Theodor Mommsen (Die Gartenlaube 1893/44)

Textdaten
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Titel: Theodor Mommsen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 44, S. 741, 747–748
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Theodor Mommsen.
Nach einer Aufnahme von Löscher und Petsch, Hofphotographen in Berlin.

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Theodor Mommsen.

Ein Gedenkblatt zu seinem 50jährigen Doktorjubiläum.

In jammervoller Ohnmacht lag Deutschland am Boden, geknebelt von der mächtigen Faust des korsischen Eroberers. Die Willkür des Imperators entschied über Sein oder Nichtsein alles dessen, was man als geschichtlich Gewordenes mit Achtung zu betrachten gewohnt war; die Heiligkeit, welche die Jahrhunderte verleihen, gab es nicht mehr.

Es war nur der natürliche Rückschlag gegen eine solche Mißachtung aller geschichtlichen und nationalen Ueberlieferungen, daß in eben dieser Zeit die moderne deutsche Geschichtsforschung und Geschichtschreibung geboren wurde. Weil die Zerstörungswuth des Fremdlings so brutal aufräumen wollte mit den alten Staaten und Dynastien, mit überkommenen Rechten und liebgewordenen Sitten unseres Volkes, eben deshalb hingen sich die Besten der Nation mit besonderer Liebe daran, versenkten sich mit Eifer und Begeisterung in die nationale Vergangenheit und suchten in ihr nicht etwa die Kraft der Entsagung, sondern den Muth des Widerstandes. Jakob Grimm sammelte die Reste des alten deutschen Volksglaubens, des Volksrechts und der Sprache, Eichhorn arbeitete an seiner deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, und der Freiherr von Stein entwarf den Plan zu einer wissenschaftlichen Sammlung aller Quellenschriften der deutschen Geschichte, den Plan, aus dem dann das großartige Unternehmen der „Monumenta Germaniae historica“ hervorwuchs. Die Schärfung des kritischen Blicks, die Schulung in planmäßigem Forschen wirkte befruchtend auch auf die anderen Gebiete der Geschichte, unter dem geistigen Hauche dieser Zeit hat Barthold Georg Niebuhr, der einstige Bankdirektor, seine bahnbrechenden Vorlesungen über die römische Geschichte an der neugegründeten Berliner Universität gehalten. Mit ebensoviel Gelehrsamkeit wie kühner Anschauungsgabe machte er sich daran, aus dem Wust der römischen Ueberlieferung die römische Geschichte der älteren Zeit herauszusondern, durch den Wirrwarr von Sagen, Fabeleien, Entstellungen und zuverlässigen Nachrichten, welchen die Schriftsteller des Alterthums darbieten, zum wahren Kern der Thatsachen durchzudringen.

Auf den Bahnen, die Niebuhr gezeigt hat, ist keiner zu größeren Erfolgen fortgeschritten als Theodor Mommsen.

Als Niebuhr am 2. Januar 1831 starb, war Theodor Mommsen ein dreizehnjähriger Knabe, der daheim in seinem elterlichen Hause von seinem Vater, einem Prediger, auf das Gymnasium vorbereitet wurde. Für den Geist, der in diesem Hause herrschte, ist es bezeichnend, daß nicht bloß der älteste Sohn, der am 30. November 1817 zu Garding in Schleswig geborene Theodor, sondern auch seine beiden jüngeren Brüder Tycho und August auf dem Gebiet der Philologie und Alterthumskunde Hervorragendes geleistet haben. Theodor Mommsen ist allerdings nicht von der Philologie, sondern von der Jurisprudenz aus, der er sich von 1843 bis 1844 zu Kiel widmete, auf die Bahn des Historikers gelangt. Auch die ersten akademischen Professuren, die er bekleidet hat, zu Leipzig in den Jahren 1848 bis 1850, zu Zürich 1852 bis 1854, zu Breslau 1854 bis 1858, waren juristische, und erst in Berlin erhielt er eine Professur für alte Geschichte, die er nunmehr seit 35 Jahren innehat. Aber schon die Dissertation, „De collegiis et sodaliciis Romanorum“ („Ueber das politische Klubwesen in Rom“), mit welcher er sich vor nunmehr fünfzig Jahren den Doktorhut erwarb, wies auf die Bahnen seiner späteren Lebensaufgabe hin, und die ersten drei Bände seines Hauptwerkes, der „Römischen Geschichte“, erschienen noch, als ihr Verfasser in Zürich und Breslau als Professor des römischen Rechts wirkte.

Diese „Römische Geschichte“, die seitdem in acht Auflagen verbreitet wurde, hat Mommsens Ruhm in der Oeffentlichkeit begründet und wird ihn noch lange lebendig erhalten weit über den Kreis seiner Fach-, ja seiner Volksgenossen hinaus. Zu der gewaltigen Wirkung, welche dieses gelehrte Werk zu erzielen vermochte, hat nicht am wenigsten der wahrhaft glänzende Stil beigetragen, den Mommsen schreibt: anschaulich und knapp, ausgezeichnet durch Fülle und Rundung der Sätze, gespickt mit schlagenden Wendungen, wie ein mit Edelsteinen geschmücktes Gewand. Besonders tritt seine Neigung hervor, antike Verhältnisse durch ganz moderne Ausdrücke wiederzugeben. Da liest man von Junkerthum und hoher Finanz, von Generalen und Stabsoffizieren, von Konservativen, Demokraten, Klubwirthschaft u. dgl. m. Man hat vielleicht nicht mit Unrecht behauptet, Mommsens historischer Stil verrathe die Schule des politischen Agitators und Schriftstellers, und diese Schule hat er allerdings durchgemacht. Nach Vollendung seiner Kieler Studien hatte Mommsen nämlich eine Zeitlang als Privatlehrer in Altona gelebt, war dann auf wissenschaftliche Reisen nach Italien und Frankreich gegangen, und als er zurückkehrte, fand er seine meerumschungene Heimath in hellem Aufruhr gegen Dänemark. In dieser heißen Zeit hielt auch er es nicht aus in der stillen Gelehrtenstube. Er leitete ein paar Monate des Jahres 1848 hindurch die „Schleswig-Holsteinische Zeitung“ in Rendsburg, und hier mag er sich in der Kunst einer zündenden Schreibweise geübt haben, einer Kunst, die ihm später voll zu Gebote stand. Freilich, seine Theilnahme an den politischen Kämpfen dieser Tage hatte auch ihre Kehrseite; kaum war er außerordentlicher Professor an der Universität Leipzig geworden, als die erstarkende Reaktion auch nach ihm ihre Hand ausstreckte und ihm den Prozeß machte, der 1850 zu seiner Absetzung führte. Uebrigens ist Mommsen, um dies hier gleich anzufügen, auch in den späteren Jahren seines Lebens politisch thätig gewesen und hat neun Jahre lang, 1873 bis 1882, als liberaler Abgeordneter den Wahlbezirk Kottbus-Spremberg-Kalau im preußischen Landtag vertreten.

Wenn die „Römische Geschichte“ dasjenige Werk Mommsens ist, das seinen Namen in weite Kreise des Volkes getragen hat, so ist sie doch nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil seiner Lebensarbeit, die im übrigen allerdings unmittelbar mehr dem Fachgelehrten zu gute kommt. An Wichtigkeit steht jenem Werke gleich Mommsens Darstellung des römischen Staatsrechts, worin die in seiner Person verkörperte Vereinigung des Juristen und Historikers die glänzendsten Früchte zeitigte. Dann aber hat er, um von zahllosen Einzeluntersuchungen zu schweigen, auf einem Felde bahnbrechend gewirkt, das ist die Inschriftenkunde. Nicht bloß hat er wie Boeckh für das griechische, so für das lateinische Sprachgebiet die Grundlinien gezogen, auf denen eine streng wissenschaftliche Sammlung und Sichtung der sei es in natura, sei es in schriftlichen Zeugnissen uns erhaltenen Inschriften sich aufzubauen hat, er hat es auch meisterhaft [748] verstanden, aus diesen kleinen und kleinsten Stückchen geschichtlicher Ueberlieferung deutliche anschauliche Bilder von sonst kaum faßbaren Gebieten des antiken Lebens zu formen – der fünfte Band seiner „Römischen Geschichte“, der lange nach den ersten drei im Jahre 1885 erschien[1] und die Zustände der römischen Provinzen von Cäsar bis auf Diokletian behandelt, ist fast ausschließlich auf solche Zeugnisse gegründet. Schon vor seiner Züricher Lehrthätigkeit und dann während derselben hatte er durch Sammlung der Inschriften aus dem damaligen Königreich Neapel und aus der Schweiz seine Grundsätze an praktischen Proben vorgeführt, und als dann anfangs der sechziger Jahre die Berliner Akademie der Wissenschaften den schon von der Pariser Akademie gefaßten, aber wieder aufgegebenen Plan einer Sammlnug sämtlicher lateinischer Inschriften ins Werk setzte, konnte sie keinen Besseren mit der Leitung betrauen als Mommsen. Auf vierzehn Großfoliobände berechnet – wobei übrigens der sechste, die Inschriften der Stadt Rom enthaltende „Band“ selbst wieder in eine ganze Anzahl von äußerst stattlichen Unterbänden zerfällt – ist das großartige Unternehmen heute noch nicht abgeschlossen. Noch fließt ihm ein wesentlicher Theil von Mommsens erstaunllcher Arbeitskraft zu, und sein Geist lebt in einer wackeren Schar trefflich geschulter Mitarbeiter.

Die römische und deutsche Geschichte fließen an einem Punkte ineinander. Man weiß, wie vom den Tagen Cäsars an die Römer auch hinübergriffen in germanische Lande, man weiß, daß sie ein paar Jahrhunderte lang sich darin seßhaft machten und zugleich ein massenhaftes Einströmen germanischer Elemente in den römischen Reichskörper stattfand. Als nun die Centralleitung der oben von uns erwähnten „Monumenta 6ermaniae historica“ an die Aufgabe kam, die für diese Zeit wichtigen Quellenschriften in neuen mustergültigen Ausgaben ihrer Sammlung einzuverleiben, da war Mommsen derjenige, dem die Oberleitung dieser Abtheilung am besten übertragen wurde; einige der wichtigsten Bände derselben sind von ihm selbst bearbeitet worden. Und als es die Auswahl der Männer galt, welche im Auftrage des Reichs jenes Zeugniß der römischen Herrschaft über den deutschen Südwesten, den sogenannten Limes, einer planmäßigen Erforschung zu unterziehen hatten, da war wiederum Mommsen die erste Autorität, an die man sich wandte. Und dem sechsundsiebzigjährigen Gelehrten ist keine Mühe zu viel; in jugendlicher Frische zieht er trotz Wind und Wetter mit den Streckenkommissaren hinaus, um mit seinem sachkundigen Auge den Spuren des alten Römerwalls nachzuforschen.

Das sind nur ein paar Hauptzüge aus dem wissenschaftlichen Wirken des Gelehrten; ihnen zur Seite geht der weitreichende Einfluß des Lehrers. Wohl hat Mommsens Lehrthätigkeit durch vielfache hauptsächlich im Dienste des großen Inschriftenwerks unternommene Reisen oftmals eine kürzere oder längere Unterbrechung erleiden müssen; trotzdem hat er im Laufe der Jahrzehnte Tausende von Hörern mit seinem Geiste und Wissen aufs tiefste angeregt, und von den heutigen Führern der archäologischen Wissenschaft haben wohl die meisten eine kürzere oder längere Zeit zu seinen Füßen gesessen.

Auf ein reichgesegnetes Leben blickt somit Theodor Mommsen an dem Tage zurück, da er sein fünfzigjähriges Doktorjubiläum feiert, auf ein Leben reich an Arbeit und reich an Erfolgen der edelsten Art. Und noch ist es nicht so weit, daß er bloß rückwärts schauen dürfte; noch ist sein Geist stark und die Riesensumme dessen, was er geleistet, hat ihm nichts von seiner Spannkraft geraubt. Fürwahr, ein ehrwürdiges Kollegium, mit dem Theodor Mommsen an der Berliner Universität und in der Akademie der Wissenschaften zusammenwirkt! Da ist der 79jährige Eduard Zeller, der ebenso alte Ernst Curtius, der 77jährige Rudolf v. Gneist, der 76jährige Heinrich v. Sybel, der 75jährige du Bois-Reymond, der 74jährige Wilhelm Wattenbach, die beiden 72jährigen Virchow und Helmholtz! Und alle diese Männer noch in der Fülle ihrer Kraft, als hätte das Beispiel eines Ranke auch sie gegen jedes Altern gefeit! Mögen sie der deutschen Wissenschaft noch lange erhalten bleiben!

Eine Anzahl der oben genannten Männer haben mit anderen aus dem Reiche, wie Gustav Freytag, Adolf Menzel, Eduard v. Simson, sich zusammengethan und Anregung gegeben zur Sammlung einer „Mommsen-Stiftung“, die dem Gefeierten an seinem Ehrentage überreicht werden soll, damit er nach eigenem Ermessen darüber zur Förderung wissenschaftlicher Zwecke in seinen Arbeitsgebieten verfüge. So würde der Name Mommsens berufen, auch in dieser Form bis in ferne Zukunft befruchtend auf das Studium der klassischen Alterthumswissenschaft zu wirken, wie seine Werke es thun werden. H. E.      


  1. Der 4. Band steht noch aus.