Ueber Schulnervosität und Schulüberbürdung

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Autor: Albert Eulenburg
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Titel: Ueber Schulnervosität und Schulüberbürdung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 192, 194–196
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Ueber Schulnervosität und Schulüberbürdung.

Von Prof. A. Eulenburg in Berlin.

In einem Zeitalter, das sich selbst mit einem gewissen Stolz als das nervöse hinzustellen liebt, und das im Genusse seiner glücklich erstiegenen Kulturhöhe fast auf allen Lebensgebieten das Unnatürliche, das „Komplizierte“ und „Raffinierte“ vor dem Einfachnatürlichen so ersichtlich bevorzugt, kann es bereits nicht mehr genügen, schlechtweg „nervös“ zu sein: man muß sich vielmehr, um auf volle Zeitgemäßheit Anspruch zu machen, noch durch die besondere, den individuellen Verhältnissen entsprechende Abart und Form der Nervosität ausweisen können! Wie es bekanntlich sehr verschiedene Arten von Ehre giebt, je nach Ständen, Berufsklassen und nicht zum wenigsten natürlich nach dem Geschlechte, so „erfreuen“ wir uns auch des anerkannten Besitzes mannigfaltiger, sozusagen mit einem bestimmten Lokalkolorit behafteter Arten von Nervosität, wobei wiederum teils die Standes- und Klassen-, teils die Geschlechtsunterschiede, außerdem aber noch die Lebensalter das trennende und charakterisierende Moment bilden. Von einer Nervosität des kindlichen Alters zu sprechen wäre unsern Vorfahren und Vorvorfahren gewiß noch als etwas Ungeheuerliches, Undenkbares, als ein lebendiger Widerspruch erschienen. Das Kind, diese Verkörperung naivfreudigen Lebensgefühls, dem ein gütiges Geschick noch alle Sorgen und Kämpfe, alle verderblich wirkenden Leidenschaften und Aufregungen in weite Ferne gerückt hat – und dem gegenüber alle die nur zu wohlbekannten Zeichen der „krankhaften Reizbarkeit“ und „reizbaren Schwäche“, der Zerfahrenheit und der Unzulänglichkeit für die herantretenden Lebensaufgaben, wie wir sie mit dem Begriffe der entwickelten und voll ausgereiften Nervosität der Erwachsenen ohne weiteres verbinden!

Und doch ist es so: doch vermögen wir Aerzte wenigstens uns schon längst der niederdrückenden Erfahrung nicht mehr zu entziehen, daß sogar im zarten kindlichen Lebensalter die schweren und schwersten Formen der Nerven- und Geistesstörung in immer gesteigerter, schreckenerregender Häufigkeit zur Entfaltung gelangen! Und bei näherer Betrachtnng haben wir kaum einen Grund, uns über diese fürchterliche Thatsache auch nur zu verwundern. Von der weitaus überwiegenden Mehrzahl der späteren Nerven- und Geisteskranken müssen wir, nach den Ergebnissen immer und immer wieder bestätigter Untersuchungen, annehmen, daß sie von Anfang an nicht frei war von krankhaften, vielfach auf Vererbung zurückführbaren Anlagen, oder von beginnenden, erst leise angedeuteten Krankheitskeimen, deren rasches und üppiges Aufschießen nur durch entgegenwirkende Einflüsse, durch die Gunst der Verhältnisse also, zeitweise gehemmt und in Schranken gehalten wurde. Nur zu viele aber von diesen unselig Veranlagten trafen es schon in Kindheit und Jugend minder gut; bei ihnen wurde im Gegenteil schon in den grundlegenden Jahren durch allerlei verderbliche Einflüsse der Erziehung und der ganzen Umgebung ein üppiges Wuchern der Krankheitskeime angeregt und gefördert. So habe ich selbst unendlich häufig schon bei Knaben und Mädchen im ersten Lebensjahrzehnt die ausgeprägten Erscheinungen schwerer Hysterie, und bei Zehn- und Zwölfjährigen wiederholt das Bild der mit Sinnestäuschungen verbundenen chronischen Verrücktheit (Paranoia) beobachtet. Zuweilen wird der Abgrund solcher Zustände, gegen den wir nur zu gern so lange wie möglich die Augen verschließen, wie mit einem grellen Blitzstrahl durchleuchtet. So bei den häufigen Tagesmeldungen über Kinderverbrechen: von Kindern begangene schwere Eigentums- und Sittlichkeitsverbrechen, Morde, selbst Elternmorde! Fast noch unheimlicher berührt die zunehmende Häufigkeit von Selbstmorden im kindlich jugendlichen schulpflichtigen Alter. Vor mehreren Jahren erst machte eine Verfügung des preußischen Unterrichtsministeriums an die Direktoren der höheren Schulanstalten in den Blättern die Runde, die auf diese beklagenswerte Thatsache der häufigen Schülerselbstmorde die Aufmerksamkeit lenkte und die Pflicht der Unterrichtsverwaltung betonte, nach Mitteln zu suchen, um die krankhaften Neigungen des heranwachsenden Schülergeschlechts nach Möglichkeit zu bekämpfen. Ob man solche „Mittel“ inzwischen gefunden, ob man auch nur ernstlich und andauernd danach gesucht hat? Es wird vielleicht erlaubt sein, daran bescheiden zu zweifeln.

Freilich würde man der Schule – das ist von vornherein festzuhalten – das größte und schreiendste Unrecht zufügen, wollte man sie allein und ausschließlich für die traurigen Folgewirkungen verantwortlich machen, die aus so mancherlei von ihr ganz unabhängigen, in Haus und Familie wurzelnden Ursachen entspringen oder sich, wie bereits angedeutet wurde, aus dem Keime mitgebrachter, großenteils angeborener und ererbter krankhafter Veranlagung entwickeln. Der Prozentsatz derjenigen, die schon mit den Zeichen nervöser Disposition behaftet die Schulen aufsuchen, ist, wie bezügliche Untersuchungen gelehrt haben, erschreckend hoch – wenn er auch immerhin noch erheblich hinter dem Prozentsatz derjenigen Schüler zurückbleibt, die, zumal in den mittleren und oberen Gymnasialklassen, die mehr oder weniger schweren Erscheinungen eines gestörten und krankhaft veränderten Nervenlebens, die Erscheinungen der „Schulnervosität“ darbieten. Wenn wir also auch gern der Schule gegenüber gerecht sein wollen – wenn wir sogar den größeren Teil der Schuld auf Haus und Familie abwälzen, die ihre vorbereitende erzieherische, sittlich festigende und körperlich kräftigende Aufgabe an den Kindern oft so mangelhaft gelöst und die Schule mit ungeeigneten, unfähigen Elementen zu beiderseitigem Nachteil belastet haben: so läßt sich doch auch die Schule von einer direkten und indirekten Mitschuld an der betrübenden Lage der Dinge keineswegs freisprechen. Viele der gegen sie erhobenen Einzelvorwürfe sind nur allzu berechtigt; und sie werden, wie doch nicht zu verkennen ist, um so härter und schwerer empfunden, weil dem Publikum die Schule als ein Starres, Gegebenes, Unabänderliches gegenübersteht, worauf einen Einfluß zu üben schlechterdings unmöglich erscheint, und in dem zumal empfindsame Mutterherzen oft den Moloch erblicken, in dessen geöffnete Arme sie ihre Kinder als bedauernswerte Opfer staatlicher Barbarei abliefern müssen.

Ich habe bereits bei einer früheren Gelegenheit und an anderem Orte[1] den Versuch gemacht, die „nervenfeindlichen Potenzen“ der Schule genauer zu zergliedern und auf ihre einfachsten Bestandteile zurückzuführen. Im folgenden will ich mich, soweit es für nichtärztliche Leser verständlich und auch für solche, wie ich glaube, von Wichtigkeit ist, nur mit jenen krankhaften Störungen beschäftigen, die man heutzutage vielfach unter dem schon erwähnten Ausdrucke „Schulnervosität“ zusammenfaßt – sowie mit dem Verhältnisse dieser Störungen zur „Schulüberbürdung“. –

Unter Schulnervosität verstehen wir einen in seinen Hauptzügen wohl charakterisierten, im einzelnen allerdings nicht bloß gradweise, sondern auch seiner Zusammensetzung nach vielfach wechselnden Inbegriff nervöser Störungen, zumeist in Verbindung mit Blutarmut und allgemeiner Ernährungsschwäche, wie wir ihn in dieser typischen Ausprägung gerade bei schulbesuchenden Kindern, also vom 7. Lebensjahre aufwärts bis an die Grenze des Schulalters, in nach oben stetig wachsender Zahl und Schwere überaus häufig beobachten. Wie häufig? – darüber gehen allerdings die Angaben der verhältnismäßig wenigen ärztlichen Autoren, die dem Gegenstande ihre Aufmerksamkeit zuwandten und die zugleich in der Lage waren, ein größeres „Material“ von Schulkindern methodisch durchzuuntersuchen, nicht unbeträchtlich auseinander. Natürlich kommen hierbei auch die örtlichen, nationalen und sozialen Verschiedenheiten wesentlich in Betracht. Während nach den in Schweden und Dänemark ausgeführten Untersuchungen von Axel Key fast 40% der Schulkinder an schweren, durch die Schulüberbürdung mitveranlaßten Störungen leiden, fand Nesteroff an russischen Mittelschulen 30% der Kinder nervös (neurasthenisch), und zwar in aufsteigendem Verhältnisse, so daß der Prozentsatz in der ersten (untersten Klasse) mit 15% beginnt und in der achten (obersten) bis auf 69% anwächst – also ähnlich wie es bekanntermaßen mit der Schulkurzsichtigkeit nach den Statistiken von Hermann Cohn und vielen anderen der Fall ist.

Sehr genau und durchaus vertrauenerweckend sind die von dem ungarischen Schularzte und Professor der Hygieine Schuschny neuerdings veröffentlichten Prüfungen; sie ergaben, daß von den Schülern der dortigen Staats-Oberrealschule durchschnittlich 51,7% an ausgesprochenen nervösen Störungen leiden, und zwar beträgt der Durchschnittssatz in [194] den vier unteren Klassen zusammen 46,4%, in den vier oberen Klassen 57% (also auch wie bei Nesteroff nach oben anwachsend). Das sind doch ganz entsetzliche Zahlen! Und es dürfte bei uns in Deutschland, zumal in unseren Großstädten und vor allem in Berlin, schwerlich besser sein, wenn auch entsprechende schulhygieinische Statistiken bei uns leider noch vollständig fehlen. Wenn ich meinen eigenen, in der Privatpraxis gesammelten Erfahrungen trauen darf, so ist die Zahl schwerer und schwerster Formen der Schulnervosität an den höhern Knabenschulen Berlins – von den Mädchenschulen, wo teilweise auch verwandte Zustände herrschen, mag aus mancherlei Gründen an dieser Stelle vorläufig abgesehen werden – ganz außerordentlich bedeutend. Die Ursache dieses betrübenden Zustandes ist, wie schon angedeutet wurde, natürlich in erster Reihe darin zu suchen, daß ein verhältnismäßig großer Prozentsatz von Kindern von vornherein mit einem nicht normalen Nervensystem, mit Zeichen angeborener oder früh erworbener Nervosität in die Schule hineinkommt, wo sich dann die vorhandene Krankheitsanlage auf so besonders günstigem Nährboden rasch fortentwickelt. Die genaue Zahlbestimmung dieser von Anfang an nervös disponierten Kinder ist allerdings schwierig und bisher noch nicht sicher gelungen; einen ungefähren Anhalt liefern jedoch hier für die Untersuchungen von Schuschny, der bei nicht weniger als 49,5% der Schüler sogenannte „Entartungszeichen“ feststellte – körperliche Merkmale, die freilich nicht immer notwendig mit Nervosität verknüpft sind aber doch auf eine gewisse (meist ererbte) „Belastung“ hinweisen. Von den Vererbungseinflüssen – die übrigens keineswegs immer nachweisbar direkt, von Eltern auf die Kinder, übertragen zu sein brauchen – kommen für die Entstehung und Entwicklung der nervösen Disposition in früher Kindheit noch mancherlei schädigende Einwirkungen in Betracht, von denen hier nur namhaft gemacht werden sollen: durchgemachte körperliche Erkrankungen und chronische Ernährungsstörungen (Rachitis und Skrofulose); ungünstige häusliche Verhältnisse; verkehrte, verweichlichende Erziehung; Mangel an Bewegung in freier Luft und an körperlicher Pflege und Abhärtung; unzureichende und noch mehr ungeeignete Ernährung, verfrühte Gewöhnung an Genußmittel und namentlich an spirituose Getränke, die aus der Diät des Kindesalters unter allen Umständen verbannt bleiben sollten und daher am allerwenigsten, wie es leider noch vielfach geschieht, mit „Gesundheitsrücksichten“ gerechtfertigt werden dürfen; endlich auch Gewöhnung an unpassende, für das kindliche Alter ungeeignete Zerstreuung und Unterhaltung.

Von den gewöhnlichen Zeichen der Schulnervosität pflegt man den Kopfschmerz als eins der regelmäßigsten, frühesten und sonach am meisten charakteristischen zu betrachten: und in der That wird dieser sogenannte „Schulkopfschmerz“ in den hierhergehörigen Fällen fast niemals vermißt, wenn er sich auch nach Beschaffenheit, Dauer, Ausdehnung und Heftigkeit in sehr verschiedener Form äußert. In der Regel handelt es sich dabei um die als „Kopfdruck“ vorzugsweise bezeichneten, dumpfen und pressenden Empfindungen, die bald ziemlich gleichmäßig über den ganzen Kopf, bald über eine Kopfhälfte verbreitet, bald mehr an einzelnen Stellen, namentlich in der unteren Stirngegend (Oberaugenhöhlengegend) und im Hinterkopf, lokalisiert sind, und mit denen sich übrigens namentlich bei erblich disponierten Kindern schon in frühen Jahren oft regelrechte Migräneanfälle mit Frost, Gähnen, Uebelkeiten, Augenflimmern und den sonstigen charakteristischen Begleiterscheinungen solcher auf Gefäßkrampf und örtliche Blutleere innerhalb des Gehirns hindeutenden Anfälle verbinden. Im übrigen werden die Zeichen der Kopfneurasthenie in sehr mannigfaltiger Weise ergänzt und vervollständigt durch Schwindelgefühle, Benommenheit, Unfähigkeit aufzumerken und dem Unterrichte zu folgen (ein Umstand, den man von spezialistischer Seite mit den bei solchen Kindern allerdings sehr häufigen Lokalaffekten der Nase und des Nasenrachenraums in nähere Beziehung gebracht und mit dem besonderen Fremdnamen „Aprosexie“ belegt hat) – wie überhaupt durch Lern- und Denkunfähigkeit, Arbeitsunlust, beständige Müdigkeit und dennoch Schlaflosigkeit oder vielfach gestörten, unruhigen Schlaf mit plötzlichem Erwachen und Auffahren, selbst lautem Aufschreien (dem sogenannten pavor nocturnus). Weiterhin finden wir nicht selten, zumal in ernsteren und vorgeschrittenen Fällen, motorische Reizerscheinungen, Zucken in den Augenlidern und in anderen Gesichtsmuskeln oder Handmuskeln, Hand- und Zungenzittern oder andere Formen von Muskelkrampf bis zu dem in diesem Alter so häufigen „Veitstanz“ und zu schweren hysterieähnlichen Krampfzuständen; abnorme Reflexsteigerungen, abnorme Pupillenweite und Ungleichheit beider Pupillen, Gesichtsfelddefekte, allerlei Sehstörungen, schließlich Sprachstörungen, namentlich bei gesteigerter Erregung, in Form von Wortvergessen und Wortverwechslung. Als gemeinsame Grundlagen dieser vielen und mannigfachen Störungen erkennen wir in zahlreichen Fällen die Blutarmut, die Schwäche der Herzthätigkeit und der Cirkulation mit allen für sie charakteristischen Erscheinungen, dem beschleunigten, schwachen oder ungleichen Herzschlag, der blassen oder jäh und plötzlich wechselnden Gesichtsfarbe, den kalten Händen und Füßen, den kalten Schweißen, Frostgefühlen, der Neigung zu Nasenblutungen, die, durch mangelhafte Ernährung der Gefäßwände und durch Lokalerkrankungen begünstigt, auch ein so häufiges und gefürchtetes Symptom der „Schulnervosität“ bilden; endlich die Appetitlosigkeit, Abmagerung, die Störungen der Nahrungsaufnahme und Verdauung, der gesamten Ernährung. – Es soll und will dies natürlich kein vollständiges Symptomenverzeichnis sein, was übrigens auch um so unausführbarer wäre, als die Konturen des Krankheitsbildes keineswegs fest umzogen, sondern vielfach schwankend sind und namentlich nach oben hin, bei den schwereren Formen, in anderweitige chronische Krankheitszustände des Nervensystems (Veitstanz, Hysterie, Epilepsie, Psychosen) ohne scharfe Abgrenzung übergehen. Das Gesagte wird aber genügen, um für gebildete Laien das Wesen des Zustandes einigermaßen zu kennzeichnen und ihnen jedenfalls von dem vollen Ernst und der Tragweite der Sache eine Andeutung zu geben.

Doch nun der wichtigste Punkt: wodurch und in welcher Weise, vermöge welcher Konstruktions- oder Organisationsfehler wirkt denn eigentlich die Zchule, sei es im Sinne direkter Veranlassung dieser Zustände, sei es, bei schon gegebener Veranlagung, fördernd und verschlimmernd? – Hier kommen wir auf die so vielbesprochene Frage der „Schulüberbürdung“, die ebenso einseitig und übertrieben von den Einen als wahre Pandorabüchse alles Unheils hingestellt, wie von Anderen gänzlich forteskamotiert worden ist, und der man doch eine recht handgreifliche Realität nicht abstreiten kann, falls man nur eben den Ausdruck nicht in allzu engem und wörtlichem Sinne nimmt, sondern als bequeme Gesamtbezeichnung einer Reihe einzelner, das kindliche Nervensystem schädigender Schuleinwirkungen auffaßt.

Die Schule bewirkt diese Schädigung hauptsächlich in zweierlei Weise: einmal durch Ueberspannung ihrer Ansprüche an Schul- und häusliche Arbeitszeit, also durch Auferlegung einer quantitativ zu hoch gegriffenen Leistung, und die damit zusammenhängende Verkürzung der dem Zchulalter entsprechenden Erholungs- und Zchlafzeit; sodann durch die Auferlegung fast ununterbrochener einseitiger Kopfarbeit (Gehirnarbeit), also durch eine auch qualitativ ungeeignete Art der Leistung, bei Ausschluß oder doch ungenügender und vielfach selbst fehlerhafter Verwertung ausgleichender Muskelarbeit.

Für den speziellen Nachweis dieser schädigenden Wirkungen selbst und der Bedingungen ihres Zustandekommens fehlte es bis vor kurzem freilich ganz und gar an genauen, nach Wissenschaftlicher Methodik angestellten schulhygieinischen Untersuchungen; ein Mangel, dem aber die letzten Jahre mit den vortrefflich durchgeführten und in allen wesentlichen Punkten übereinstimmenden und sich ergänzenden Versuchen und Studien von Sikorski, Burgerstein, Laser, Hoepfner, Kraepelin, Griesbach und G. Richter aufs erfreulichste abgeholfen haben, so daß damit den früher wohl schon namentlich in ärztlichen Kreisen herrschenden Ansichten eine festbegründete wissenschaftliche Beweisunterlage gegeben worden ist. Ich kann auf die näheren Einzelheiten natürlich nicht eingehen, halte aber die Ergebnisse der eben genannten Aerzte und Schulmänner doch für wichtig genug, um sie wenigstens in ihren Hauptzügen auch weiteren Leserkreisen zur Kenntnis zu bringen.

Die dankenswerten Untersuchungen von Burgerstein, Hoepfner, Kraepelin und anderen beziehen sich vor allem auf die genaue Feststellung der durchschnittlichen Ermüdbarkeit der Schulkinder. Wie Kraepelin mit Recht hervorhebt, stellt die Schule an ihre Zöglinge tagtäglich die Forderung, ein bestimmtes Maß von Verstandesarbeit zu leisten, ohne daß wir darüber im klaren sind, ob das jugendliche Gehirn wirklich imstande ist, diese Forderung ohne [195] dauernde Schädigung zu erfüllen. „Wir schicken,“ wie Kraepelin sich ausdrückt, „das Schiff hinaus in den Dienst auf offener See ohne Probefahrt, ohne zu wissen, ob und wie lange es seetüchtig sein wird.“ Als Prüfuugsmittel für die Ermüdbarkeitbestimmung dienten nun teils Diktate, hei denen die mit der Länge der Arbeitszeit anwachsende Fehlerzahl bestimmt wurde (Sikorski, Hoepfner) – teils Additions- und Multiplikationsaufgaben von einfacher Art. Burgerstein stellte 4 Reihen solcher Aufgahen zusammen, deren jede etwa 10 Minuten Arbeitszeit beanspruchte; diese wurden, zumeist während der ersten Unterrichtsstunden, in Klassen mit 11- bis 13jährigen Schülern vorgelegt, zwischen je 2 Reihen wurde eine Pause von 5 Minuten eingeschaltet, so daß der ganze Versuch 55 Minuten dauerte. Dabei wuchs, wie sich zeigte, anscheinend die Arbeitsleistung oder genauer ausgedrückt die Arbeitsgeschwindigkeit in den einzelnen Versuchsabschnitten, wenigstens bei der größeren Hälfte der Schüler, um etwa 40%, während jedoch gegen 43% der Schüler auch bei dieser leichten und einfachen Arbeit schon ein beträchtliches Sinken der Leistung erkennen ließen. Aber selbst jener anscheinenden Steigerung der Arbeitsleistung stand ein sehr viel beträchtlicheres Anwachsen der Fehlerzahl (um 177%) und der Zahl der Verbesserungen (um 162%) und somit eine sehr hedeutende Abnahme der Güte der Leistung gegenüber. Diese „Ermüdungserscheinungen“ machten sich bereits von der zweiten Versuchsreihe an in wachsender Stärke fühlbar und konnten nur bei der Mehrzahl der Kinder durch die ebenfalls wachsende Versuchsübung, die eine größere Arbeitsmenge, aber bei herabgesetztem Werte der Arbeit, ermöglichte, äußerlich verdeckt werden. Ganz in Uebereinstimmung damit sind auch die über mehrere Schulstunden ausgedehnten Resultate von Laser (wachsende Korrekturenzahl, beständige Abnahme der fehlerfreien Rechner bis zur fünften Schulstunde), während bei den Hoepfnerschen Diktatversuchen sich ein stetiges Anwachsen der Fehlerzahl, und zwar, auf je 100 Buchstaben berechnet, von anfänglich 0,9% bis über 6,4%, herausstellte.

Das Gesamtergebnis aller dieser und vieler anderen Untersuchungen ähnlicher Art, namentlich auch der in letzter Zeit mit sehr genauen und feinen Methoden von Griesbach angestellten Empfindungsprüfungen, ist immer und immer wieder dasselbe, nämlich daß die von der Schule an die Leistungsfähigkeit besonders ihrer jüngeren Schüler gestellten Anforderungen bei weitem über das zulässige Maß hinausgehen. Es ist dabei noch besonders hervorzuheben, daß die Ergebnisse der Burgersteinschen und Hoepfnerschen Versuche unzweifelhaft noch weit ungünstiger hätten ausfallen müssen, wenn nicht Ruhepausen, wie sie sonst im Verlaufe einzelner Schulstunden gar nicht üblich sind, zwischen die Versuchsabschnitte eingeschaltet worden wären: diese Ruhepausen waren aber, wie die Endresultate lehren, viel zu kurz, um den sich immer mehr geltend machenden Einfluß der Ermüdung auch nur annähernd zu kompensieren. Selbst bei Erwachsenen genügen, wie entsprechende Versuche von Kraepelin zeigen, Pausen von 10 Minuten zwischen halbstündigen Arbeitszeiten höchstens ein- oder zweimal, um eine vollständige Erholung zu erzielen, während bei weiterer Fortsetzung des Versuches die Ermüdungswirkung auch hier nicht mehr ausgeglichen wird und die Leistungsfähigkeit somit endgültig herabgeht. Wieviel weniger läßt sich erwarten, daß unsere Schuleinrichtnngen, die durchschnittlich erst nach 50 (und an einzelnen Berliner Schulen sogar erst nach 110 Minuten!) eine kurze Unterbrechung gewähren, bei jüngeren Schulkindern zur Aufrechthaltung der Leistungsfähigkeit bei fünf und nicht selten sogar sechs aufeinanderfolgenden Unterrichtsstunden auch nur im geringsten genügen. Als natürliche Reaktion dagegen entwickelt sich die Unaufmerksamkeit, die, wie Kraepelin bemerkt, geradezu den Wert eines „Sicherheitsventils“ hat, da bei fortdauernd wach erhaltenem Interesse sich die Folgen der geistigen Ueberbürdung noch viel bedrohlicher und unabsehbarer gestalten müßten.

Noch schlimmer und bedenklicher wird übrigens die Sache ohnehin durch den an sehr vielen Orten (besonders in Berlin) wenigstens für die Hälfte der Wochentage beibehaltenen und zum Teil in höchst unzweckmäßiger Weise geordneten Nachmittagsunterricht. Griesbach konnte bei seinen in elsässer Schulanstalten vorgenommenen zahlreichen Empfindungsmessungen, deren schon oben gedacht wurde, den direkten Beweis liefern, daß nach dem Morgenunterrieht das normale Empfindungsvermögen, und damit geistige Erholung, um zwei Uhr nachmittags noch nicht zurückgekehrt ist. Wenn unter diesen Umständen das noch müde Gehirn aufs neue in Anspruch genommen wird, so kann dies, wie Griesbach mit Recht hervorhebt, auf die Dauer zu ernstlichen Schädigungen der Gesundheit führen. Es ist daher, wenn schon durchaus Nachmittagsunterricht sein muß (was ich übrigens bestreite), bei dessen Ansetzung mit größter Vorsicht zu verfahren: statt um 2 Uhr dürfte unter allen Umständen, wie auch G. Richter befürwortet, nicht vor 3 Uhr zu beginnen sein, wodurch freilich die Tagesordnung an den kurzen Wintertagen zumal noeh mehr zerrissen und noch uneinheitlicher gestaltet wird. Auch so haftet dem Nachmittagsunterricht der Vorwurf an, daß bei seinem Hinzukommen, wie Griesbach bemerkt, eine dreimalige tägliche Beanspruchung des Gehirns durch die Schule bedingt wird (zum drittenmal dann, wenn die Kinder sich an ihre oft recht zeitraubenden häuslichen Zchularbeiten begeben). Der Nachmittagsunterricht hat überdies noch so viele anderweitige Nachteile, er bewirkt, namentlich in Großstädten bei den weiten Entfernungen, eine solche Zeitvergeudung und mangelhafte Kontrolle der Schulkinder, solche Störungen des gemeinsamen Familienlebens, Undurchführbarkeit einer einheitlichen und gemeinsamen Tischzeit, und im Zusammenhange damit auch unregelmäßige Lebensweise und Ernährnng der Kinder: er ist zu alledem so unersprießlich und bei einigermaßen rationeller Anordnung des Stundenplans so vollkommen entbehrlich, daß seine fortgesetzte Beibehaltung nachgerade als ein schreiender und nicht zu duldender Anachronismus aufgefaßt werden muß. Die erste, dringendste schulhygieinische Forderung, von der unter keinen Umständen abgegangen werden sollte und die von der öffentlichen Meinung unter Anwendung der kräftigsten Mittel nötigenfalls zu erzwingen wäre, sollte „Fort mit dem Nachmittagsunterricht!“ lauten. Wenn der Wochenlehrplan infolgedessen um 2 oder 3 Stunden hier und da verkürzt werden müßte – um so besser; es dürfte aber kaum nötig sein, da man an so vielen Orten mit 26 bis 30 wissenschaftlichen Lehrstunden in den Unter- und Mittelklassen der Gymnasien, also mit 4 bis 5 Unterrichtsstunden täglich vollständig auskommt.

Eine zweite, wie sich unmittelbar aus dem Vorausgehenden ergiebt, ganz unabweisbare Forderung ist die nach einer Verkürzung der einzelnen Unterrichtsstunden, oder, was damit zusammenfällt, nach einer Verlängerung – und zwar einer im Laufe des Vormittagsunterrichtes stetig fortschreitenden Verlängerung – der Unterrichtspausen. Auch damit ist es bei uns sehr ungleich, aber fast allenthalben recht mangelhaft bestellt; während im Durchschnitt je zwei aufeinanderfolgende Unterrichtsstunden durch Pausen von 15 Minuten getrennt sind (was zusammen 40 Minuten Pause auf eine fünfstündige Arbeitszeit ergiebt), kenne ich auch Schulen, bei denen nur auf jede zweite Unterrichtsstunde eine Erholungspause, die erste von 10, die zweite von 15 Minuten, folgt; im ganzen also nur 25 Minuten bei 5 Stunden Unterricht! Und auch diese so völlig unzureichenden Pausen werden hier und da noch willkürlich verkürzt, lassen sich übrigens bei der räumlichen Unzulänglichkeit mancher Schulgebäude nicht einmal immer in einer für Erholungszwecke angemessenen Weise verwerten. Wie es sein müßte, geht aus den oben mitgeteilten Untersuchungen ohne weiteres hervor; allenfalls würde man sich mit der von dem schon obengenannten praktischen Schulmanne, Gymnasialdirektor G. Richter in Jena, vorgeschlagenen Zeiteinteilung befreunden können, wobei nach der ersten Stunde 10, nach der zweiten 15, nach der dritten 20 und nach der vierten (wenn der Hinzutritt einer fünften Vormittagsstunde unvermeidlich) 30 Minuten Pause stattzufinden hätten, die betreffenden Stunden natürlich dementsprechend verkürzt würden.

Es ist in diesem Zusammenhange bisher absichtlich noch nicht vom Turnunterricht die Rede gewesen, in dem so manche naiverweise das Heil- und Ausgleichsmittel für alle in der geistigen Ueberbürdung beruhenden Schulschäden erblicken, und von dem auf Grund solcher Vorstellungen neuerdings oft eine ganz falsche und verkehrte – man kann geradezu sagen, mißbräuchliche – Anwendung gemacht wird. Man hat insbesondere vielfach gemeint, durch Einschaltung körperlicher Uebungen, sei es am Beginne oder im Verlaufe oder auch gegen Ende des Vormittagsunterrichts, durch diesen „angemessenen Wechsel“ von geistiger Thätigkeit und Muskelarbeit den Folgen der Ueberbürdung auf geistigem Gebiet vorzubeugen oder zu begegnen. Aber dies ist leider ein bei Laien verzeihlicher, jedoch darum nicht minder verderblicher physiologischer Irrtum, den [196] neuere Untersuchungen – besonders des ausgezeichneten Turiner Physiologen Mosso – auch mit Sicherheit als solchen erwiesen haben. Körperliche Anstrengungen sind in keiner Weise als zweckmäßige Vorbereitung für geistige Arbeit, noch weniger als zweckentsprechende Erholung im Verlaufe der letzteren zu betrachten. Sie steigern und vergrößern vielmehr bei vorausgegangener Gehirnarbeit nur noch die Ermüdung, indem sie dem Ergebnisse der Gehirnanstrengung noch das der Muskelanstrengung hinzufügen; anderseits sind auch die Muskeln nach vorausgegangener Geistesarbeit weniger leistungsfähig, so daß die Turnübungen selbst unter solchen Umständen mangelhafter ausfallen. Ganz verkehrt ist es daher (wie ich es in einem Lehrplan gefunden habe), eine Turnstunde an den Schluß eines sechsstündigen Vormittagsunterrichts zu setzen; kaum minder verkehrt aber, den Unterricht mit einer Turnstunde zu beginnen, oder die Zwischenpausen (wie ich es auch gesehen habe) durch anstrengende Uebungen, Springen, Stabwerfen und dergleichen auszufüllen. „Erholend“ wirken – dies ist eine beherzigenswerte, durch Kraepelin neuerdings wieder eingeschärfte physiologische Thatsache – bei geistiger Ermüdung nicht körperliche Anstrengung, sondern Ruhe und Nahrungsaufnahme; es gehört daher zu den ersten und wesentlichen Anforderungen der Schulhygieine (wodurch sie aber freilich wieder mit unseren üblichen Lehrplänen in unvermeidliche Kollisionen gerät), behufs dauernder Erhaltung der Arbeitskraft und Gesundheit die dem jugendlichen Alter entsprechende Befriedigung des Schlaf- wie des Nahrungsbedürfnisses in ausreichendem Maße zu sichern.

Noch ein langes, überlanges Wunschverzeichnis ließe sich hier anknüpfen; doch was frommt uns der schönste weihnachtliche Wunschzettel, wenn kein Weihnachtsengel herabsteigen will, ihn zu verwirklichen! Zudem: will man der „Schulnervosität“ gründlich zu Leibe gehen, will man ihre Quellen und Zuflüsse ernstlich abschneiden, so muß man weit über den Rahmen derartiger, so dringender wie sachlich berechtigter Einzelfordernngen hinausgehen und zu einer durchgreifenden Veränderung des Systems und der Methodik unseres gesamten Schulunterrichts schreiten, wie es ja einsichtsvolle Pädagogen und Aerzte schon seit langer, langer Zeit, leider immer und immer wieder vergeblich, angestrebt haben! Man muß, wie erst neuerdings wieder besonders Kraepelin in vortrefflicher Weise dargelegt hat, vor allem mit der vielfach noch rein mechanischen Aneignung des Lehrstoffs brechen, die zu dessen geistiger Erfassung und Verarbeitung so garnichts beiträgt, vielmehr ein schwer zu bewältigendes Hindernis bildet – und die sich, wie vielfache Erfahrungen bestätigen, heutzutage wieder auf den verschiedensten Unterrichtsgebieten, nicht nur bei den Sprachen, sondern auch in Religion und Naturwissenschaften, in Geographie und Geschichte, ja sogar in der Mathematik höchst bedenklich ausbreitet. Was – um nur ein vor kurzem selbsterlebtes Beispiel anzuführen – was soll es frommen, von Schülern der Unterstufe die ganze Bergpredigt auswendig lernen und aufsagen zu lassen, ohne ihnen für das Verständnis dieser schönsten und tiefsinnigsten christlichen Offenbarung den Schlüssel zu bieten? Auf sachliches Beherrschen des Stoffes, auf Reife des Urteils, nicht auf toten Gedächtniskram sollte überall das Ziel gehen – womit dann die so wünschenswerte Abkürzung der Unterrichtszeit schon von selbst und notwendig gegeben sein würde! Noch mehr würde die Erreichung dieses Zieles gefördert werden durch die von Kraepelin dringend befürwortete Trennung der Schüler nach ihrer Arbeitsfähigkeit, nach dem Grade ihrer individuellen Ermüdbarkeit, womit wir wieder an die oben andeutungsweise geschilderten Untersuchungen anknüpfen.

Es sind das ja scheinbar weitgehende Forderungen, deren innere Berechtigung aber doch auch von einsichtsvollen Schulmännern, wie G. Richter, mehr und mehr gewürdigt und anerkannt wird; nur daß sie eben zu ihrer Erfüllung einstweilen noch keinen gangbaren Weg wissen. Es muß aber ein solcher Weg endlich doch gefunden und, wenn gefunden, mit der Energie, die unsern Reformern auf andern Gebieten in den glücklichsten Stunden unserer Geschichte noch niemals versagte, ergriffen und durchgeführt werden! Anläufe sind ja hier und da gemacht – freilich nach der Art unserer Zeit, teils schwächliche teils verfehlte; zumal die Schulkonferenz von 1891 mit dem von ihr eingeführten Zwischenexamen war, nach jetzt wohl ziemlich allgemein feststehendem Urteil, ein solcher verunglückter Anlauf. Suchen wir es also besser und gründlicher zu machen! – und wenden wir uns für das, was not thut, nicht an diese und jene zufällig von der Gunst der Mächtigen getragenen „Autoritäten“, sondern an die Gesamtheit, an die öffentliche Meinung, die mit ihrer tausendköpfigen Vertreterin, der Presse, doch heutzutage eine recht respektable, bei einmütigem Zusammenwirken auf die Dauer fast unwiderstehliche Macht bildet. Wenden wir uns auch vor allem, weit mehr als es bisher geschehen ist, an die Lehrerschaft selbst, der wir mit Recht sagen können „tua res agitur“ – „es ist Deine Sache, um die es sich handelt“ –, da in deren wohlverstandenem Interesse jede volle und durchgreifende Schulreform liegt. Denn alle Uebelstände, die die Schüler treffen, wirken mit fast gleicher Schwere auch auf sie, wenn auch davon aus natürlichen Gründen weniger die Rede zu sein pflegt – und von einer „Schulnervosität“ kann bereits nicht bloß bei den Schülern, sondern auch bei den Lehrern gesprochen werden, von denen (ich rede hier wiederum auf Grund vielfacher eigener Erfahrung) unter den jetzigen Zuständen ein nicht geringer Teil in frühzeitiger Erschöpfung der Arbeitskraft, der Leistungsfähigkeit, und leider auch der inneren Berufsfreudigkeit, körperlich und geistig dahinsiecht.

Große Interessen stehen hier auf dem Spiel; nicht bloß um die Kinder als Einzelmenschen handelt es sich (was auch schon genug wäre), sondern um die Jugend als Ganzes, um die lebenskräftig und lebensfreudig zu erhaltende Zukunft des Volkes; und so dürfen wir an die Wächter und Hüter des Volkswohles mit besonderer Berechtigung den uns von den Schulbänken her geläufigen Mahnruf ergehen lassen: „Videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat“ – „Achtung, ihr Konsuln, daß der Staat keinen Schaden leidet!“




  1. „Nervenfeinde in Schule und Haus.“ Vortrag im Verein „Frauenwohl“ in Berlin am 13. Mai 1890.