Traunstein
- [61] TRAUNSTEIN
- Mai 1918
- „Ich leide für mein Volk." Wie groß das klingt!
- „Ich leide, weil ich für die Wahrheit zeugte."
- „Ich leide, weil ich nicht den Nacken beugte."
- „Ich leide, weil in mir die Sehnsucht schwingt."
- 5Ich leide? – Trink ich nicht den reinen Duft
- der Waldesgründe und der bunten Wiesen?
- Strömt von der strengen Stirn der Bergesriesen
- nicht zu mir nieder freie Gottesluft?
- Und sind nicht, die mir Kampfgefährten waren,
- 10auf Jahr und Tag in Kerkernot gebannt,
- in tausendfache Qualen eingespannt,
- von denen ich die kleinsten nicht erfahren?...
- Durch einen dumpfen Schacht dringt fahle Helle
- zu ihnen als des Lebens einziger Gruß.
- 15Beim sechsten Schritt gehemmt durcheilt ihr Fuß
- unruhig drängend die versperrte Zelle.
- Und während sie die Kerkerwand umschließt
- und sie um Nachricht von den Menschen bangen,
- seh ich und hör ich, bin ich gleich gefangen,
- 20und freu mich, wie ringsum der Frühling sprießt. –
- Ist das schon Leiden, daß mich Fäuste griffen,
- und daß mich feindliche Gewalt belauert?
- Wer um ein paar Bequemlichkeiten trauert,
- dem hat die Not der Zeit nichts abgeschliffen.
- 25Und doch: ich leide und bekenne Leiden,
- weil Menschen im Gefolg von Trug und Lügen
- [62] uns andern trachten Drangsal zuzufügen
- und unserm Ruf das Stimmband zu durchschneiden.
- Ich leide, weil das Volk, getäuscht, verblendet
- 30Unrecht geschehn läßt, Unrecht trägt und tut,
- und weil es in den Sumpf von Qual und Blut
- tyrannenfürchtig seine Männer sendet.
- Ich leide, weil aus Feigheit und aus Schande
- das Volk sich Kränze feilen Ruhmes flicht.
- 35Ich leide, weil das Herz der Besten bricht,
- die Treue hielten ihrem Volk und Lande...
- So darf ich leiden. Denn auch ich hielt Treue
- und ward dafür geschmäht, bespien, verbannt.
- Doch in die Seele glühend eingebrannt
- 40lebt mir der Glaube an das starke Neue.
- Das Leid verklärt sich mir zum frommen Schauer.
- Gruß, Freunden euch im Kerker! Nicht verzagt!
- Trug sinkt in Nacht. Und wenn der Morgen tagt,
- gehn wir ans Werk – der Freiheit die Erbauer.