosigkeit; sei es endlich, weil die Kranken sich überhaupt gar nicht krank, oder doch nicht krank genug, oder durch ihre Krankheit sogar besonders interessant fühlen. Kommt es dann doch endlich zu Kurversuchen, so fehlt es an der zu ihrer Durchführung erforderlichen Ausdauer; der mit diesen nervösen Schwächezuständen so eng zusammenhängende Mangel an Stetigkeit und zielbewußter Folgerichtigkeit des Wollens und Handelns macht sich auch hier in verhängnisvoller Weise bemerkbar. Die Kranken sind schon enttäuscht und verzweifelt, wenn ein Heilerfolg, der doch in der Regel nur das Ergebnis ausdauernder, viele Wochen und Monate fortgesetzter Bemühungen sein kann, sich nicht augenblicklich einstellen will; sie ziehen von einer Anstalt zur andern, von einem Arzte zum andern, oder noch häufiger vom Arzte zum Wunderthäter, zum Magnetiseur und Kurpfuscher; sie erwarten überhaupt in fatalistischer Weise alles von den gegen ihr Leiden zu Hilfe gerufenen fremden Einflüssen und Einwirkungen, statt, wie es die Sache erforderte, vor allem die eigene Selbstthätigkeit im Kampfe gegen das Leiden mit aufzubieten. Fast ebenso zu fürchten wie die Unstetigkeit und Veränderungssucht der meisten dieser Kranken ist es übrigens, wenn sich einmal ein Kranker – oder in diesem Falle gewöhnlich eine Kranke – an den Arzt zu sehr attachiert und dann die Krankheit behält, um nur den Arzt nicht zu verlieren! – Beinahe noch schlimmer als das Ausbleiben des erhofften Erfolgs muß es bei dem Temperament mancher Kranken auch wirken, wenn sich im Beginn einer neuen Behandlung oder, wie nicht selten, bei veränderter Lebensweise sofort eine über die Erwartung hinausgehende Besserung bekundet. In solchem Falle wähnen die Kranken nur zu leicht, schon über alle Schwierigkeiten hinaus zu sein, und werden durch die bei der Natur ihres Leidens und zumal bei der Rückkehr in ungünstige Außenverhältnisse unausbleiblichen Rückfälle ganz und gar niedergeworfen und entmutigt. Kaum minder groß ist natürlich die Enttäuschung derer, die auf irgend ein marktschreierisch angepriesenes Universalheilmittel, eine wunderthätige Panacee, hereinfallen, wie sie die Anzeigeblätter täglich zu vielen Dutzenden im unverschämtesten, aber auf die Kritiklosigkeit und naive Gläubigkeit des Publikums wohlberechneten Reklamestil ihren Lesern vorführen. Gescheite und auf „Bildung“ Anspruch machende Leute sollten von Rechts wegen wissen oder doch ahnen, daß man sie betrügen will, wenn man ihnen von Universalmitteln und Allheilverfahren überhaupt redet, und wenn man ihnen im unfehlbaren Prophetentone sichere und baldige Heilung bei so schweren, jeder Berechnung spottenden, von Veranlagung und äußeren Lebensverhältnissen in so hohem Grade abhängigen Krankheitszuständen ankündigt. Die Heilungsmöglichkeit hat überhaupt doch ihre nicht überschreitbare Grenze! So manche Kranke dieser Art müssen sich von vornherein klar machen – oder es müßte ihnen rechtzeitig klar gemacht werden –, daß sie darauf angewiesen sind, sich mit ihrem Zustande abzufinden, mit ihren „Nerven“ ein Kompromiß zu schließen; sie müssen sich die dafür erforderliche Lebensweisheit, die Ergebung in das Unvermeidliche anzueignen versuchen; sie müssen auf mancherlei Gewinne und Ziele, die dem normal Veranlagten offen stehen, freiwillig Verzicht leisten, um für die noch verbleibenden Glücksaussichten und bescheidenen Befriedigungen freien Spielraum zu schaffen. Das ist freilich sehr viel gefordert; sehr mächtige und keineswegs an sich unberechtigte und unrühmliche Triebfedern der menschlichen Natur wirken solchen schroff hingestellten Forderungen nur zu häufig entgegen. Nicht bloß der Ehrgeiz, nicht bloß das Hängen an gesellschaftlichen Eitelkeiten aller Art, sondern auch Gefühle der Pflichterfüllung, des Ausharrens auf dem einmal eingeschlagenen Lebenswege, des intimen Verwachsenseins mit einer zum Bedürfnis gewordenen Thätigkeit, der Amts- und Berufstreue. Dem Drängen des ärztlichen Beraters auf Fernhaltung seelischer Aufregungen, auf Absperrung aller dazu führenden Quellen in Berufsarbeit und gesellschaftlichem Leben wird häufig entgegengehalten, daß das Leiden ja doch ein rein körperliches sei und mit Gemütsaffekten, mit seelisch-geistigen Alterationen nicht im Zusammenhange stehe. Wie irrig diese Vorstellung ist, haben wir schon früher gezeigt; sie ist aber nicht nur in der Laienauffassung begründet, sondern wird hier und da selbst von Aerzten, die z. B. die Erscheinungen der Hysterie in einseitiger Weise auf Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsphäre zurückführen, bestärkt und befördert.

Dem gegenüber muß nochmals entschieden betont werden, daß seelisch-geistige Beruhigung gerade das Erste und Notwendigste ist, was im Interesse derartiger Kranken zu geschehen hat, und was für alle sonstigen Einwirkungen erst den unentbehrlichen Untergrund hergiebt. Es darf also damit nicht gewartet werden, bis das oft mühsam aufrecht erhaltene Gebäude jählings [888] zusammenfällt und eine Katastrophe hereinbricht, die in vollendeter Zerstörung alles körperliche und geistige Leben unter ihren Trümmern verschüttet. Freilich müssen zu dem Zwecke oft schwere und schmerzliche Opfer gebracht werden! Ich rechne dahin nicht in erster Reihe die materiellen Opfer – so schwer auch diese wohl oft ins Gewicht fallen – sondern noch weit mehr die ideellen, wie lange, oft jahrelange Trennung von Haus und Familie, Auseinanderreißung der nächsten Angehörigen, Ortswechsel, Reisen, unerwünschte Anstaltsaufenthalte, vorübergehende oder selbst dauernde Verzichtleistung auf Thätigkeit und Berufstellung. So schmerzlich das alles ist, die Forderung ist unerbittlich und macht sich, je länger man ihre Erfüllung hinausschiebt, nur um so ungestümer und unaufhaltsamer geltend. Es ist da wie mit dem Kaufpreis der sibyllinischen Bücher. Wohl dem also, der rechtzeitig nachgiebt, und der sich freilich auch in der günstigen Lage befindet, diese Nachgiebigkeit ohne allzu drückende Einbuße materieller und ideeller Art üben zu dürfen!

Ein die Heilung besonders erschwerender und oft vereitelnder Uebelstand ist weiterhin der, daß gerade Nervenkranke in einem überaus hohen, alle anderen Kranken bei weitem übertreffenden Prozentsätze unwissenden Pfuschern und Charlatanen in die Hände geraten und so statt vernunft- und naturgemäßer Behandlung zum Gegenstande roher und betrügerischer Ausbeutung werden. Es ist nicht ganz leicht, den Ursachen dieser befremdenden Erscheinung nachzuspähen, zumal oft sehr verschiedenartige Umstände dabei zusammenwirken. Es ist doch von vornherein kaum begreiflich, daß selbst hochgebildete und auf der gesellschaftlichen Stufenleiter hochstehende Personen sich Schwindlern und Betrügern schlimmster Sorte blindlings verschreiben und diesen Leuten mit einer Hingebung und Vertrauensseligkeit gegenüberstehen, von der sie dem Arzte niemals die geringste Probe zu liefern bereit wären. Zum Teil wirkt dabei das von anderen Leidens- und Schicksalsgenossen gegebene Beispiel und deren natürlich jeder wissenschaftlichen Basis ermangelnde kritiklose Empfehlung; zum Teil spielt dabei auch der Einfluß der Verwandten und Angehörigen mit, namentlich der so leicht und leider so oft an unrechter Stelle sich begeisternden weiblichen Familienratgeber; zum Teil endlich sind es die schon früher geschilderten suggestiven Wirkungen der Lektüre, der magische Einfluß von bedrucktem Papier in der Form von Zeitungsreklamen, Prospekten, Cirkularen, Broschüren und jener ganzen Schundlitteratur, die sich unter dem Aushängeschild sogenannter Naturheilverfahren oder unter der Ankündigung neu erfundener Heilmethoden, mit verblüffenden Titeln und Illustrationen und mit allerlei mehr auf die Phantasie als auf den Verstand wirkenden Reizmitteln dem vertrauenden Publikum anbietet. Die schlauen Verfasser dieser Geistesprodukte kennen oder befolgen wenigstens sehr genau das Goethesche Wort, daß, wenn man die Welt betrügen will, man es „nur nicht fein“ machen muß; und je gröber sie es treiben, desto größer scheint nur die Zahl der Gimpel zu werden, die ihnen ins Garn laufen. Wie vollkommen sie ihren Zweck erreichen, dafür hat, was die Behandlung Nervenkranker durch Pfuscher und Quacksalber anbetrifft, der Verfasser der vorerwähnten kleinen Schrift, Dr. Engler, einen interessanten statistischen Beitrag geliefert. Nach seinen Berechnungen muß man annehmen, daß ungefähr neunzig Prozent der Nervenkranken sich keiner geordneten ärztlichen Behandlung unterziehen, höchstens gelegentlich einmal einen Arzt befragen, ohne jedoch seinen Ratschlägen zu folgen. Und doch bedürften, aus den schon erörterten Gründen, Nervenkranke noch weit mehr als andere eines ständigen, zuverlässigen, ärztlich hygieinischen Beraters und Führers. Daß bei einem solchen vielerlei nur selten in der wünschenswerten Vereinigung auffindbare Eigenschaften zusammentreffen müßten, ist für die Auswahl eines solchen Ratgebers selbst unter Aerzten häufig genug ein erschwerender Umstand. Liebe zur Wissenschaft und Humanität, Takt, Gewandtheit, Welterfahrung, Energie, Ausdauer, Charakterstärke, Begeisterung – ein hochgesteigertes Wissen und Können müssen sich dazu die Hände reichen. Und derartige Eigenschaften soll man beim Kurpfuscher voraussetzen, dessen Betrieb höchstens den Spürsinn und die Pfiffigkeit des „geriebenen“ Geschäftsmannes erwarten läßt, der auch mit den Mitteln eines solchen zu arbeiten gezwungen ist und in Ausübung seines Gewerbes auf den Charakter als Gentleman nicht selten schon im voraus verzichtet? Auch selbst die einzelnen Besseren, Begabteren und Uneigennützigen unter den zahllosen Mitgliedern dieser Gilde müssen trotzdem Schaden stiften, weil es ihnen ganz und gar an der unumgänglichen wissenschaftlichen Schulung gebricht – ein Mangel, der selbst durch die hervorragendste praktische Befähigung nur in sehr unvollkommener Weise ersetzt wird.

Man sollte meinen, das alles müßte sich gerade den in mancher Beziehung so empfindlichen, so fein- und scharfsinnigen Kranken dieser Art ganz besonders aufdrängen. Aber weit gefehlt! Der blinden Vorliebe dieser Kranken für jede Art von Kurpfuschertum entspricht nur der ebenso blinde und unbegreifliche Widerwille so vieler von ihnen gegen jede ärztliche Einwirkung und Behandlung. Unzählige Nervenkranke sind gegen alles, was Arzt heißt, nicht bloß von Abneigung, sondern von einer fast als wahnsinnig zu bezeichnenden Erbitterung erfüllt: man kann das nur mit der Erbitterung vergleichen, wie sie Geisteskranke, die ja im Grunde auch nur Nervenkranke erster Klasse sind, gegen die sie behandelnden Aerzte so oft an den Tag legen. Es ist das in der That auch nichts als eine „fixe Idee“. Die absurdesten Verleumdungen und Anschwärzungen ärztlicher Thätigkeit durch Wort und Schrift von kurpfuscherischer Seite werden von diesen Verblendeten auf Treu und Glauben hingenommen und bereitwillig nachgesprochen, z. B. die kindische, aber trotz ihrer Abgeschmacktheit immer wieder aufgewärmte Behauptung, daß die „Schulmedizin“ alle Krankheiten fast nur mit Arzneien oder vielmehr mit „Giften“ kuriere – wobei die nämlichen Kranken, die diesen Unsinn nachbeten, sich von den Wundermännern ihres Vertrauens lächerliche und zum Teil ekelhafte Kräutermischungen und Absude als vermeintliche Allheilmittel unter pomphaften Titeln für teuren Preis aufschwatzen lassen!

Alles das muß man häufig mit ansehen, ohne abhelfen zu können; denn auf Kranke dieser Art durch Belehrung umstimmend, überzeugend einzuwirken, ist in der Regel unmöglich – oder es gelingt erst, wenn ein schweres Lehrgeld bezahlt, wenn es für den Erfolg schon zu spät ist.

Aber die Nervenkranken leiden nicht bloß allzuoft unter ihren eigenen Fehlern, sondern fast ebensosehr unter den Fehlern ihrer Umgebung. Zu einem richtigen Verkehr mit Nervenkranken und vollends zu einer angemessenen Pflege gehört neben vielem anderen ein hohes Maß von Einsicht, Selbstverleugnung und Geduld, wie es dem Durchschnitt der Menschen versagt ist und wie es natürlich auch die nähere und fernere Umgebung dieser Kranken höchstens ausnahmsweise darbietet. Die schwersten und schädlichsten Begehungs- und Unterlassungssünden sind hier ganz alltäglich. Auf der einen Seite werden die Kranken durch eine übertriebene Rücksichtsnahme verwöhnt und verhätschelt; ich erinnere nur an die oft ganz unverzeihliche Duldsamkeit so vieler Eltern und an die bekannte Schwäche der Ehemänner von hysterischen Frauen, die den Aerzten die Durchführung ihrer Aufgaben so unendlich erschweren. Auf der anderen Seite findet man leider auch das Gegenteil: übertriebene Strenge und Härte, Lieblosigkeit der Eltern, ja mitunter förmlichen Haß gegen ihre belasteten, mangelhaft begabten oder geradezu schwachsinnigen und idiotischen Nachkommen, deren Existenz sie als einen beständig lastenden Vorwurf und als eine ihrer Selbstliebe zugefügte Kränkung schmerzlich empfinden. Ich habe davon oft genug traurige Beispiele beobachtet.

Am allerschlimmsten ist es aber, wenn von einer thörichten Umgebung die Leiden und Klagen der Nervenkranken als „eingebildet“ betrachtet werden, wenn man ihnen die Rolle der „malades imaginaires“ zuweist und kurzweg Beherrschung, Ueberwindung ihrer Leiden von ihnen verlangt – eine Forderung, die so unbillig und unvernünftig ist, als wenn man von einem fiebernden Typhuskranken forderte, sein Fieber durch eigene Anstrengung zu überwinden, und deren Erfüllung ganz und gar der Münchhausenschen Leistung des Sichherausziehens am eigenen Zopf gleichkommen würde!

Auch das so oft empfohlene „harte Anfassen“ der Nervenkranken ist nur zum kleinsten Teile berechtigt, insofern diese Kranken allerdings wie Kinder einer festen Haltung und Führung zu ihrem eigenen Schutze nicht selten bedürfen. Dagegen darf von wirklicher Härte ihnen gegenüber doch niemals [890] die Rede sein! Es handelt sich, wie nicht vergessen werden darf, doch um Kranke, und zwar um höchst mitleidswürdige Kranke, die ohnehin den Mangel an Teilnahme und Verständnis ganz besonders schwer und bitter empfinden, und denen jedes lieblose, rohe, brutale Entgegentreten vielleicht eine kaum gutzumachende Schädigung zufügt. Der Mangel an echtem Mitgefühl und Verständnis, den diese Kranken meist sehr schnell herausfühlen, ist für sie schon deswegen in hohem Grade nachteilig, weil er sie nur zu leicht zu einer extravaganten Steigerung ihrer Klagen, zu allen Arten unbewußter Uebertreibung und pathetischer Ausschmückung veranlaßt, womit sich bei der psychologischen Eigenart dieser Kranken eine wirkliche, qualvolle Zunahme ihrer Krankheitsempfindungen und Krankheitsvorstellungen unvermeidlich verbindet. Wir können das nicht nur bei Hysterischen, wo es allerdings am offensten hervortritt, sondern auch bei Neurasthenischen, Hypochondern, bei der großen Zahl der sogenannten Unfallsnervenkranken nur zu häufig beobachten. Es ist doppelt schmerzlich, zu sehen, wie nicht nur die Kranken selbst sich so manchen Schaden unnötigerweise zuziehen, sondern auch die zu ihrem Schutze vorzugsweise berufenen Personen durch Unkenntnis oder Unachtsamkeit manche Schutzmaßregel stören, manchen erfolgverheißenden Stärkungsversuch oft im voraus vereiteln!




Kommen wir nun am Schlusse dieser schon etwas weit ausgesponnenen Betrachtung auf den Ausgangspunkt zurück. In allem, was über Verhütung und Heilung von Nervenkrankheiten hier bruchstückweise bemerkt wurde, finden sich die Aufgaben von Nervenschutz und Nervenstärkung unauflösbar vereinigt. Nicht das eine oder das andere – sondern eines und das andere! Die „ideale“ Forderung dürfte lauten: „Stärkt eure Nerven beizeiten, damit sie möglichst wenig des Schutzes bedürfen, und schützt eure Nerven in so wirksamer Weise, daß sie eine nachträgliche Stärkung in möglichst geringem Grade erheischen!“ Nur wenn wir diese theoretische Forderung uns ganz zu eigen machen und ihr mit vollem Verständnisse ihrer Bedeutung auch praktisch nachleben – nur dann dürfen wir hoffen, für uns und für die nach uns kommenden Generationen das zu verwirklichen, was uns nicht bloß im persönlichen Interesse, sondern ebensosehr im Interesse unserer nationalen Wohlfahrt, zur Erhaltung und Förderung unserer Volkskraft als höchstes Ziel vorschweben muß: ein an Körper und Geist gesundes, willensstarkes und wagemutiges, seiner selbst frohes Geschlecht, dem auch nach außen hin die Befriedigung erwachsen wird, die harmonischem Fühlen und Denken und thatkräftigem Wollen niemals versagt bleibt!



  1. Vgl. meinen Aufsatz „Ueber Schulnervosität und Schulüberbürdung“, „Gartenlaube“ 1896, Seite 176.
  2. „Hans Sittenberger, Studien zur Dramaturgie der Gegenwart. Erste Reihe: Das dramatische Schaffen in Oesterreich.“ München, C. H. Beck.
  3. „Warum werden die Nervenkranken nicht gesund? Eine kurze allgemeine Belehrung für die Kranken und deren Umgebung von Dr. med. Engler.“ Landsberg a. d. Warthe, Selbstverlag des Verfassers, 1899.