Textdaten
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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Thomas Carlyle
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aus: Die Gartenlaube, Heft 17, S. 276–279
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Nachruf auf Thomas Carlyle
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Thomas Carlyle.

Von Rudolf von Gottschall.

Ein deutsches Volksblatt hat nicht die Pflicht, aller ausländischen Größen zu gedenken, wohl aber derjenigen, welche deutschem Geist und deutschem Wesen mit Begeisterung gehuldigt und zur Anerkennung desselben bei fremden Nationen beigetragen haben. Ein solcher Vermittler der deutschen Literatur mit der englischen, ein solcher begeisterter Verehrer unserer großen Denker und Dichter ist der jüngst verstorbene Schotte Thomas Carlyle, zugleich einer der orginellsten Schriftsteller des neuen England, ein Selbstdenker von großer Unabhängigkeit und Kühnheit, ein Historiker von dem glänzendsten Colorit, ein Autor, der von Einigen als ungenießbar und als phantastischer Wirrkopf verschrieen, von Anderen gepriesen wird als einer der genialsten Anwälte des Idealismus in einem, wie er selbst sagt, „mechanischen“ Zeitalter.

Thomas Carlyle war am 4. Dec. 1795 in Ecclefechan, im Süden Schottlands, geboren, als Sohn eines Farmers, eines Mannes von Verstand und Witz. Zuerst besuchte er die Dorfschule, dann das Gymnasium zu Annan; seine Lehrer waren Pedanten; so schildert er sie in seinem „Sartor resartus“, einem Werk, in welches so Vieles über seine Jugendjahre und seine eigene geistige Entwickelung hineingeheimnißt ist. Auch die Professoren der Universität Edinburgh, die er 1809 bezog, waren von demselben Schlage. Carlyle sollte Theologie studiren; doch seine Neigung zog ihn zur Mathematik, zu Sprach- und Literaturstudien, und auf der Bibliothek war er bald besser zu Hause, als ihre Pfleger. Lange schwankte er in der Wahl seines Berufs; eine Zeit lang, im Jahre 1814, war er Gymnasiallehrer der Mathematik in Annan, dann in Kirkaldy am nördlichen Ufer des Firth of Forth. Innerlich machte er religiöse Kämpfe durch und konnte sich zuletzt nicht für die theologische Laufbahn entscheiden, obschon die Sittenstrenge und der Ernst des schottischen Puritanismus für ihn viel Anziehendes hatte und auch seinem Naturell keineswegs fremdartig war. Wir finden ihn dann als Privatlehrer in Edinburgh; mit Stunden und Uebersetzungen verdiente er sich seinen Lebensunterhalt.

Unentschlossen über den zu wählenden Beruf, lebte Carlyle dann wieder in der ländlichen Stille seines Geburtsortes. Ein weitgereister Freund, der in Deutschland gewesen war, weihte ihn in die deutsche Sprache ein: das wurde entscheidend für seine nächste literarische Thätigkeit. Mit wahrem Feuereifer gab er sich

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T. Carlyle
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

jetzt dem Studium der deutschen Literatur hin. Ein Exemplar von Schiller’s Werken ließ er sich von einem schottischen Schiffsherrn besorgen; Goethe’s „Wilhelm Meister“ fand er auf der Edinburgher Universitätsbibliothek. Dieses, als das Evangelium harmonischer Lebensbildung, machte einen großen Eindruck auf ihn; immer mehr reifte in ihm der Plan, sich dem literarischen Beruf zu widmen, den er stets im höchsten priesterlichen Sinne auffaßte. In Edinburgh, wo eine so angesehene Zeitschrift wie die „Edinburgh Review“ erschien, wo sich um den gefeierten Walter Scott viele jüngere Dichter sammelten, fehlte es nicht an den lebendigsten Anregungen. Carlyle trat mit Abhandlungen über französische Schriftsteller, über Montesquieu und andere, ja mit mathematischen Essays auf; dann aber, und fast ein Jahrzehnt hindurch, war er in Artikeln, in selbsständigen Werken, in Uebersetzungen und Sammlungen unermüdlich thätig für die Propaganda der deutschen Dichtung in England: eine Thätigkeit, die für seine Weltanschauung und sein Schaffen von durchgreifender Bedeutung werden sollte.

Im Jahre 1824 erschien zuerst seine Uebersetzung von Goethe’s „Wilhelm Meister“, dann sein „Leben Schiller’s“: so begann er mit einer Huldigung für unsere beiden dichterischen Dioskuren. Die Uebersetzung war ebenso vortrefflich wie die Biographie, obschon beide damals nicht nach Verdienst anerkannt wurden, da die englische Kritik von deutscher Dichtung noch eine geringschätzige Meinung hegte; erst Carlyle und die Nachstrebenden brachen einem gerechteren Urtheil, der Begeisterung und Bewunderung des jüngeren Geschlechtes die Bahn. Noch lebte damals der hochbejahrte Olympier in Weimar und freute sich, wenn das Gewölk, das ihn umgab, auch für die anderen Nationen [278] immer durchsichtiger wurde. Die Weltliteratur erschien unserm Goethe als die Losung der Zukunft; er ermuthigte alle, die sich dem „freien geistigen Handelsverkehr zwischen den Nationen“ widmeten, so auch den jungen Schotten, zu dessen „Leben Schiller’s“ er ein Vorwort schrieb; er erwähnte, daß diese Biographie uns kaum etwas Neues bringen könne. „Was aber den Verehrern Schiller’s,“ schrieb er, „und einem jeden Deutschen, wie man kühnlich sagen darf, höchst erfreulich sein muß, ist, unmittelbar zu erfahren, wie ein zartfühlender, strebsamer, umsichtiger Mann über dem Meere in seinen besten Jahren, durch Schiller’s Productionen berührt, bewegt, erregt und nun zum weiteren Studium der Literatur angetrieben worden. Mir wenigstens war es rührend zu sehen, wie dieser rein und ruhig denkende Fremde selbst in jenen ersten, oft harten, fast rohen Productionen unseres verewigten Freundes immer den edeln, wohldenkenden, wohlwollenden Mann gewahr ward und sich ein Ideal des vortrefflichsten Sterblichen an ihm auferbauen konnte.“

Doch so groß Carlyle’s durch literarische Thaten bewiesene Verehrung für Goethe und Schiller war, so haben doch gerade diese Dichter keinen Einfluß auf seine Darstellungsweise ausgeübt, am wenigsten Goethe’s klarer, durchsichtiger Stil und die von seinem Geschmack geregelte Harmonie seiner Schöpfungen; es war ein anderer deutscher Schriftsteller, der mit seiner scharf ausgeprägten Eigenart, die im Grunde jede Nachahmung ausschließt, den verwandten Geist Carlyle’s ganz in seinem Bann hielt und den Stil desselben ein gleichartiges Gepräge aufdrückte; es war Jean Paul Friedrich Richter, welchen Carlyle nicht minder bewunderte, als Goethe und Schiller. „Jean Paul’s Fähigkeiten,“ sagte er, „sind alle von gigantischer Form, massenhaft, schwerfällig in ihrer Bewegung, mehr groß und glänzend, als harmonisch und schön, aber dennoch zu lebendiger Einheit verbunden und alles an allem von außerordentlichem Umfang und seltener Kraft. Er hat einen unbändigen, schroffen, unwiderstehlichen Verstand, der die härtesten Probleme in Stücke schlägt, in die verborgensten Combinationen der Dinge eindringt; eine vage, düstere, glänzende oder erschreckende Einbildungskraft, welche über den Abgründen des Daseins brütet, die Unendlichkeit durchschweift und in ihrem verschwimmenden religiösen Lichte glänzende, feierliche oder schreckliche Gestalten heraufbeschwört; eine Phantasie von beispielloser Fruchtbarkeit, die ihre Schätze mit einer Verschwendung ausstreut, welche keine Grenze kent; aber tiefer als alle diese liegt der Humor, seine herrschende Fähigkeit, gleichsam als Centralfeuer, das sein ganzes Wesen durchdringt und belebt. Er ist Humorist in seiner innersten Seele, denkt, fühlt, dichtet und handelt als Humorist.“

Wir könnnen dieses glänzende Lob Jean Paul’s nicht ohne Wehmuth lesen: ist doch dieser bedeutende Dichter für die jetzige Generation fast zu einem noli me tangere geworden. Fülle von Geist und Phantasie gilt ja heutzutage als ein erschwerender Umstand, der die Popularität eines Schriftstellers hemmte zu den Lieblingen der Mode gehören Schriftsteller, die „ihre Armuth zu Rathe halten“ und deren Sauberkeit nur durch ihre Seichtigkeit übertroffen wird. Unser Jean Paul wurde indeß für Carlyle nach einer Seite hin verhängnißvoll; er wandte die geniale springende Manier dieses Autors auch in seinen wissenschaftlichen Werken an, diese Darstellungsart, die er selbst in Wahrheit eine wilde verwickelte „Arabeske“ nennt; er wurde ein jeanpaulisirender Historiker, und dies that der ruhigen Haltung und geschmackvollen Fassung seiner Geschichtswerke nicht unwesentlichen Eintrag.

Auch von Jean Paul übersetzte Carlyle Mehreres in der vierbändigen Sammlung: „German Romance (1827)“, in welcher er neben Goethe auch Tieck, Amadeus Hoffmann, Mussäus und andere romantische Schriftsteller Deutschlands in’s Englische übersetzte.

Ueber diese Sammlung finden sich bei Goethe ebenfalls anerkennende Aufzeichnungen; er rühmt die jedem Autor vorgesetzten Notizen, die Sorgfalt, mit welcher die Lebenszustände eines jeden, sowie sein individueller Charakter und die Einwirkung desselben auf die Schriften dargestellt sind; er rühmt die ruhige, klare, innige Theilnahme Carlyle’s an dem deutschen poetisch-literarischen Beginnen, an dem eigentümlichen Bestreben der Nation. Mit Goethe unterhielt Carlyle einen Briefwechsel, dem wir einige interessante Mittheilungen über sein Leben verdanken. Er hatte sich im Jahre 1827 mit Miß Welsh, der Tochter des Dr. Welsh, verheirathet und in ihr eine hochgebildete und treue Lebensgefährtin gewonnen. Welsh, ein vermögender Arzt, machte den Neuvermählten ein Landgütchen, Craigenputtock, zum Geschenk, und hier wohnten sie mehrere Jahre, bis zur Uebersiedelung nach London 1832. Ueber diese schottische Idylle schreibt Carlyle an Goethe:

„Unser Wohnort liegt fünfzehn Meilen von Dumfries entfernt, zwischen den Granitgebirgen und den schwarzen Moorgefilden, welche sich westwärts durch Galloway meist bis an die Irische See ziehen. In dieser Wüste von Haiden und Felsen stellt unser Besitzthum eine grüne Oase vor, einen Raum von geackertem, theilweise umzäuntem und geschmücktem Boden, wo Korn reift und Bäume Schatten gewähren, obgleich ringsum von Seemöven und hartwolligen Schafen umgeben. Hier, mit nicht geringer Anstrengung, haben wir uns eine reine, dauerhafte Wohnung erbaut und eingerichtet; hier wohnen wir, in Ermangelung einer Lehr- oder andern öffentlichen Stelle, um uns der Literatur zu befleißigen, nach eigenen Kräften uns damit zu beschäftigen. Wir wünschen, daß unsere Rosen- und Gartenbüsche fröhlich heranwachsen, hoffen Gesundheit und eine friedliche Gemüthsstimmung um uns zu fördern. Die Rosen sind freilich zum Theil noch zu pflanzen, aber sie blühen doch schon in Hoffnung.“

Mit der Uebersiedelung Carlyle’s nach London beginnt eine neue Epoche in seinem literarischen Schaffen: die Zeit der geistigen Vermittelung zwischen den Nationen lag hinter ihm; auch die literarische Kritik trat in den Hintergrund; er lenkte jetzt als Denker und Geschichtsschreiber die Aufmerksamkeit auf sich.

Das Werk, das er schon als Manuscript nach London mitbrachte, „Sartor resartus“ ist eine seiner barocksten, aber auch genialsten Schöpfungen und trägt ganz die Signatur des Jean Paul’schen Genius: eine theils sprungweise, theils in einander geschachtelte Darstellung, barocke Namengebung, sonderbares humoristisches Detail, gemischt mit einer Fülle glänzender und großartiger Ideen. An der Universität Weißnichtwo lebt der Gelehrte Diogenes Teufelsdröckh als Professor der Dinge im Allgemeinen; er hat ein Werk herausgegeben unter dem Titel „Die Kleider, ihr Werden und Wirken“. In die Biographie dieses Professors hat Carlyle zahlreiche Confessions aus seinem eigenen Leben verwebt. Die Philosophie der Kleider selbst hat eine tiefsinnige Grundlage; denn die ganze Erscheinungswelt ist dem Philosophen nur ein irdisches Gewand der ewigen Ideen; von unserer Gegenwart aber behauptet er, daß sie sich in veralteten Zeitgewändern der Kirche, des Staates und der Gesellschaft umherschleppe. Den ganzen Garderobewechsel der Weltgeschichte vom Feigenblatte des Paradieses bis zum Modecostüm der neuesten Dandies beleuchtet er mit glänzendem humoristischen Lichtern oder läßt darauf die Schlagschatten der Satire fallen.

Dieses Werk war der einzige Trumpf den sein selbstgenügsamer Humor ausspielte; in seinen übrigen Schriften und Vorträgen giebt der Humor nur die Arabesken her für idealen Gedankenflug oder historische Darstellung; in der That haben wir Carlyle nach diesen beiden Seiten als Philosophen und Historiker in’s Auge zu fassen, obwohl er weder den landesüblichen Begriff des einen noch denn des andern deckt. Die systematische Beweisführung des Fachphilosophen war ihm so fremd, wie die objective Darstellung des Geschichtsschreibers; er war ein genialer Kopf, der an die Gedankenwelt wie in die Welt der Thatsachen mit einer ganz aparten Diogenes-Laterne hineinleuchtete.

Kein größerer Gegensatz als zwischen ihm und seinen Freunde John Stuart Mill! Und doch hatten Beide, der schwärmerische Idealist mit seinen phantasievollen Illusionen, und der unerbittliche Logiker mit der Klarheit und Correctheit eines wohlgeschulten Denkers, einen gemeinsamen Zug: sie hatten Beide kühne Reformgedanken gegenüber den bestehenden Zuständen.

Thomas Carlyle hat mehr die Miene des Propheten, als die des Philosophen, und der puritanische Strafprediger löst oft den Denker ab. Den englischen Zuständen gegenüber ist er von einem so schwarzsehenden Pessimismus, daß ihm die „satanische Schule“ darum beneiden könnte, doch bei ihm ist die triumphirende Skepsis nicht Selbstzweck, nicht Zweifel und Verzweiflung am Leben das letzte Worte: ein Idealismus von seltener Leuchtkraft, der alle Labyrinthe des Lebens zu erhellen vermag, wohnt in seiner Brust. In seiner Schrift über den Chartismus schildert er das Elend und die Armuth großer Classen der englischen Bevölkerung mit den düstersten Farben; in „Past and Present“ (1843) stellt er die tüchtige Arbeit alter Zeit der schwankenden Haltlosigkeit und Windbeutelei der Gegenwart entgegen und verherrlicht mit schwunghaftem Pathos das Evangelium der Arbeit.

[279] In den „latter day pamphlets“ (1857) sitzt er, wie schon der Titel der Schrift andeutet, mit weltrichterlicher Wage zu Gericht über den Dingen dieser Welt, geißelt die heutige Staatskunst als verworrene Routine, das ganze Gewebe von halben Wahrheiten und ganzen Lügen in Staat und Religion, den Moloch des öffentlichen Redens, die Nutzlosigkeit des Parlamentarismus; er verdammt die Scheinhelden der neuen Zeit, die Eisenbahnkönige wie Hudson, sieht den Jesuitismus, allgemeine Entartung, Falschheit und Heuchelei auch auf dem Gebiete der Kunst hereinbrechen, kurz, er giebt ein Rembrandt’sches Gemälde der Gegenwart.

Doch nicht blos als Schriftsteller, auch als Vorleser trat Carlyle in London auf, ohne indeß wie Thackeray ein besonderes Gewerbe aus solchen Vorträgen zu machen. Wenn seine hohe Gestalt auf der Tribüne erschien, sein volles und weiches Organ ertönte, befanden sich die Hörer sogleich im Banne seiner ernsten und bedeutenden Persönlichkeit; obschon er sich Notizen zu machen pflegte, sprach er doch frei und mit jener hinreißenden Wärme, die auch seiner Unterredung im Privatverkehr einen so seltenen Reiz verlieh. Von diesen Vorlesungen machten den größten Eindruck diejenigen über „Heldenverehrung“ (hero-worship, 1840). In den Heroen sah Carlyle die Vertreter der ewigen Vernunft in der Menschheit; er fand sie unter den Propheten und Dichtern, unter den Priestern, Schriftstellern und Königen; er proclamirte den Cultus des Genies und zwar in einer Zeit, der es an großen Männern fehlte und deren Strömung nach der entgegengesetzten Richtung ging, nach der Verherrlichung der Masse. Damals stieß dieser Cultus auf den lebhaftesten Widerspruch: man glaubte nicht mehr an das Genie des Einzelnen als an eine bewegende Macht der Geschichte. Seitdem haben sich die Zeiten geändert: der Cäsarismus, zunächst als Selbstcultus der Napoleone, wurde eine Thatsache, dann eine Sache der Mode. Seit den letzten Kriegen steht der Heroencultus wieder in vollster Blüthe, und im Fürsten Bismarck sieht die Welt, vor Allem das deutsche Reich, den Heros als „Staatsmann“, wie ein Carlyle es ausdrücken würde.

Wir sind weit davon entfernt, die geschichtlichen Werke Carlyle’s als Muster der Geschichtschreibung anzusehen; gleichwohl sind sie in ihrem Streben nach lebendiger Anschaulichkeit ein sehr bemerkenswerthes Ferment derselben; denn die Historiker, besonders die deutschen, beschäftigen sich mehr damit, die geschichtliche Uhr gleichsam auseinander zu nehmen, um das feinste Räderwerk der Motive zu studiren, als uns ihren lebendigen Gang vorzuführen: sie legen größeren Werth auf die Macht und den Zwang der Verhältnisse, als auf die Eigenart der Charaktere und ihren bestimmenden Einfluß. Bei Carlyle ruht gerade darauf der Nachdruck; wir sehen die Persönlichkeiten, die Ereignisse vor uns, ein bewegtes, oft wildes und stürmisches Leben, das sich auch in der stilistischen Darstellung spiegelt, versetzt uns ganz in die Atmosphäre der geschilderten Zeit. Dies gilt namentlich von seiner „Geschichte der französischen Revolution“ (3 Bände, 1837), welche bei ihrem Erscheinen durch die seltene Farbenpracht der Darstellung, durch glühende Schilderung, frappante Charakteristik, durch überraschenden Tiefblick in Bezug auf die Motive der Ereignisse und ihren inneren Zusammenhang, sowie durch rückhaltlosen Freimuth großes Aufsehen erregte. In der That ist sie wohl Carlyle’s bestes Geschichtswerk, und ihre Vorzüge sind so groß, daß man darüber das Buntscheckige und Tumultuarische der Darstellung wohl übersehen darf; ja selbst ihre Einseitigkeit war ein wirksamer Gegenschlag gegen die Farblosigkeit der Darstellung, in welcher deutsche Geschichtschreibung eine gewisse gelehrte Würde suchte. Der Standpunkt Carlyle’s ist nicht der eines feinspürigen Geschichtsforschers, der die diplomatischen Verwickelungen auseinander zu wirren sucht; es ist der eines Denkers, der die Revolution als eine blutige, aber segensreiche Krisis betrachtet, welche mit Naturgewalt die unhaltbar gewordenen Verhältnisse zertrümmert. Gerade das Elementarische in ihr weiß er nachzufühlen und schwunghaft darzustellen.

Im Jahre 1847 gab Carlyle die „Briefe und Reden Oliver Cromwell’s“ heraus (4 Bände), aber diese sorgfältig gesammelten Actenstücke waren in eine glänzende Zeit- und Charakterschilderung verwebt, die in ihrem eigenthümlichen biblischen Colorit eine treue Localfarbe für jene Epoche hatte. Denn Puritanerthum war Carlyle geistesverwandt; es war auch in ihm etwas von dem predigerhaften Feuereifer der Rundhüte.

Zu seinem letzten großen Geschichtswerke über Friedrich den Großen machte Carlyle die umfassendsten Vorstudien: zweimal reiste er nach Deutschland, besuchte Berlin und die Schlachtfelder des siebenjährigen Krieges. Auf sein Haus in Chelsea ließ er ein Stockwerk aufsetzen mit einem großen Saal, der zugleich Bibliothek- und Arbeitszimmer war: die Bibliothek bestand nur aus Schriften über Friedrich den Großen. So schien Carlyle selbst Aehnlichkeit zu haben mit einer seiner typischen Figuren, dem Dryasduft, dem im Staub der Actenstücke und im Tabaksqualm vergrabenen Gelehrten, dem geistlosen Sammler. Und in der That, so wenig es dieser Biographie (6 Bände, 1858 bis 1865) an großen Perspectiven, an glänzenden Schilderungen von Charakteren, Sitten und Schlachten fehlte, so hatte doch hier die arabeskenhafte Mosaik der Carlyle’schen Darstellung ihren Höhepunkt erreicht und die Notizenfülle des Sammlers war dem Geschichtsschreiber verhängnißvoll geworden. Auch war die Beleuchtung nicht eine gleichmäßige; so ließ seine Vorliebe für Sittenstrenge auch auf den preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm den Ersten ein allzuglänzendes Licht fallen. In seinem jeanpaulisirenden Stil als humorisischer Geschichtsschreiber steht Carlyle in der That einzig da.

Aus seinem Leben sind noch zwei verschiedenartige Auszeichnungen zu berichten, die dem greisen Gelehrten zu Theil wurden. Die Edinburgher Studentenschaft, die alljährlich ihren Lord-Rector wählt, dachte ihrem Landsmann für das Jahr 1865 bis 1866 diese Würde zu; er wurde mit einer Mehrheit gewählt, die ihm den Sieg über seinen Rivalen Disraeli verschaffte. Glänzend war der Empfang, der ihm in Edinburgh zu Theil wurde; in der überfüllten Musikhalle hielt er seine Antrittsrede; er setzte in gedrängter Form den Kern seiner Weltanschauung auseinander. Das junge Schottland jubelte dem gefeierten Landsmann zu.

Die zweite Auszeichnung war der Orden pour le mérite, welchen der deutsche Kaiser und das Ordenscapitel dem greisen Gelehrten, dem Geschichtsschreiber Friedrich’s des Großen verliehen. Doch nicht dieses Werk allein hatte den Anlaß zu solcher Verleihung gegeben: während des deutsch-französischen Krieges hatte Carlyle in zahlreichen Artikeln auf das Lebhafteste die Partei der Deutschen ergriffen, während die öffentliche Meinung in England unentschieden hin und her schwankte, ja sich bei mehreren Wendepunkten des Krieges zu Gunsten des westmächtlichen Alliirten erklärte.

So hat der alte Carlyle die Sympathien, die der junge dem Genius Deutschlands schenkte, treu bewahrt. Sein Tod, der am 5. Februar in Folge eines Fiebers in London erfolgte, mag die Deutschen mahnen an den Verlust eines mit dem Geiste ihrer großen Männer genährten Mitkämpfers für die gute Sache des Idealismus, der trotz aller Schwankungen und rückgängigen Bewegungen der jüngsten Zeit das Palladium des deutschen Geistes bleiben wird.