Textdaten
<<< >>>
Autor: L. R.
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Theater und Schule
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36–39, S. 505–508, 521–524, 531–536, 549–553
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[505]
Theater und Schule.
Von L. R.


I.

„Da sind wir nun am schwarzen Bär. Hier mag der Kutscher füttern. Und gehst Du nun erst mit in’s Wirthshaus, Theodor, oder kehrst Du nach Magdeburg zurück?“

Mit raschem Satze sprang Theodor bereits aus dem Wagen, und öffnete dem Vater schweigend den Schlag. Der Vater stieg aus.

„Theodor, so gewandt, so sicher, mit solcher Eleganz auch in den Ehestand hinein!“ sprach der Vater weiter und lächelte den Sohn an.

Der Sohn schwieg, klappte den Wagenschlag zu, schlug die Augen nieder.

„Hat mein voriges Gespräch Dich ernst gestimmt?“ fuhr der Vater fort, während er den Sohn an die Hand nahm, „und doch kann ich nichts davon streichen. Du bist achtundzwanzig Jahr, bist mein einziges Kind, bist Assessor, wohlhabend durch Dein mütterliches Erbe, und da ich so allein stehe, – ich meine es gut mit Dir und mir, – Du drückst mir die Hand? gibst mir Recht?“

Und nochmals drückte der Sohn des Vaters Hand, blickte auf und sprach: „Das könnte Alles schneller geschehen, als Du es denkst!“

„Warum sagtest Du das nicht vorher?“ erwiderte erfreut der Vater. „Also wirklich? – und die Tochter des Vicepräsidenten? – Errathen, Theodor?“

Lächelnd schüttelte dieser das Haupt.

„Du schüttelst und drückst mir doch dabei die Hand?“

„Damit wünsche ich, daß eine Andere Dir ebenso lieb sein möge, als die Vicepräsidententochter.“

„Das soll sie, Theodor! Also wohl die Tochter des geheimen Kirchenraths? oder die hübsche Blondine des Bürgermeisters? Wie, Theodor? Mit diesen jungen Damen hast Du öfters getanzt, auch mit der jüngsten des Generalinspectors – Theodor, da hätte ich gar nichts dagegen! – Aber Du lächelst, Du schüttelst den Kopf, drückst mir immer wieder die Hand?“

„Lassen wir das jetzt, bald vielleicht mehr davon, Vater,“ antwortete der junge Assessor, und ein ernster Zug ging über sein Gesicht.

Beide waren an die Thüre des „schwarzen Bären“ gekommen. Der Wirth trat heraus, die Mütze ziehend und höflich sich verbeugend. „Schon so früh, Herr Doctor, und auch der Herr Assessor mit? Wohl Wichtiges bei unserm Herrn Schnurr? Und nicht allein Schulrevision?“ fuhr er lächelnd fort, „kann mir’s fast denken – aber unser Herr Schnurr ist doch ein tüchtiger Lehrer –“

„Zu dem will ich gar nicht, ich reise heute in Ablösungssachen und Schulbauangelegenheiten. Bis an mein Ziel habe ich noch vier Stunden weit, und so soll der Kutscher hier erst ein Deichselfutter geben,“ antwortete der Schulrath Dr. Werner.

„Ah so, so,“ begann der Wirth von Neuem, „glaubte, weil der Herr Assessor mit wären, es sollte heute in unserer Schule Hauptrevision gehalten werden, – oder es sei etwa –“

„Behüte, behüte, mein Sohn hat mich an diesem schönen Sommermorgen nur bis hierher begleitet, und geht nun zurück nach Magdeburg.“

„So, so,“ fuhr der Gesprächige fort, „ich glaubte schon, man habe etwa gehässige Anzeige gemacht, habe die Sache übertrieben. Fehlt es doch auch unserm wackern Schnurr nicht an Feinden.“

„Und was gibt’s mit Eurem Schulmeister Schnurr? Weshalb wäre jetzt eine gehässige Anzeige möglich gegen ihn?“

Der Wirth blinzelte mit den Augen, that geheimnißvoll, lächelte, drehete die Mütze in den Händen.

„Da Ihr schweigt, wird’s nicht viel sein,“ sagte der Schulrath Werner, „und so will ich es auch nicht wissen – der Schulmeister Schnurr ist brav.“

„Laß uns doch hineingehen, Vater,“ versetzte unruhig der junge Assessor, „oder willst Du, so fahren wir bis auf das nächste Dorf, da können wir eine Weile noch ungestört reden, und die Pferde halten ja noch aus,“

„Dein Rückweg zu Fuße würde dann eine Stunde länger werden,“ bemerkte der Vater und schritt bereits nach der Hausthür.

„Das schadet nichts,“ antwortete rasch der Sohn, „komm, wir setzen uns wieder ein, die Pferde sind noch nicht abgezäumt.“

„Hättest Du das doch vorhin gesagt, Theodor!“ tadelte gutmüthig Jener.

„Ei, Potztausend, so lassen Sie sich’s doch bei mir gefallen!“ rief der Wirth und öffnete schon die Stubenthüre.



II.

Aus der Wirthsstube heraus klang helles Gelächter. „Man sieht doch,“ rief eine Stimme, „daß die Komödianten immer lustig sind! Denn unter der gerichtlichen Anzeige steht auch noch die Privatanzeige von dem Theaterdirector selbst, und die ist kurz und heißt: „Wer mir die zweihundert Louisd’or wieder verschafft, bekommt zwanzig Stück davon; das alte ABC-Buch aber kann er behalten.““

Nach diesen gelesenen Worten entstand wieder allgemeines Gelächter. Der Vorleser war der Richter des Dorfes, und um ihn herum saßen [506] etwa ein halbes Dutzend Bauern, welche, ehe sie in die Heuernte gingen, hier ihren Frühschnaps tranken.

Sobald der Schulrath mit seinem Sohne an der Schwelle erschien, erhoben sich die Bauern, Der Schulrath bat, sich nicht stören zu lassen.

„Entschuldigen Sie nur unser Lachen, Herr Doctor, und auch Sie, Herr Assessor!“ ergriff der Dorfrichter das Wort.

„Warum sollten die Landleute bei so schönem Heuerntewetter nicht fröhlich sein?“ erwiderte der Schulrath.

„Das denken wir auch, und noch dazu galt unser Lachen einem Zeitungswitze,“ sprach der Dorfrichter weiter.

„Ich hörte es so halb und halb,“ antwortete Jener.

„Aber Sie haben Recht, Herr Doctor, wäre schlechtes Wetter für unsere Heuernte, wer weiß ob wir dann so lachen könnten. Bei den Komödianten ist das freilich etwas Anderes, die machen ihren Spaß bei gutem und schlechtem Wetter, im Glück und Unglück, und darüber lachten wir eigentlich.“

„Wollen wir uns nicht lieber hinaus in die Laube setzen?“ fragte heimlich, aber drängend der Assessor seinen Vater. Der Schulrath wendete sich, that einige Schritte und flüsterte dann dem Sohne zu: „Das würde man uns übel nehmen.“ Zugleich setzte er zwei Stühle zurecht und bestellte zwei Tassen Kaffee. „Bitte, bitte, keine Umstände,“ mahnte er dann die Bauern, „niedergesetzt und fortgelesen!“

„Wir waren fertig,“ erklärte der Dorfrichter, während er das Zeitungsblatt oder vielmehr den Dorfanzeiger auf den Tisch legte und sich mit den Anderen nun niedersetzte. „Vorn stand nicht viel Neues und hinten nicht viel Erbauliches – nichts als Einbruch, Raub, Diebstahl. Da haben sie eben auch einem Theaterdirector zweihundert Louisd’or gestohlen, und in dem Geldkästel hat zugleich ein zerrissenes ABC-Buch gelegen – und das war’s, worüber wir lachten.“

„Das eigentlich nicht,“ verbesserte der Nachbar des Dorfrichtern, „sondern das war’s, daß der Theaterdirector noch etwas Lustiges unter die ernste gerichtliche Anzeige setzte,“

„Wird weder durch Ernst noch durch Spaß sein Geld wiederkriegen, obgleich er zwanzig Louisd’or für denjenigen ausgesetzt, der ihm dazu verhilft,“ bemerkte ein Dritter.

„Aber lustige, hübsche Leute sind und bleiben sie doch immer, diese Schauspieler, das muß man sagen!“ nahm der Richter wieder das Wort.

„Hübsch, hübsch, wahrhaftig – das sieht man jetzt in unserer – –“

Der Richter stieß seinen Nachbar, und dieser verstand den Stoß. Er schwieg, aber die Ellenbogenbewegung ging ringsum, von Mann zu Mann.

„Nichts, nichts,“ raunte der Wirth ihnen zu, der einige frische Gläser auf den Tisch stellte, „dachte es auch, aber glücklicher Weise ist’s anders; er geht heute gar nicht in unsere Schule, reist gleich weiter.“

So leise der Wirth auch diese Mitteilung machte, so wurde sie doch vom Schulrathe und seinem Sohne vernommen. Und so sehr die Mitteilung auch die Gesichter der Bauern mit einem frohen Lächeln überzog, so rückte doch der Assessor seinen Stuhl, stand in sichtbarer Unruhe auf und fragte, während er rasch hin und her schritt: „Wird die Heuernte besser ausfallen, als im vorigen Jahre?“ Er unterhielt sich weiter mit den Bauern, er stellte allerhand Fragen, er sah zuweilen sich um nach dem Vater, der den Wirth auf die Seite gezogen und mit diesem sich in ein Gespräch eingelassen hatte, – er vernahm, daß das Gespräch aus Fragen und Antworten bestand, die sich auf die vorige Ellenbogenbewegung – auf Schule und Schulhaus erstreckten – – und mit einem tiefen, schmerzlichen Blicke, den er auf seinen Vater richtete, verließ er plötzlich die Bauern, die Stube und das Haus.

Dem Schulrathe war die innere Bewegung seines Sohnes nicht entgangen. Er hatte ihn beobachtet, seit er mit ihn, eingetreten war in die Wirthsstube. Was konnte die Unruhe des jungen Mannes bedeuten? Schon während der Fahrt hatte derselbe ein anderes Wesen gezeigt, als sonst. Der Vater schrieb das freilich auf Rechnung des Gespräches, welches er mit dem Sohne wegen dessen Verheirathung in dem Wagen geführt. Aber das Gespräch war doch längst vorbei, und fort und fort hatte sich Theodor’s Erregtheit gesteigert. Der Schulrath brachte keinen Zusammenhang hinein. Denn aus dem, was er jetzt vom Wirthe sowohl, als von dem Dorfrichter über Schule und Schulmeister hörte, ließ sich kein Motiv über Theodor’s Benehmen ziehen.

Als das Gespräch mit dem Wirthe und Dorfrichter völlig im Gange war, ließ der Schulrath plötzlich eine Pause entstehen, und ging eine Weile sinnend auf und ab. Dann trat er wieder zu den zwei Männern.

„Der Kutscher mag ausspannen!“ sagte er. „Meine beabsichtigte Reise läßt sich einige Tage verschieben. Besser, ich begebe mich in die Schule. Es könnten doch weitere Unzuträglichkeiten vorfallen – ich will mit dem unvorsichtigen Schnurr reden.“

„Aber es ist doch weiter nichts vorgefallen!“ bat der Wirth vereint mit dem Richter, während die übrigen Gäste von dannen gingen.

„Während des Unterrichts darf Niemand im Schulgarten schießen!“ antwortete der Schulrath, „das geht nicht! Im Uebrigen ist mir bekannt, daß Schnurr wirklich einen Bruder in Hamburg hatte, dessen Tochter sich auf’s Theater begab. Wollen also einige Böswillige behaupten, es sei bei dem Schulmeister ein wildfremdes Theatermädel zu Besuch, so könnt Ihr Euch dagegen auf mich berufen. – Und seit wann ist diese Schauspielerin im Schulhause?“ fragte er nach einer Pause,

„Seit acht Tagen, Herr Schulrath,“ antwortete der Richter. „Ich habe es auch dem Gensd’arm gemeldet, sie ist in die Liste eingetragen, und Alles in Ordnung,“

„Und seit den acht Tagen, das können Sie glauben, Herr Doctor,“ fügte der Wirth hinzu, „da hat sie gewiß schon zwanzig Thaler an arme Kinder ausgetheilt.“

„Und das nicht allein,“ fuhr der Dorfrichter fort, „sie besucht mit dem Schulmeister die Kranken und Armen in den Häusern, geht auch oft allein dahin, gibt Unterstützungen, redet mit den Leuten, heitert sie auf.“

„Und das kann sie aus dem Fundamente,“ fiel der Wirth ein. „Das müssen Sie sehen, Herr Doctor, wie lustig die ist; wie ein Fischlein im Wasser! Und wie schön dazu!“

„Ja wohl, lustig und schön!“ bestätigte der Richter, „man muß dem Fräulein gut sein! Und da ist es nun freilich kein Wunder, daß Abends viel Leute hinlaufen an’s Schulhaus, um sie zu sehen oder um sie zu hören, wenn sie mit dem Schulmeister vierhändig auf dem Clavier spielt. Zuweilen kommt sie da heraus, macht Spaß mit den Kindern, gibt dem Einen Geld, dem Andern eine Spitzrede, so daß die Leute lachen. Nun wissen Sie ja, Herr Schulrath, wie die Leute sind. Diejenigen Eltern, deren Kinder nichts bekamen, oder wohl gar nur eine Spitzrede gewannen, sind neidisch auf die Andern, machen ihre Bemerkungen, und dann verbreiten sich Gerüchte, und der Schulmeister wird natürlich auch mit hineingezogen.“

„Besonders, weil Herr Schnurr jetzt so fröhlich ist,“ ergänzte der Wirth. „Ich glaube aber, jeder Mensch würde fröhlich sein, wenn ein so hübsches Fräulein in seiner Nähe, in seinem Hause wäre.“

Der Schulrath nahm eine Prise und sagte lächelnd: „Lieben Freunde, wenn das Mädchen Allen so gefällt, wie Euch Beiden, dann ist’s freilich kein Wunder, daß das ganze Dorf in Aufruhr kommt.“

„Herr Doctor, Herr Doctor!“ entgegnete der Richter leise, und drohte scherzend mit dem Zeigefinger, „ich glaube, sie wird Ihnen auch gefallen!“

„Und was sagen denn Eure Weiber?“ fragte der Doctor.

„Die haben das Fräulein alle gern, die laufen Abends auch mit hin vor das Schulhaus. Nur unter den Jungfern und Burschen ist hier und da ein kleiner Krieg ausgebrochen.“

„Und ist am Sonntage das Fräulein auch mit hinüber in die Kirche gegangen?“ fragte der Schulrath.

„Das eben nicht,“ antwortete nach einigem Zögern der Richter, „aber der Herr Schulmeister ist drüben gewesen – das Fräulein hat zu Hause gesungen –“

„Erzähle es doch ehrlich, Gevatter,“ fiel der Wirth ein, „es ist ja nichts Böses. Sehen Sie, Herr Doctor, am letzten Sonntag sind blutwenig von uns hinübergegangen in’s Kirchdorf. Das ging so zu. Zu der Zeit, wo die Leute zu gehen pflegen, sang und spielte das Fräulein bei offenen Fenstern. Da blieben denn die Kirchgänger stehen, denn sie hatten doch gerade Zeit, und das Wetter war so schön. Da können Sie denken, Herr Schulrath, daß es dabei zur Kirche bald zu spät wurde. Ein ganzer Haufen stand mit den Gesangbüchern vor dem Schulhause, bis der Schulmeister aus der Kirche kam. Böse Mäuler haben darüber freilich auch gelärmt. Aber etwas Ungeschicktes ist sonst nicht dabei vorgefallen. Sie wissen ja, Herr Doctor, so etwas Neues –“

[507] „Und mein Sohn war doch auch einige Mal hier,“ unterbrach schnell, aber scheinbar ruhig der Schulrath diesen Bericht, und sah die Männer lauernd an, – „mich wundert es, daß er nichts davon erwähnt hat.“

„Wäre der Herr Assessor hier gewesen? Das kann nicht sein –“

„Den hat Niemand gesehen –“

„Der hätte Ihnen wohl auch erzählt davon –“

So antworteten die zwei Männer und meinten, das würde sich ja sogleich erfahren lassen, wenn der Herr Assessor wieder herein käme in die Stube.

„Nein, nein,“ entgegnete der Schulrath, „wir wollen kein Wort davon erwähnen.“

Es war auch nicht nöthig, denn in demselben Augenblicke trat ein Knabe in die Stube, machte vor dem Schulrathe einen tiefen Bückling und reichte ihm ein Billet hin.

„An mich Etwas?“ fragte der Schulrath.

„Ich soll’s nur in Ihre Hand geben, weil’s nicht versiegelt ist.“

„Schon gut, mein Junge,“ sagte der Schulrath, der die mit Bleistift geschriebene Adresse las und die Hand seines Sohnes erkannte.

„Mein Sohn ist jedenfalls nach Magdeburg zurück, kommt also nicht wieder herein,“ warf er ruhig den zwei Männern zu, während er dem Knaben einen Silbergroschen gab. „Da er nicht mündlich Abschied nahm, thut er es wahrscheinlich hiermit schriftlich,“ setzte er äußerlich mit Ruhe hinzu, während ihm doch das Herz klopfte.

Er trat in ein Fenster und öffnete das Billet, welches nur ein aus einer Brieftasche gerissenes und mit Bleistift beschriebenes Blatt war. Er las:

„Mein theurer Vater!“

„Ich sehe, wie Alles kommen wird. Du fragtest bereits, man antwortete Dir bereits. Jetzt wirst Du wissen, daß im Schulhause Besuch ist. Du wirst hingehen, und wärst Du noch nicht entschieden, so bitte ich Dich, daß Du Dich entscheidest, daß Du hingehst. Auch ich wollte hin, und darum begleitete ich Dich heute bis hierher. Ich habe im Wagen heiß mit mir gekämpft über die Frage, ob ich Dir nicht Alles mittheilen sollte. Ich entschied mich, jetzt noch zu schweigen, erst in nächster Zeit Dich zu bitten, denn Rosa ist Schauspielerin, Du wirst also gegen eine Verbindung mit ihr sein. Vor zwei Monaten lernte ich sie in Berlin kennen, sah und sprach sie im Ganzen nur drei Mal, habe sie aber nicht vergessen und werde sie nicht vergessen. Rosa weiß nicht, daß ich in Magdeburg wohne, und ich wußte nicht, daß der Schulmeister Schnurr ihr Oheim ist. Also keine Verabredung, keine Bestellung. Rosa kennt mich blos unter dem Namen „Theodor“, ich schien ihr nicht gleichgültig zu sein. Das ist Alles, Uebrigens hatte sie ein Verhältniß oder doch eine leisere Bekanntschaft mit einem Andern, der ebenfalls Schauspieler war. Und dennoch – ihr Bild ist, seit ich sie sah und sprach, nicht von mir gewichen, zum ersten Male fühle ich in meinem Leben die Gewalt der Liebe. Mein Vater, in welcher Stimmung saß ich heute neben Dir!

„Rosa’s Besuch bei Schnurr erfuhr ich durch die Fremdenlisten, die in meiner amtlichen Stellung mir vorliegen. Da jauchzte mein Herz, und dennoch durftest Du es nicht hören. Jetzt weißt Du Alles. Gehe hin, mein Vater, siehe das Mädchen, sprich mit ihm. Dann sprich mit Deinem Herzen. Was weiter kommen wird, weiß der Himmel. Nur Eins steht fest: so lange Rosa nicht aus meiner Seele weicht, heirathe ich keine Andere. Und Rosa wird nicht weichen. Mein theurer Vater, denke nicht an Präsidententöchter; vergib mir, daß ich Dir Leid bereite.     Dein Sohn.“


Nach Lesung des Briefes drückte der Schulrath seine Stirn an die Fensterscheibe.

„Ist doch nichts Unangenehmes?“ fragte der Wirth.

„O nein, mein Sohn hat Geschäfte,“ antwortete zerstreut der Schulrath.

„Er ist doch ein rarer Sohn, der Herr Assessor!“ lobte Jener. „Der Herr Doctor können stolz sein auf ihn!“

Der Dorfrichter stimmte bei, und sie sagten nicht zu viel. Theodor war ein junger, schöner, geistreicher Mann. Er besaß nicht nur Kenntnisse, sondern auch ein wackeres Herz, eine kräftige Gesinnung. Das Lob, welches gegenwärtig der Wirth und der Richter ihm zollten, bezog sich freilich mehr auf Jugend, Vermögen und Stand, und endete mit dem Bedauern, daß doch ein solcher Herr nicht heirathe, da er ja auch in dem vornehmsten und reichsten Hause nicht vergebens anklopfen würde.

Der Schulrath sagte zu allem dem nichts. Schweigend, aber mit raschen Schritten, durchmaß er die Stube. Dann verließ er die Stube, setzte sich draußen auf die Bank unter schattiger Linde, stützte bedenklich den Kopf in die Hand. Auch hier litt es ihn nicht lange. Er schritt an den Wagen, öffnete den Kutschkasten, wühlte unter Aktenstücken, las halblaut die Titel: „Ablösungen,“ „Kirchenbau“, „Ausschulungen“, „Pfarrvergleiche“, „Kirchrechnungen“, „Revisionsprotokolle“, und dieses letztere Stück nahm er heraus, klemmte es unter den Arm, verschloß den Kasten wieder und ging.



III.

Das Schulhaus. Vor demselben ein Blumengärtchen, hinter demselben ein weiter Obstgarten. Der Schulrath schreitet ungesehen an den Zäunen hin, und als er in die Nähe des Hauses kommt, bleibt er stehen. Er horcht. Wieder geht er einige Schritte, dann horcht er von Neuem. „Die Kinder antworten im Chor,“ spricht er vor sich hin, „aber ungewöhnlich lebhaft und fröhlich geht’s zu!“

Und je näher er schritt, desto öfter blieb er stehen und schüttelte den Kopf. Und als er auf den Stufen vor der Hausthüre stand, da schallte es ihm laut und halb lachend und nun auch vollkommen verständlich aus dem Munde der Kinder entgegen:

„Ein toller Wolf in Polen fraß
Den Tischler sammt dem Winkelmaß!“

„Und nun ein anderes!“ commandirte drinnen der Schulmeister.

Und von Neuem fuhr es wie ein Kanonenschlag aus dem Munde der Kinder:

„Die Nonne und der Nagelbohr,
Die kommen oft in Naumburg vor!“

„Mein Gott, was ist das!“ rief leise der Schulrath, und zornroth wurde sein Gesicht. „Ich fürchte, Schnurr ist verrückt geworden, oder er will auch mit auf’s Theater!“

„Und nun ruhig, ihr Kinder!“ befahl jetzt Schnurr ernst und würdig mit vollem Lehrton, „der Spaß muß auch seinen Nutzen haben! Und das allezeit im Leben! merkt euch das, Kinder’ machet niemals einen groben, unnützen, dummen Spaß!“

Die Kinder waren mäuschenstill geworden. Der Schulrath lauschte und stand jetzt an der Stubenthüre, schon die Hand an die Klinke legend.

„Also den Nutzen!“ fuhr Herr Schnurr drinnen fort. „Du, Müller, der ältere, paß’ auf, und zähle schnell die Worte: „Die Nonne und der Nagelbohr, die kommen oft in Naumburg vor,“ also wie viel?“

„Zehn!“ antwortete ein Knabe.

„Falsch gezählt!“ tadelte Herr Schnurr. „Wie viel Worte? wer weiß es?“

„Elf Worte!“ tönte es im Chor.

„Und wie viel Mal kommt der Buchstabe n, groß geschrieben, in diesen elf Worten vor?“ fragte Jener weiter.

„Drei Mal!“ war die Chorantwort der Kinder.

„Richtig. Und nun ist’s aus damit! Nehmet die Rechnentafeln zur Hand!“ befahl Herr Schnurr.

„Bitte, Herr Schulmeister, auch noch den „Wolf“ und das „Winkelmaß“!“ bat ein Kind.

„Ein ander Mal! jetzt wird gerechnet!“ klang ruhig des Lehrers Wort.

Da drückte der Schulrath die Klinke. Die Thüre knarrte, that einige Zoll weit sich auf. Herr Schnurr guckte erst hin, dann ging er, und öffnete die Thüre völlig und mit den Worten: „Wer ist denn da?“

„Ich,“ antwortete der Schulrath gemäßigt, „treten Sie doch heraus.“

„Mein Gott!“ rief in den Tod erschrocken der Heraustretende. „Der Herr Doctor! wie kommen denn der Herr Doctor –“

„Das ist gleichviel, wie ich komme,“ sagte dieser, indem er die Thüre zudrückte, „und der angefügten Nutzanwendung wegen sollen Sie ohne tüchtigen Verweis wegkommen! Hören Sie wohl? ohne tüchtigen Verweis! Aber verweisen muß ich Ihnen immer diese Spielerei, das sehen Sie ein, Herr Schnurr! Die Zeit, wo diese Methode blühte, ist vorbei!“

[508] Herr Schnurr stand mit gekrümmtem Rücken. Es war, als sei er gelähmt. Er sprach kein Wort, sah tief zu Boden. In seinen Händen hielt er zitternd zwei Blätter, legte dieselben bald in die Rechte, bald in die Linke, bald faßte er sie mit Beiden. Endlich seufzte er: „Ach, Herr Doctor! daß mir das passirt!“ „Lieber Herr Schnurr,“ sprach beruhigend der Schulrath und klopfte ihn auf die Schulter, „das ist nun vorbei. Ich kenne Sie ja seit vielen Jahren als tüchtigen Schulmann und als guten Menschen. Ich schätze Sie. Ueberdies stehen wir ziemlich in gleichem Alter,“ fuhr er theilnehmend fort, „und es thut mir leid, wenn Sie den Verweis, den ich Ihnen geben mußte, anders nehmen, als ich es erwartete.“

Der Schulmeister beugte sich noch tiefer und wischte sich die Augen.

„Sie weinen?“ fragte fast mit einem Anfluge von Unwillen der Schulrath, „worüber denn?“

„Ueber das Lob, welches der Herr Doctor mir geben,“ antwortete Schnurr gefaßt jetzt, und richtete sich auf.

„So ist’s brav!“ versetzte der Doctor, „ein richtiger Schulmann fühlt seine Würde! Was haben Sie denn da, Herr Schnurr?“

Der Schulrath griff nach den beiden Blättern, die Jener in den Händen hatte.

„Packpapier, weiter nichts als Packpapier,“ erklärte ruhig Herr Schnurr, „aber die zwei ABC-Buchblätter sind Schuld, sie verführten mich zu der – wie der Herr Doctor sich ausdrückten – zu der Spielerei.“

„Richtig, dergleichen Bilder und Verslein gab es sonst in Menge; jetzt aber sind sie eine große Seltenheit,“ sprach der Schulrath, indem er die Blätter betrachtete.

Die Blätter waren alt, fast abgenutzt. Man sah es, wie auf ihnen verschiedene Brüche und eingedrückte Narben wieder ausgeglättet lagen, und wie die Papiere zur Umrollung oder Einwicklung irgend eines Gegenstandes gedient hatten. Gedruckt auf ihnen standen mehrere bunte Bilder, z. B. auch ein Tischler, in der Hand ein Winkelmaß haltend, ihm gegenüber der Wolf mit aufgesperrtem Rachen, unter dem Bilde das vorhin erwähnte Verslein, „Gottlob! da stieg die Methode jetzt doch höher,“ sagte der Schulrath, „zu dieser hier wollen wir uns niemals wieder erniedrigen.“ „Niemals wieder,“ antwortete Herr Schnurr, und griff nach den Blättern.

„Lassen Sie mir diese Blätter, ich lege sie zu meinen Revisionscuriositäten,“ entgegnete der Schulrath, „solche Sachen sind jetzt rar. Vielleicht hätte der Krämer oder Kaufmann, von dem Sie Waare in diesem Papier empfingen, noch mehrere solche Blätter, vielleicht das ganze Büchlein? Ich würde es gern bezahlen. Von wem beziehen Sie Ihre Waaren?“

„Meine Waaren?“ fragte in sichtbarer Verlegenheit der Schulmeister. „Der Herr Doctor denken da an Kaffee und Zucker, und ich muß gestehen, ich weiß nicht, denn Reis, Zucker, Kaffee, Würzwaaren, der Herr Doctor dürfen annehmen, daß ich moralisch genöthigt bin, alle diese Dinge vom hiesigen Dorfkrämer zu beziehen.“

„Das würde ja unsere Nachfrage erleichtern.“

Da fiel im Garten ein Schuß, laut jauchzten die Kinder in der Schulstube.

„Großer Gott!“ rief zürnend der Schulrath, „eine schreckliche Wirthschaft, Herr Schnurr! und deshalb komme ich eigentlich!“ Schnurr hielt sich den Kopf und bückte sich, und seufzte: „Ein Doppelpistol!“

Das bestätigte sich auch sogleich. Es knallte zum zweiten Male, die Kinder in der Schulstube jauchzten wiederum hell auf. Schnurr bückte sich tiefer.

„Schrecklich, schrecklich!“ zürnte der Schulrath, „und so geht’s nun schon seit acht Tagen!“

„Gerade gestern vor acht Tagen,“ bestätigte Schnurr leise und furchtsam, „wenn sie nur nicht nochmals ladet!“

„Verhindern Sie das! ich befehle es Ihnen!“ rief mit dem Fuße stampfend der Schulrath.

Schnurr aber hatte sich noch nicht aus seiner gebückten Stellung erhoben, hatte noch die Hände nicht bewegt, mit denen er den Kopf hielt, da öffnete sich im Hinterraume des Hauses die Thüre, welche in den Obstgarten führte. Herein in’s Haus fiel hell die Sonne.



IV.

„Eine charmante Situation! ein prächtiges Bild!“ rief Rosa lachend und blieb auf der Thürschwelle stehen. „Ha, ha, ha! was gibt es denn hier? Aufgerichtet, Oheim! den Kopf empor! Wer dieser Herr auch sein mag, so tief darfst Du Dich nicht bücken! Empor, lieber Oheim, oder ich schieße!“ fügte sie halb ernst, halb scherzend hinzu und streckte das Doppelpistol in’s Haus.

„Gott im Himmel! so stehen Sie doch auf!“ befahl der Schulrath, während er schnell an die Wand sich drückte.

Schnurr verharrte in seiner bisherigen Lage und sprach tröstend: „Sie hat nicht geladen. Mit geladenem Pistol kommt sie nicht in’s Haus, das wäre gegen den Contract. Der Herr Doctor brauchen sich nicht zu fürchten. Der Schulkinder wegen habe ich mit ihr contrahirt, daß das Pistol im Hause niemals geladen sein darf. Den Contract hält sie; o sie ist edel!“ schloß er seufzend.

„Glauben Sie das nicht, mein Herr!“ sagte Rosa lächelnd und gefällig, indem sie jetzt mit feinem Anstand herbeigetreten war und sich verbeugt hatte. „Wäre ich edel – nicht wahr, Sie geben mir Recht?“ sprach sie lächelnd weiter, „wäre ich edel, so würde ich nicht sein, was ich bin. Zwar – Sie wissen wahrscheinlich noch nicht, was ich bin, und auch ich weiß noch nicht, was und wer Sie, mit dem ich die Ehre –“

„Der Herr Schulrath Doctor Werner,“ erklärte Schnurr leise.

„Aufrichtig gestanden, ich ahnte so Etwas,“ wendete sich Rosa mit aristokratischer Verneigung wieder zu dem Schulrathe, „man sieht es den Herren der Kirche und Schule sofort an. Nun sollen Sie auch sehen, was ich bin. Oder hast Du Deinem Herrn Oberst schon gesagt von mir?“ fragte sie nach dem Oheim hin.

„Nichts, noch nichts –“ antwortete Schnurr klagend.

„So klage doch nicht, so stehe doch auf!“ lachte Rosa, und betonte dann ernst und mit Pathos die Worte: „Im Namen Deines Herrn Gebieters gebiete ich Dir, daß Du Dich augenblicklich erhebest!“

Da Schnurr zögerte, ging sie hin und richtete ihn lachend empor.

„Aber Sie müssen doch sehen, wie ich bin!“ wendete sie sich wieder an den Schulrath, „der Oheim scheint Bedenken zu tragen, mich Ihnen vorzustellen.“

Auch stand Schnurr wirklich furchtsam in einiger Entfernung und sah bald auf die heitere Nichte, bald auf den ernsten Vorgesetzten.

Der Letztere verhielt sich noch immer schweigend. Die Erscheinung Rosa’s hatte ihn denn doch weit bedeutender überrascht, als er dies erwartet. Schön, frisch, jugendlich hatte er sich dieselbe wohl gedacht. Aber diese Augen, diese Stimme, diese Gestalt, diese Grazie, von welcher das ganze blühende Leben auch in der kleinsten Bewegung umflossen war, hatte er sich ja doch nicht denken können. Dazu die Kleidung, welche keineswegs theatralisch, sondern nur geschmackvoll und einfach war. Ein leichter Sommerhut bedeckte den kleineren Theil des braunen, reichen Haares. Ein Frühlingskleid, aus feiner, grauer Leinwand bestehend, zeigte die jugendlichen, reizenden Körperformen in erhöhtem Lichte. In dem schwarzen Ledergürtel, der nur nachlässig um den schlanken Leib gelegt war, saßen einige blühende Rosen, und zu diesen steckte sie jetzt lächelnd das feine Pistol.

„Nun keine Furcht mehr, mein Herr! Sie sind so ernst. Zürnen Sie mir? Und haben Sie meinem guten Oheim einen Verweis gegeben? Gewiß, sonst hätte er nicht vorhin die traurige Armensünderstellung eingenommen!“

Der Schulrath fuhr mit der Hand in die Brustöffnung seines schwarzen Fracks, warf bei den Worten, die Rosa soeben sprach, einen ernsten Blick auf dieselbe, und ging dann mit heftigen Schritten nach dem Ende des Hausflurs.

„Sie werden immer zürnender!“ rief Rosa heiter, „o wahrhaftig, auch an dieser Miene, an diesem Gange, an dieser Handversteckung in den Frack erkenne ich den geistlichen Herrn!“

„Fräulein!“ sprach jetzt der Schulrath ernst und mit abgewendetem Gesicht, „Ihr ganzes Betragen scheint wenig Rücksicht zu nehmen auf dieses Haus!“

„Scheint? – der Schein trügt!“ antwortete Rosa, „das werde ich Ihnen beweisen, und dabei sollen Sie zugleich sehen, was ich bin. Das blieb ich Ihnen ja schuldig. Aber bitte, Sie sind nicht bös, Herr Schuloberst? zürnen auch nicht dem lieben Schnurr?“

[521] Sie ging zum Schulrathe hin, und bot ihm ihre schöne Hand. Dieser that, als sehe er es nicht, und verblieb in seiner Stellung.

„Also wirklich bös?“ fuhr sie langsam und lächelnd fort, und legte ihr Händlein, das sie ihm dargeboten, auf seine in der Brustöffnung des Fracks versteckte Hand.

Der Schulrath wich einen Schritt zurück.

„Als reuevolle Sünderin folge ich Ihnen nach,“ erklärte Rosa, während sie ihre kleine Hand ein Stück tiefer herabgleiten und dann wieder festruhen ließ. „Hier schlägt das Herz,“ fuhr sie fort, „ich fühle es schlagen. Gewiß ein gutes Herz, das unter diesem Frack schlägt. Für mich schlägt es nicht, für wen mag es schlagen, so recht in Liebe schlagen? Für Amt und Beruf? für Weib und Kind? O gewiß, für wen und was es auch schlägt, es schlägt gut.“

Sie sprach das mit so innigen, mit einem so tiefen Ausdrucke des Gefühls, daß man deutlich sah, wie es nicht etwas Gemachtes, sondern die reinste Natur war. Dabei blickte sie ihm tief in die Augen, musterte scharf den ganzen Kopf, es war, als steige eine Erinnerung in ihr auf.

„Ich glaube, auch die Hand ist gut, die sich da in der Herzgegend verstecken will,“ sprach sie dann langsam weiter, „Nur hübsch heraus damit, Herz und Hand machen ja eigentlich den ganzen Menschen!“

Und sie zupfte leise an dem Frackaufschlage, sie zupfte leise wieder, und langsam und leise glitt des Schulrathes Hand aus der Brustöffnung. Rosa aber ergriff die Hand und drückte ihre Lippen auf dieselbe.

Das Alles war sehr still und schweigend geschehen. Durch das Herz des Schulrathes waren tausend Gedanken und Empfindungen gegangen. Er blickte jetzt um sich. Rosa hatte sich schnell entfernt, stand beim Oheim Schnurr und gab diesem das Pistol.

„Hier nimm!“ rief sie, jetzt wieder in den heitern Ton fallend, „Dein Herr Oberst mit dem guten Herzen dort machte mir den Vorwurf, mein ganzes Betragen scheine wenig Rücksicht zu nehmen auf dieses Haus! Jetzt wird er sehen, daß ich ja doch wohl Rücksicht nehme auf dieses Haus, eine Rücksicht, die er nicht und die Du nicht nimmst. Vielleicht sieht er noch mehr dabei.“

„Was soll denn wieder losgehen? ich bitte Dich, Rosa! so eben warst Du so friedlich, so gut, ich bitte Dich doch!“ warnte halblaut Schnurr.

„Ist es nicht Schade um die Zeit?“ fragte sie, „und die zwei Herren stehen so müßig im Weinberge? Bitte, mir auf einige Augenblicke!“ wendete sie sich schnell an den Schulrath und nahm ihm die ABC-Buchblätter aus der Hand.

„Was wollen Sie, Fräulein?“ rief dieser ihr nach und schien wieder ausbessern zu wollen, was er vorhin an amtlichem Takt sich vergeben zu haben glaubte.

Aber Rosa öffnete eiligst die Schulstube, trat hinein, grüßte die Kinder, und von den Kindern zurück schallte fröhlich der Gruß heraus: „Schönguten Morgen, Fräulein Rosa!“

„Mein Gott! was soll das werden?“ hob der Schulrath an, „das ist denn doch zu arg!“

„Wegen des Pistols können der Herr Doctor ruhig sein!“ antwortete Schnurr und hielt mit sichtbarer Befriedigung die Waffe empor.

„Aber Ihr dummes Zeug! den Wolf, das Winkelmaß! Mein Gott, ich kann es nicht verantworten!“

„Belieben der Herr Doctor sich zu erinnern, daß Dieselben die traurigen Blätter in der Hand hatten,“ rechtfertigte sich Schnurr halblaut und mit einer Verbeugung; „diesmal bin ich nicht Schuld.“

„Und hat sie schon öfter Schule gehalten?“ fragte Jener, und trat aus dem Hinterraume des Hauses näher heran an die Stubenthüre,

„Noch niemals! Heute die erste derartige Ausschreitung! Aber hören Sie, wie gewandt, wie geschickt!“

Rosa, nachdem sie den Kindern eröffnet hatte, daß, da ihr Oheim Abhaltung habe, sie selbst jetzt ein Weilchen Unterricht ertheilen werde, war von dem vorhin abgebrochenen Tafelrechnen zum Kopfrechnen übergegangen. Die Kinder liebten sie ja. So gehorchten sie ihr auf’s Wort. Alles ging in bester Ordnung. Dem ermunternden Scherze fehlte der nöthige Ernst nicht, und sie stellte die Aufgaben so geschickt, half corrigirend so faßlich nach, als habe sie schon Jahre lang als Lehrerin fungirt.

Der Schulrath wurde aufmerksamer. Er hörte mit Schnurr dem Unterrichte zu. Das Rechnen war ein beruhigendes Oel in die Wogen der Gefühle, die kurz vorher noch stürmisch ihn bewegten. Er vergaß auf Augenblicke seinen Sohn und dessen Brief und alle die wichtigen Lebensfragen, welche sich daran knüpften.

Plötzlich trat er einige Schritte seitwärts und sann. Dann sagte er: „Schnurr, ich habe einen Plan.“

„Mit mir?“

„Auch mit. Hören Sie. Sie wissen doch, wie mein Sohn heißt?“

„Zu dienen, der Herr Assessor Theodor Werner.“

[522] „Und wohin war er neulich gereist?“

„Nach Berlin.“

„Wann?“

„Vor zwei Monaten.“

„Gut, Herr Schnurr, es wäre möglich, daß ich diese Antworten brauchte.“

Schnurr, dem das sehr räthselhaft vorkam, verbeugte sich vor seinem Gebieter. Dieser trat wieder näher. Beide horchten von Neuem der gewandten Lehrerin zu.

Nach etwa einer Viertelstunde schloß diese den Unterricht im Rechnen.

„Ich bin zufrieden mit euch!“ sagte sie, „und nun das Zweite! theils zur Ergötzlichkeit, theils zum Lernen! ich werde katechisiren!“

„Ah, ah!“ riefen fröhlich und in lauter Bewegung sämmtliche Kinder, „der Wolf und das Winkelmaß! die Nonne und der Nagelbohr!“

„Da haben wir’s!“ seufzte Schnurr, „was thun wir?“

„Treten Sie auf die Seite!“ befahl der Schulrath, „daß Sie nicht helfen können, sehe ich!“

Erschrocken wich Schnurr zurück. Der Schulrath klopfte an die Thüre, Rosa rief: „Herein!“

„Was nun?“ fragte unentschlossen der Schulrath. „Gehe ich hinein, so gibt es eine Scene! katechisiren aber über die Bilder kann ich sie nicht lassen, wer weiß, was sie da vorbrächte!“

Er klopfte nochmals, öffnete die Thüre ein Stück, und rief so freundlich und ruhig, als er es vermochte, in die Schulstube hinein: „Fräulein, Sie haben vortrefflich unterrichtet! Kommen Sie doch gefälligst, ich muß Ihnen wirklich mein vollstes Lob –“

„Sie kleiner Schmeichler!“ fiel schelmisch die Lehrerin ein und ergriff die in der Nähe liegende Ruthe und drohte mit derselben nach der Thüre hin.

Die Kinder lachten, der Schulrath klappte schnell die Thüre zu, erschrocken rufend: „Mein Gott! das fehlte noch! und nun katechisiren über die Bilder, dieses Instrument in der Hand!“

„Der Herr Doctor irrten sich wahrscheinlich, ich habe das Instrument!“ tröstete Schnurr und deutete auf das Pistol.

„Aufgepaßt!“ commandirte es drinnen, und man hörte einige Ruthenschläge auf den Tisch, „jetzt werde ich die Bilder vorzeigen!“

„Fräulein!“ rief mit dem Ausdrucke der Angst schnell durch die wiederum ein Stücklein geöffnete Thüre der Schulrath, „Fräulein, ich bitte Sie, ich sehe jetzt ganz, was sie sind!“

„Wirklich? Sehen Sie es? sehen Sie es ganz?“ fragte Rosa überrascht und mit jener ernsten Innigkeit, welche wir schon einmal an ihr wahrnahmen.

„Gewiß, ich erkenne es gründlich!“ versicherte Jener, „aber kommen Sie, ich habe eine Bitte!“

„Und ich bin fertig!“ erklärte Rosa, und legte die Ruthe aus der Hand. „Kinder,“ ermahnte sie noch ernst, „verhaltet euch ruhig, bis mein Oheim kommt!“

„Fräulein, was Sie sind, sind Sie meisterhaft!“ redete der aus seiner Angst erlöste Schulrath die Heraustretende an. Rosa lächelte, schüttelte das Haupt, sah ihn wiederum forschend an, als studire sie sein Gesicht, seinen Kopf unter irgend einer Erinnerung.

„Sie blicken so ernst mich an, Fräulein? Was fällt Ihnen auf an mir?“

„O nichts, nichts,“ entgegnete leise zusammenzuckend Rosa, und legte die Hand an die Stirn. „Sie sind noch immer ein schöner Mann.“ Sie sprach diese Worte ohne galante Emphase, ruhig, fast mit einem Anstriche von Wehmuth. „Mit der Schule sind wir fertig,“ fuhr sie dann lächelnd fort, indem sie ihm die ABC-Buchblätter gab, „ich weiß, daß Sie Angst hatten, und Sie wissen nun, daß ich Schauspielerin bin.“

„Das wußte ich schon vorher,“ entgegnete der Schulrath.

„Vorher? Also doch von Dir, Oheim?“ wendete sie sich nach Schnurr hin.

„Von mir kein Wort!“ versicherte dieser.

„Ich wußte es schon, ehe ich in’s Schulhaus trat,“ erklärte ernst der Vorige, „Fräulein, und ich weiß noch mehr.“

„Noch mehr? Mag das sein. Sie können von mir nichts Unrechtes wissen,“ gab Rosa zur Antwort. „Und was wissen Sie?“

Der Schulrath wendete sich unruhig ab, that einen raschen Gang durch den Hausraum, kehrte zurück auf seinen alten Platz.

„Mein Herr, Ihre jetzige Haltung befremdet mich,“ sprach mit ruhiger, stolzer Würde nun Rosa. „Das einzige Gut, das ich besitze, ist meine Ehre. Ich muß Ihnen das sagen, weil ich Schauspielerin bin. Mein Herr, was hält Sie ab, mir zu eröffnen, was Sie von mir wissen?“

„Herr Schnurr!“ versetzte der Schulrath nach einigem Schwanken und mit unsicherer Stimme, während er wie zitternd mit der Dose spielte, die Augen aber fest auf Rosa richtete.

„Haben der Herr Doctor zu befehlen, daß ich mich entferne?“ fragte Schnurr unterwürfig.

„Im Gegentheil,“ fuhr Jener unruhig fort, „Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Herr Schnurr. Ihre Schulmädchen könnten einen kleinen Act machen und zwar unter Ihrer Führung. Ein kleiner Aufzug, Kränze, weiße Kleider, ein hübscher Gesang, das würde so etwa das Nöthige sein. Nach einigen Tagen nämlich wird die Braut meines Sohnes hier durchreisen; mein Sohn wird ihr bis in’s Dorf entgegenkommen; es wäre mir lieb, wenn Sie mit Ihren Schulkindern –“

„O, ich verstehe,“ versetzte Schnurr erfreut, „also Bräutigam der Herr Sohn? ich bringe dem Herrn Vater meine herzliche Gratulation dar!“ fügte er unter Verbeugungen hinzu.

„Und Sie kennen meinen Sohn, Herr Schnurr?“

„O, zu dienen!“

„Sie dürften vielleicht bei der freundlichen Begrüßung der Braut seinen Namen gebrauchen. Wissen Sie, wie mein Sohn heißt?“ „Theodor!“ rief Schnurr, „zu dienen! da könnte man den Namen aus Blumen bilden.“

„Theodor?“ wiederholte kaum hörbar Rosa und trat einen Schritt zurück, flüchtig und nur mit einem Blicke die Züge des Schulrathes musternd, und dann erröthend die Augen niederschlagend.

„Und Sie wußten noch nicht, daß er Bräutigam?“ fragte der Schulrath weiter. „Wußten Sie auch nicht, daß er neulich verreist gewesen?“

„Das wußte ich, der Herr Assessor Theodor war in Berlin,“ entgegnete Schnurr.

„Sie können diesen Umstand vielleicht ebenfalls bei der kleinen Feier benutzen, – und wann war er in Berlin?“

„Zu dienen, der Herr Assessor Theodor waren vor etwa zwei Monaten in Berlin.“

Rosa erblaßte. Sie legte die Hände vor’s Gesicht, und wendete sich seitwärts.

„Das würde sich bei der Feier kaum anbringen lassen,“ meinte der Schulrath, dem nichts entging, was mit Rosa sich zutrug.

„Und doch,“ erinnerte Schnurr, „wenn der Herr Doctor erlauben, könnte man das richtige Datum des Verlobungstages ebenfalls aus Blumen winden.“

„Ich werde Ihnen das Datum später sagen,“ antwortete der Schulrath, „es ist vielleicht auch nicht nöthig,“ setzte er zerstreut und nicht ohne Bewegung hinzu, die Augen noch immer auf Rosa gerichtet.

Diese aber, beharrend in der abgewendeten Stellung, zog die Hände jetzt nieder vom Gesicht, griff tief in ihren Busen und nahm aus einem Medaillon einen kleinen, zusammengefalteten Papierstreifen hervor. Denselben öffnend und dann mit feuchten Augen überfliegend, trat sie zu Schnurr und fragte leise: „Oheim, kennst Du vielleicht diese Handschrift? Lies nicht laut. Sage blos ja oder nein.“

Schnurr las. Verwundert besah er den Zettel, drehte ihn vor den Augen hin und her. „Also blos ja oder nein?“ fragte er.

„So bitte ich,“ erwiderte Rosa bleich und gespannt.

„So muß ich nein sagen, aber sonderbar, diese Unterschrift, wenn ich nur wüßte, kennst Du denn –“

„Still, lieber Oheim!“ bat Rosa, und nahm den Papierstreifen. Sie legte sinnend die Hand an die Stirn. Man sah, wie der Papierstreifen in der schönen Hand zitterte.

„Mein Herr,“ sprach sie, indem sie das gesenkte Haupt erhob, „das muß zu Ende! Jetzt glaube ich Ihr Wort zu verstehen! Sagten Sie nicht, Sie wüßten noch mehr? O lassen Sie uns aufrichtig sein! Aus meinem heitern Spiel ist ein heiliger Ernst gestiegen, diese Augenblicke sind kein Spiel!“ Leuchtende Thränen in den Augen trat sie zum Schulrathe und fragte: „Kennen auch Sie diese Handschrift nicht?“

Der Schulrath nahm das Billet. Auch in seiner Hand zitterte dasselbe, und geschrieben auf dem Billet standen die Worte, welche der Schulrath vernehmbar, aber mit bewegter Stimme las:

[523] „Verehrte Rosa, morgen reise ich ab. Mein Herz mit tausend Gefühlen bleibt bei Ihnen zurück. Die wenigen Tage waren hinreichend für mich, zu erkennen, daß ich Sie liebe. Ihr Verhältniß mit Herrn Rauschenbach scheint mir nicht ernster Natur zu sein, und so drängte es mich, Ihnen mein gegenwärtiges Geständniß zu geben. Wir werden uns wiedersehen, geliebte Rosa, und dann wird sich mein Schicksal entscheiden.“       „Theodor.“

Eine Pause trat ein. Der Schulrath überflog das Billet nochmals. Dann erklärte er: „Das ist die Handschrift meines Sohnes! Es betrübt mich! Fräulein, ich bin Ihnen die Wahrheit schuldig!“

Rosa erwiderte kein Wort. Aus ihren Augen fielen Thränen auf das reine Morgengewand. Sie fuhr leicht mit den Fingern über die Augen hin, verneigte sich, floh die Treppe hinauf, aus dem Schmerze auch leuchtete Grazie.

Dicht an der Treppe verlor sie eine der Rosen, die sie im Gürtel trug. Der von Räthseln umstrickte Schnurr hob sie auf, wollte sie nachreichen.

„Laß das – hier sind auch die andern!“ sprach schmerzlich lächelnd Rosa, und warf die übrigen von der Treppe herab. Ich brach die Blumen heute früh unter Träumen, die nun fallen müssen, – und so mögen auch die Rosen fallen.“

Schnurr las die Rosen zusammen, seine Nichte war auf ihr Zimmer geeilt, und in demselben Augenblicke kam auch schon seine Magd herab und holte einen Koffer hinauf, wobei die Erklärung fiel, daß das Fräulein noch diesen Vormittag abreisen wolle.

„Das wäre ja traurig; das wird sie doch nicht!“ seufzte Schnurr. „Der Herr Doctor könnten das wohl verhindern. Ich verstehe nichts von Allem, – weiß nicht, was mit dem Billet geschehen ist.“

„Das hat mein Sohn geschrieben – an Ihre Nichte geschrieben!“ herrschte der Schulrath vor sich hin, während er noch keinen Schritt von seinem Platze gewichen war und das Billet fest in der Hand hielt.

„Ich verstehe das nicht,“ erwiderte Jener, demüthig auf das Pistol und die Rosen blickend.

„Ist’s denn so schwer? Mein Sohn hat sich in Ihre Nichte verliebt!“

„Aber der Herr Doctor sagten doch, er habe eine Braut?“

„Zum Schein!“

„Eine Braut zum Schein? – aber der Actus, der festliche Empfang durch die Schulkinder –?“

„Zum Schein!“ wiederholte heftig der Schulrath.

„Also nur eine Scheinbraut, – und da müßte doch Alles bei dem Actus anders eingerichtet werden. Die Schulkinder z. B. müßten –“

„Ich bitte Sie, Herr Schnurr, denken Sie doch lieber jetzt in anderer Beziehung an Ihre Schulkinder!“ entgegnete Jener, indem er schnell herbei schritt, die Stubenthüre öffnete und hineinrief:

„Gehet ruhig nach Hause, Kinder, Euer Herr Schnurr hat nicht Zeit, hat mit mir zu thun! Nehmen Sie doch das infame Pistol weg, Herr Schnurr!“ wendete er sich wieder an diesen, der nun mit Pistol und Rosen schnell unter den Rock fuhr, und dann die an ihm vorüberziehenden Kinder zu einem ruhigen Nachhausegehen ermahnte.

„Haben der Herr Doctor wirklich noch mit mir zu thun?“ fragte Schnurr kleinlaut, als die Schulkinder hinaus waren, und hielt nun Pistol und Rosen wieder frei in der Hand.

„Es ist gut, daß sie abreist!“ sagte der heftig schreitende Schulrath. „Sie liebt ihn, liebt ihn leidenschaftlich – und er – o, er darf sie nicht sehen! Herr Schnurr, reden Sie ihr also nicht zu, die Abreise zu unterlassen!“

„Die Abreise?“ seufzte dieser.

„Die sofortige, augenblickliche Abreise!“ erwiderte Jener in einem befehlenden Tone.

„Der Herr Doctor erlauben, daß das nicht geht,“ antwortete Schnurr verletzt, und sah betrübt auf Waffe und Blumen, „ich wäre der undankbarste Mensch unter der Sonne, wenn ich sie so ziehen lassen sollte. Der Herr Doctor wissen nicht, wie ich ihr verbunden, was sie an mir gethan, wissen nicht, wie edel sie ist.“

„Nun?“

„Ich habe ihr versprechen müssen, das nicht zu sagen – also wiederum edel. Und der Herr Doctor wissen, daß selbst unter den Barbaren das sogenannte Gastrecht oder die sogenannte Gastfreundschaft –“ er stockte – er verbeugte sich – „und sie ist meine Nichte, sie hat nichts Böses gethan, und dies ist meine Wohnung, wenn Sie wollen, mein Heerd, – auch Napoleon wollte sich einst niedersetzen an Englands Heerd, und der Herr Doctor dürften wissen, – o, was auch daraus entstehen mag, lieber will ich sterben, als gegen meine Wohlthäterin undankbar sein!“

Der Schulrath sah bedenklich vor sich hin. Er zog beide Papiere hervor, las nochmals den Bleistiftbrief, welchen er vorhin von seinem Sohne empfing, nochmals das Billet, welches derselbe an Rosa geschrieben. Er verglich sie gegenseitig – blieb stehen – that wieder einige Schritte. „Richtig, richtig – und wie konnte ich so Wichtiges vergessen? „„Das Verhältnis mit Herrn Rauschenbach scheint mir nicht ernster Natur zu sein, – und so drängte es mich, Ihnen mein gegenwärtiges Geständniß zu geben,““ – las er halblaut aus dem einen Billet, und blickte dann in das andere. „Ganz richtig, auch hier ist das Verhältniß zwischen ihr und dem Schauspieler Rauschenbach angedeutet – wie konnte ich das vergessen? Also heute Den, morgen Jenen!“ –

„Du wirst doch nicht wirklich gehen wollen, Rosa? Was habe ich Dir zu Leid gethan? Bin ich denn Schuld? Du wirst nicht abreisen, liebe Nichte!“ rief jetzt Schnurr zur Treppe hinauf.

Rosa kam herab. Der Schulrath erschrak, aber er faßte sich unter den Worten: „es muß geschehen!“ Mit den Briefen und den ABC-Buchblättern in der Linken und die Rechte in die Brustöffnung des Fracks steckend, trat er an die Treppe. „Fräulein,“ sprach er gezwungen, „erlauben Sie mir vor Ihrer Abreise wohl noch eine Frage?“

„Es gibt Minuten im Leben, wo jede Frage uns lästig, jede Antwort uns schwer wird,“ entgegnete die Angeredete ruhig und still.

„Kann aber meine Antwort zu Ihrem Frieden dienen, so will ich sie gern geben. Wollen wir nicht in’s Zimmer treten?“

Schnurr öffnete die saubere Wohnstube und folgte den Eintretenden.

„Was wünschen Sie mich zu fragen?“ begann hier Rosa. „Sie scheinen zu zögern! – Aufrichtig gestanden, mein Herr – Sie begreifen, daß mir es genehm sein muß, wenn Sie alle Fragen unterlassen können, doch bin ich auch bereit, Ihnen zu dienen.“

„Nur die einzige Frage, Fräulein, erlauben Sie mir,“ antwortete verlegen der Schulrath, „kannten Sie – kennen Sie – ist nicht mit Ihnen der Schauspieler Herr Rauschenbach bekannt?“

„Mein Herr,“ antwortete Rosa und trat stolz einen Schritt zurück, „mögen Sie diesen Namen nur aus dem Billet kennen, welches Ihr Herr Sohn an mich geschrieben, oder mag Letzterer Ihnen davon erzählt haben – es dürfte jetzt wenig Interesse für Sie haben, von einem Manne mit Ihnen zu sprechen, der die Schuld selbst trägt, daß ich nicht mehr mit ihm bekannt bin.“

„Also nicht mehr, – und warum nicht mehr?“ fragte der Schulrath nach einer Pause, „dürfte ich bitten, Fräulein?“

„Sie begreifen wohl, mein Herr,“ entgegnete mit schmerzlichem Lächeln Rosa, „daß es gegen das Gefühl der Frauen läuft, wenn sie von den Gebrechen eines Mannes reden sollen, der ihnen näher stand – Frauen sollen entschuldigen und zudecken. Und bedenken Sie, mein Herr, in welcher Stellung ich mich Ihnen gegenüber jetzt befinde. Haben Sie noch sonst eine Frage? Ich bitte um Eile – ich reise in dieser Stunde ab, und habe noch zu packen.“

Der Schulrath sah zerstreut vor sich hin, dann erhob er unruhig seinen Blick wieder zu dem Mädchen und sprach: „Ich hätte noch so Manches zu fragen.“

„Besorge mir einen Wagen, lieber Oheim!“ wendete sich Rosa an Schnurr.

„Du wirst doch nicht reisen, liebe Nichte, Du wirst nicht?“ bat dieser.

„Herr Schnurr, ich glaube, das Fräulein hat den richtigen Takt,“ warf der Schulrath hin.

„Takt, Takt!“ entgegnete Schnurr. „Aber was gibt’s denn im Garten?“ fuhr er fort, „wer kommt denn durch die Hinterthüre?“

Man hörte das Zuschlagen der Hofthüre, die zum Obstgarten führte; starke Schritte klangen schon durch die Hausflur.

„Das kann doch die Magd nicht sein,“ setzte Schnurr hinzu und wollte hinaus. Draußen erklang Theodor’s Stimme. Rosa bedeckte mit beiden Händen ihr Gesicht und floh in’s Nebengemach, ohne ein Wort, ohne einen Laut von sich zu geben.

Schnell öffnete sich die Stube. Herein trat der Assessor Theodor.


V.


„Theodor, Du?“ rief erschrocken der Schulrath.

„Ich, mein Vater! Willst Du zürnen, so thue es!“ sagte Theodor fest und ruhig. „Der heutige Tag ließ mich das erste [524] Wort über Rosa Dir eröffnen, der heutige Tag muß auch Alles zum Abschluß bringen, was an dieses erste Wort sich knüpft! Du weißt, was ich vor nur zwei Stunden Dir schrieb.“

„Das weiß ich, mein Sohn,“ versetzte der Schulrath und hielt bestürzt das mit Bleistift geschriebene Billet empor.

„Und woher hast Du das zweite Papier, das ich in Deiner Hand sehe? den Brief, den ich an Rosa schrieb, als ich von Berlin abreiste? Mein theurer Vater, was ist das? Gab Dir Rosa diesen Brief? Und wo ist sie?“ Der Schulrath trat in’s Fenster und schwieg. „Hat Rosa auch den Brief gelesen, den ich an Dich schrieb, Vater?“ Der Schulrath schwieg fort. „Vater, hat sie meinen heutigen Brief an Dich gelesen?“ fragte der Sohn mit gesteigerter Stimme weiter. „Du hast beide Briefe in der Hand, und der eine ist so wichtig wie der andere! O, sei gerecht, Vater! Rede mit mir, antworte mir! Siehe, ich konnte nicht zurück nach Magdeburg, hierher trieb es mich, zu Dir und zu Rosa mußte ich! Hat sie den Brief gelesen, den ich Dir heute gab und den Du noch in Deiner Hand hältst, o dann weiß sie ja, wie ich sie liebe, dann weiß sie ja Alles, und mein Schicksal wird und kann sich dann sofort entscheiden! Was wissen Sie, Herr Schnurr?“ redete er diesen an, da sein Vater noch immer starr und schweigend im Fenster stand. „Hat Rosa –“

„Rosa hat Dero Brief nicht gelesen,“ antwortete Schnurr ängstlich.

„Hat mein Vater nichts davon erwähnt?“

„Nichts davon erwähnt, kein Wörtlein, im Gegentheil, Dero Herr Vater sind –“

„Herr Schnurr!“ warnte der Schulrath vom Fenster her, ohne sich umzusehen. Schnurr schwieg.

„Und wo ist Ihre Nichte. Herr Schnurr? Kommen Sie, führen Sie mich zu ihr!“

„Theodor!“ warnte der Schulrath vom Fenster her, ohne sich umzusehen.

„Rosa will in einer Stunde abreisen,“ sagte Schnurr, „sie hat noch einzupacken –“

„Sie reist ab?“ fiel Theodor ein.

„Weil der Herr Assessor Bräutigam sind.“

„Herr Schnurr!“ klang es vom Fenster her.

„Gerechter Gott, ich Bräutigam?“

„Wenigstens ein Scheinbräutigam, wie Dero Herr Vater mir andeuteten.“

„Vater!“ rief schmerzlich Theodor nach einer Pause, „ich ahne, was Du gethan! Ist es denn möglich? Kannst Du so spielen mit den Gefühlen Deines Sohnes und mit seinem Glücke? Vater, bin ich nicht Dein einziges Kind? Weißt Du nicht, wie ich Dich liebe?“

Und hin trat er an’s Fenster. Tiefer neigte sich der Vater, er wollte die Thränen nicht sehen lassen, die in seinen Augen schwammen – freiwillig, ohne sich umzublicken, ohne ein Wort zu reden, öffnete er die auf dem Rücken ruhende Hand, und ließ beide Briefe und die ABC-Buchblätter niederfallen. Theodor hob Alles auf. Dann ergriff er die Hand des Vaters, drückte sie an sein Herz und wendete sich schnell an Schnurr mit den Worten: „Wo ist Rosa? Führen Sie mich zu ihr! oder,“ setzte er nach einer Pause hinzu, „besser so, besser – bringen Sie ihr diesen Brief und sagen Sie ihr, ich sei hier! – Ja, ja, lesen erst muß sie diese Worte, die ich schrieb, – dann will ich zu ihr! Eilen Sie, Herr Schnurr! Alles muß sich entscheiden, wenn sie den Brief gelesen! Wo ist sie? O, eilen Sie zu ihr!“

„Armer Herr Assessor!“ erwiderte Schnurr, indem er den Brief aus Theodor’s Hand zögernd annahm und leise nach der Thür des Nebengemaches ging.

Und plötzlich drehte sich der Schulrath um, entriß Schnurr’s Hand das Billet, steckte es durch die Thüre des Nebengemaches, die er nur so weit öffnete, daß er mit dem Arme hindurch konnte, und dann schnell wieder in’s Schloß drückte.

„O, warum wirfst Du ihn nicht lieber in’s Feuer, mein Vater? Laß mir den Brief! Rosa muß ihn haben! Schnell gewinnt sie durch ihn einen klaren Einblick in den Stand der Dinge, in mein Herz, in meine Liebe zu ihr!“

Er eilte auf das Nebengemach zu, um den Brief zu holen. Der Schulrath vertrat ihm den Weg, und als der Sohn dennoch nach der Thüre drängte, fiel der Vater dem Sohne an die Brust.

„Mein Vater, mein theurer Vater!“ rief Theodor, „ich sehe es, Du bist bewegt, Du bist in einen, schweren Kampfe mit Dir selbst! Du willst mein Glück – und doch, und doch! – O, gib mir den Brief, dann eile ich zu Rosa, – Vater, ich lasse nicht von ihr!“

„Und ich nicht von ihm!“ klang es durch die plötzlich sich aufthuende Thüre, und Rosa umschlang Vater und Sohn, die an der Brust sich lagen. „O, wie ich Dich liebe, Theodor, das weiß Dein Vater! Nicht wahr, Vater,“ fuhr sie fort, und fester umschloß sie mit ihren schwellenden Armen beide Männer, und blickte mit thränengefüllten Augen sie an, „nicht wahr, ich habe ihn lieb? Ich kann nicht von Theodor lassen? Und wie ich von ihm nicht lasse, so will ich mit ihm auch von Dir nicht lassen! Auch ich nenne Dich nun Vater, wie Theodor Dich nennt, und Theodor und ich lassen nicht von Dir!“

Thränen leuchteten jetzt in Aller Augen. Eine feierliche Pause trat ein. Umschlungen noch hielten sich alle Drei.

Schnurr aber hob hoch die Rosen empor und sprach: „So steht’s geschrieben: Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!“

Nicht lange mehr, da hob der Schulrath seine Hand empor und griff nach den Rosen. Er theilte sie unter Beide, er segnete Beide.

Sollen wir beschreiben, wie die nächsten Stunden verstrichen? Sollen wir das Glück schildern, das wie ein Paradiesstrom jetzt durch das Schulhaus rauschte? Wir brauchen das nicht.

[533]
VI.

Vor dem Schulhause hielt der Wagen. Vater und Sohn traten hinaus, begleitet von Rosa und Schnurr. Der Tag, wo sich Alle wiedersehen wollten, war, wie vieles Andere, bereits festgestellt. So nahm man jetzt getrost und fröhlich Abschied. Der Wagen rollte dahin, und unter den Grüßen, die man sich gegenseitig noch zuwarf, so lange der Wagen sichtbar war, tauchte ein heiliger Ernst empor in Aller Herzen. Man gedachte still der Wichtigkeit des nun niedersinkenden Tages, – der mächtigen Wendung des Schicksals, die er gebracht, der Zukunft, welche an ihn sich knüpfen sollte.

Als der Wagen verschwand, stand Rosa eine Weile noch gedankenvoll.

„Woran denkst Du, Rosa?“ fragte Schnurr.

„An meine Eltern,“ antwortete Rosa, „ich wünschte, sie hätten diesen Tag erlebt!“ Als wollte sie die wehmüthige Stimmung, welche sich ihrer zu bemeistern drohte, zurückdrängen, ergriff sie Schnurr’s Hand und fragte lächelnd: „Und Du, Oheim? Was würdest Du wünschen, wenn Du auf den vergangenen Tag blickst?“

„Daß ich kein alter Junggesell geblieben sein möchte!“ entgegnete Schnurr. „Ein Glück, wie es dieser Tag brachte, kann doch nur im Familienleben erwachsen.“

Er hatte dies mit einem Anfluge von Wehmuth gesprochen. Um dieselbe auch bei ihm zu verscheuchen, gab Rosa dem Gange der Rede und Gedanken eine andere Wendung. Sie erwähnte die ersten Frühstunden, die Anfänge des Tages, und kam somit schnell auf die ABC-Buchblätter und deren stattgehabte Anwendung. Ein heiterer Zug ging nun durch ihre Unterhaltung.

Der Schulrath und Theodor unterhielten sich auch. Und als der Wagen an den „schwarzen Bär“ kam, und der Wirth an der Hausthüre erschien, erinnerten sich Beide ebenfalls der Anfänge dieses Tages. Sie sprachen von ihrem Eintritte in das Wirthshaus, von dem Lachen der Bauern, welches ihnen laut entgegen geschallt.

Da gedachte Theodor plötzlich des Umstandes, daß ja auch in dem „Anzeiger“, welchen der Dorfrichter vorgelesen, von einem alten ABC-Buche die Rede gewesen sei. – Als junger Criminalbeamter, als täglicher Inquirent fühlte er augenblicklich eine Vermuthung in sich aufbrennen. Er griff in die Seitentasche seines Rockes, in welche er im Schulhause jene bekannten zwei Briefe sammt den ABC-Buchblättern willenlos und ohne Absicht gesteckt hatte. Er zog die ABC-Buchblätter hervor. Der Schulrath freute sich, daß sie da waren, weil er sie ja zu seinen Revisionscuriositäten legen wollte.

„Habe ich doch im Strudel der Ereignisse versäumt, zum Dorfkrämer zu schicken, um nachzufragen, ob er auch die übrigen Blätter des Büchleins mir ablassen könne,“ hob er an; „erinnere mich mit daran, daß ich das späterhin nachhole.“

„Sind diese Blätter vom Dorfkrämer?“ fragte Theodor, ohne daß der Vater weder eine Wichtigkeit dieser Frage noch eine aufkeimende Besorgniß im Herzen seines Sohnes dabei ahnte.

„Vom Dorfkrämer – so schien es.“

„Du weißt es nicht gewiß?“

„Nein.“

„Und Schnurr?“

„Der schien sie eben vom Dorfkrämer zu haben. Wenigstens behauptete er, es sei Packpapier.“

„Nicht sowohl eingepackt, mehr eingerollt muß Etwas in das Papier gewesen sein. Besonders das eine hier zeigt Narben, welche ausgeglättet sind.“

„Das bemerkte ich auch, und wahrscheinlich hat das Schnurr gethan, um sie in Gebrauch zu nehmen und dann aufzubewahren.“

Theodor ließ den Wagen anhalten. Er rief den Wirth herüber und bat ihn, das Blatt herauszubringen, welches der Dorfrichter heute früh vorgelesen. Der Wirth brachte das Blatt, Theodor las. Er erblaßte, – der Diebstahl von 200 Stück Louisd’or war bei demjenigen Theaterdirector verübt worden, bei welchem auch Rosa eine Zeit hindurch engagirt war, und dessen Spielorte die Städte in der Nähe von Berlin gewesen waren, während er zuweilen auch in Berlin selbst spielte, wo er ein Nebentheater hielt.

Als er den Wirth wieder fortgeschickt hatte, sagte Theodor: „Nach einer Stunde fährt hier die Post durch. Mit ihr werde ich nach Magdeburg kommen. Fahre Du immer voraus, Vater. Ich muß zurück zu Schnurr, ich muß wissen, woher er diese Blätter bekam.“

Der Vater sah lächelnd ihn an und fragte: „Zu Schnurr allein? Nicht auch zu Rosa?“ Als Theodor aber sinnend stand und nichts darauf antwortete, sprach der Schulrath befremdet weiter: „Du kommst mir verändert vor, was hast Du?“

„Hier, lies die Anzeige von dem Diebstahl,“ sagte bewegt der Sohn, während er aus dem Wagen stieg, „und wenn nur das leiseste Mißtrauen gegen – – o Vater, es ist ja nicht möglich!“

Der Vater las. Theodor ging unruhig am Wagen hin und her.

„Möglich ist Alles,“ sagte ernst der Vater, indem er dem Sohne das Blatt zurückgab. „Eine wahre, beglückende Liebe muß sich auf gegenseitiges Vertrauen gründen. Gehe hin, sprich offen mit ihr.“

[534] „Mit Rosa?“ fragte staunend und fast entrüstet Theodor.

„Hast Du denn schon einen unwürdigen Verdacht gegen sie?“

„Täuschest Du Dich nicht, so mußt Du gestehen, daß Du selbst Verdacht schöpftest. Willst Du, so bin ich bereit, mit ihr zu reden. Sie hat im Dorfe viel Geld ausgegeben – –“

„Vater, ich bitte Dich!“ fiel Theodor ihm in’s Wort, „schon solch ein Gedanke ist Verrath, ist Sünde und Schmach! – Nein, nein, Du darfst nicht mit ihr reden, Du gar nicht – auch ich –“ sprach er überlegend weiter, „auch ich darf jetzt nicht hin, – ich muß mit Schnurr sprechen, muß ihn allein haben! Fahre Du ruhig nach Hause. Alles wirst Du ja von mir hören, das verspreche ich Dir, Vater!“

Er reichte ihm die Hand. Er nöthigte, er drängte ihn zur Abreise. Ehe eine Minute verging, war der Schulrath hinweg.

Theodor rief den Wirth. Dieser mußte im Namen des Dorfrichters zum Schulmeister schicken mit dem Gesuch, derselbe möge sogleich zu einer wichtigen Gemeindeberathung in den „schwarzen Bär“ kommen, die Sache sei dringend.

Kaum war der Bote zurück, so sah man auch schon den Schulmeister herschreiten auf einem Feldwege. Der Wirth, der nicht ahnte, was es galt, stand doch neugierig. Er sprach von einer stillen Oberstube, und wie dieselbe geeignet sei, ungestört und ungesehen dort eine Verhandlung abzuhalten. Aber Theodor dankte ablehnend. Er empfahl sich und ging dem Kommenden entgegen. Als er ihn erreicht hatte, schlug er einen Weg mit ihm ein, der durch hohes Korn führte.

„Lassen Sie mich schnell zur Hauptsache kommen,“ sprach Theodor, nachdem er die Begrüßung des Verwunderten erwidert und ihm erklärt hatte, daß die Citation nicht vom Dorfrichter, sondern von ihm selbst ausgegangen sei. „Theilen Sie mir ohne Umschweife eine ehrliche Antwort mit auf einige Fragen, die ich jetzt an Sie richten muß.“

„Ohne Umschweife,“ entgegnete Schnurr, „aber ich kann mich nicht genug verwundern, daß der Herr Assessor nicht mit hin in mein Haus wollen.“

„Vielleicht gehe ich noch mit, nur geben Sie mir erst Antwort.“

„So fragen Sie denn. Ich bin mir keines Unrechtes bewußt. Ist etwas vorgefallen zwischen Ihnen und Dero Herrn Vater? Gibt’s etwas mit Rosa, mit meiner Schule?“

„Woher haben Sie diese Blätter?“ fragte Theodor, indem er die Blätter hervorzog und sie ihm hinwies.

Schnurr lächelte zwar, konnte aber seine Verlegenheit nicht verbergen. „Was ich Dero Herrn Vater davon sagte, kann ich auch Ihnen sagen,“ antwortete er dann. „Ich habe diese Blätter als Packpapier erhalten.“

„Sie wissen doch gewiß, von wem, lieber Herr Schmitt?“

„Weiter kann ich nicht gehen,“ versicherte Schnurr, „sonst müßte ich mehr erzählen, und das darf ich nicht, weil ich mein Wort gab, darüber zu schweigen gegen Jedermann. Freilich gegen Sie, Herr Assessor, gerade gegen Sie – aber als Jurist werden Sie mir Recht geben – Wort ist Wort – auch gegen Sie muß ich schweigen.“

„Sie haben diese Blätter von Rosa?“ fragte leise bebend Theodor.

„Wer hätte das gesagt? Aber Packpapier war’s – o, Sie wissen nicht, wie glücklich ich wurde!“

„Diese Papiere könnten Sie noch in große Verlegenheit bringen, darum reden Sie offen, Herr Schnurr. Seit wann sind diese Blätter in Ihren Händen?“

„In Verlegenheit? Das wolle Gott verhüten!“

„Seit wann haben Sie diese Blätter?“ wiederholte Theodor.

„Seit acht Tagen.“

„So steht es fest, Sie haben diese Blätter von Rosa!“ rief schmerzlich Theodor.

„Um Gott, warum sind der Herr Assessor so erschrocken?“ versetzte im eigenen Erschrockensein Schnurr. „Ihr Verhältniß mit Rosa – Sie sind ja mit ihr ein Herz und eine Seele – und ich werde meiner Nichte mittheilen, daß ich es Ihnen entdeckte – nur Ihnen, und nur unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit, damit Sie aus der Unruhe kommen, in welcher ich Sie sehe – und Gott, ich selbst bin ja unruhig!“

„Haben Sie gesehen, daß Gold in diese Blätter gepackt war?“ fragte kaum hörbar Theodor, „nahm Rosa Gold heraus, ehe sie die Papiere Ihnen gab? Reden Sie, wie war es? Sie sagten, daß Sie durch diese Blätter glücklich wurden. Da hat Rosa wohl einige Goldstücke für Sie darin gelassen, hat sie Ihnen geschenkt?“

„Das Ganze!“ antwortete Schnurr halb freudig, halb furchtsam. „Sie hat die Rolle gar nicht aufgemacht, sie hat mir dieselbe, gleich ganz gegeben. Der Herr Assessor sollen nun Alles wissen, fuhr er fort, und strich sich mit dem Tuche den Schweiß von der Stirn, „damit der Herr Assessor nur ruhig werden, und ich dazu, denn ich begreife doch nicht – was soll aber sein mit dem Gelte? Sie hat mir’s geschenkt, und das kann sie doch? – Als sie angekommen war und ihre Sachen auspackte, trat sie zu mir und sagte: „„Hier, Oheim, bringe ich Dir auch ein Andenken mit. Nimm es für Dein Alter. Für mich knüpft sich eine trübe Erinnerung an dieses Geld, – ich mag es nicht behalten. Dir wird es lieb sein für Dein Alter.““ Nun nahm ich es, Herr Assessor, und ich dachte, es wären etwa zwanzig bis dreißig Thaler. Aber denken Sie, als! ich die Rolle aufmachte, lagen hundert blanke Louisd’or darin! Da! staunte ich und meinte, das sei doch zu viel zum Wegschenken. Aber Sie wissen, wie sie ist. Sie lächelte, war heiter und guter Dinge und sprach: „„Du bist ganz starr vor Freude, Oheim, da wirst Du viel Lärm machen, viel rühmen, viel erzählen? Komm und versprich mir, daß Du keinem Menschen etwas davon sagen willst!““

Ich mußte es ihr mit der Hand versprechen. Und als ich sie dann fragte, ob sie vielleicht gewonnen, ob sie vielleicht das heillose Pharo gespielt, da lachte sie und antwortete: „„Nein, nur Lotterie.““ Und das glaube, ich auch. Der Herr Assessor werden wissen, daß die preußische Lotterie mit Gold auszahlt.“

Es war, als wollte bei dieser letzten Mittheilung ein Lichtschimmer in Theodor’s umnachtete Seele fallen. Aber sofort verschwand er wieder. Diebstahl, Theaterdirector. Blätter – sie stellten den nächtlichen Zusammenhang schnell wieder her. Selbst Rosas Aeußerung, daß eine trübe Erinnerung an dieses Geld sich knüpfe, daß sie dasselbe nicht behalten möge, – reihte ein neues, schwarzes Glied in das Ganze, und drückte schwer auf Theodor’s ahnendes Herz. Mit niedergeschlagenem Blicke stand er da. Was sollte er thun? Dem Schulmeister Alles mittheilen? Der konnte ihm nicht helfen, konnte nur ängstlicher werden, als er es schon war, und in dieser Angst die Verwirrung vermehren, den Weg der Besonnenheit und Vorsicht, der hier eingehalten werden mußte, nur störend durchkreuzen. Oder sollte er hin zu Rosa, wie sein Vater es angedeutet? Wie wollte er aber ihrem Engelsblicke gegenüber mit der innern Anklage ruhig erscheinen? Und noch kämpfte er ja selbst gegen eine innere Anklage – noch bemühete er sich ja, auch den Verdacht, auch die Ahnung niederzuschlagen; – jetzt nicht, heute nicht durfte er zu Rosa, das fühlte er tief. Oder sollte er zu seinem Vater? Auch das nicht. Der konnte die Verwirrung so gut vermehren, wie er dies von Schnurr befürchten mußte. Ja, er wußte, daß sein Vater in diesen zusammentreffenden Umständen die stärksten Verdachtsgründe finden, wohl gar von der Schuld völlig überzeugt sein würde.

Er dachte, er sann, während er stehen blieb und mit der Hand über die Kornähren hinstrich. Schnurr fragte seufzend nach der Ursache dieser traurigen Umwandlung, welche so plötzlich eingetreten war,

„Nur einen Weg gibt es, auf welchem ich vielleicht mehr Licht erhalten kann, ihn muß ich betreten!“ sagte Theodor still vor sich hin, ohne auf Schnurr’s Fragen zu achten.

Als sei er seines Planes sich jetzt vollkommen bewußt, als habe er denselben geprüft und gut befunden, wendete er sich dann scheinbar heiter an Schnurr und sprach: „Sie können ganz ruhig sein! Sie kommen weder in Verlegenheit, noch verlieren Sie Ihr Geld! Gehen Sie getrost nach Hause! Aber Eins müssen Sie mir versprechen!“

„Eins? Fordern Sie zehnerlei,“ antwortete Schnurr in seiner Freude, „und ich will Alles erfüllen, wenn sich’s verträgt mit meinem Gewissen! Mir ist nun ein Stein vom Herzen, und ich sehe, auch dem Herrn Assessor ist’s leichter. Also eine Irrung war’s? Nun haben Sie Licht? sind wieder ruhig?“

„Gewiß,“ entgegnete Theodor, dem Alles daran lag, daß Schnurr durch Wehmuth und Traurigkeit bei Rosa keinen Verdacht erwecke, „aber ich würde wieder sehr unruhig werden, und Rosa würde es zugleich mit mir werden, wenn Sie ein einziges Wort verriethen von dem, was wir jetzt zusammen verhandelten! Also schweigen sollen Sie. Rosa darf nicht wissen, daß wir uns jetzt sahen und sprachen. Geben Sie mir Ihr Wort, vollkommen darüber zu schweigen!“

„Gern, Herr Assessor! das läuft nicht gegen das Gewissen!“ versetzte Schnurr und gab ihm feierlich die Hand. „Bin ich doch [535] froh, daß dieses böse Wetter vorüberzog, daß auch der Herr Assessor wieder heiter sind! War ich doch erschrocken bis in’s Mark hinein! Und die ABC-Buchblätter nehme ich nun wohl auch mit zurück?“ fragte er vergnügt und streckte die Hand bittend darnach aus.

“Die brauche ich noch,“ entgegnete Theodor, „und nun gehen Sie, auch ich will fort! Also geschwiegen! kein Wort gegen Rosa! Späterhin werde ich Ihnen den Zusammenhang erzählen. Sie werden dann erkennen, wie Alles hätte verloren gehen müssen, wenn Sie geplaudert!“

„Der Herr Assessor haben mein Wort!“ betheuerte Schnurr, die Hand auf’s Herz legend. „Und gehen nun der Herr Assessor ein Weilchen mit in den „schwarzen Bär“? Bei heiterer Stimmung, die schnell auf eine trübe folgte, thut man das gern. Ich hätte Luft, ein Weilchen hinzugehen, wir sind in der Nähe.“

„Nein, nein, gehen Sie nicht dahin, auch ich gehe nicht!“ erwiderte Theodor und dachte an den geschwätzigen Wirth und an das Zeitungsblatt. „Gehen Sie überhaupt in den nächsten Tagen nicht in den „Bär“, versprechen Sie mir auch das! Es darf Sie nicht befremden. Ich habe meine Ursache, es gilt einen Scherz, eine freudige Ueberraschung für Rosa.“

„Ah, wenn das, mit Vergnügen, hier meine Hand darauf!“ sagte zufriedengestellt Schnurr. „Vielleicht auch ein kleiner Actus, wie Dero Herr Vater ihn simulirte. Gut, so gehe ich nun sogleich heim, gehe zur lieben Rosa. Und der Herr Assessor?“

„Ich erwarte die Post. Wie gern ich mit in’s Schulhaus ginge, wissen Sie, aber es darf nicht geschehen!“

„Ich glaube es!“ versicherte mit voller Herzlichkeit Jener, „sonst gingen Sie ja mit!“

„Einige Tage, und ich werde dann kommen! Bis dahin leben Sie wohl, mein lieber, künftiger Oheim!“ rief mit unterdrückter Bewegung Theodor und schüttelte treuherzig Schnurr’s Hand.

So schieden sie. Kaum war Schnurr verschwunden zwischen den hochragenden Kornfeldern, da sprach Theodor, wenigstens durch den Umstand etwas erleichtert, daß er sich jetzt nicht mehr zu verstellen brauchte, leise die Worte: „Ich will hin in ihre Nähe! ich will ihr meinen Abschied sagen, still und ohne daß sie es weiß und ahnt! still in Bekümmerniß und doch in unaussprechlicher Liebe!“

Er schlug einen andern Weg ein. Der Abend hatte nun in voller Sommerpracht sich niedergesenkt auf die Fluren. Am Himmel stand die schmale Mondsichel. Die Heimchen zirpten im Grase und Gebüsche. So schritt er hin durch die Felder, deren Halme und Aehren schon den ersten Abendthau ansetzten. Bald hatte er die Zäune des Obstgartens erreicht, der zum Schulhause gehörte. Er blickte hinein. Da blühte duftig die Rosenhecke, von welcher die Theuere in den Frühstunden dieses Tages die schönsten Blumen für ihn gebrochen. Da standen in der Laube noch die Stühle, auf denen heute die befreundete, glückliche Familie gesessen. Da hing vor einer Mauer die an einem Pfahl befestigte kleine, weiße Scheibe, nach welcher Rosa geschossen.

Plötzlich hörte er Musik. Rosa spielte einige gehaltvolle Gänge. Dann war es still. Ein Lichtschein fiel durch die Fenster nach dem Garten heraus, und Theodor bückte sich hinter den Zaun. An dem einen Fenster aber erschien Rosa, das Licht in der Hand. Sie wendete den Kopf nach der Stube und rief den Oheim herbei, Dieser kam.

„Ist’s richtig so?“ hob sie an, „liegt nicht gerade hier hinein Magdeburg?“

Schnurr bestätigte es.

„Gute Nacht, mein lieber, lieber Theodor!“ rief sie leise nach der bezeichneten Gegend hinein.

Alles war still. Nur Käfer summten durch den Garten. Es war, als halte Rosa kurze Abendandacht. Durch Theodor’s Herz zog’s wie Sonnenglanz und Gewitterschauer.

„Und nun komm, nun spielen wir vierhändig, Oheim’,“ hob Rosa wieder an. „Wie wunderbar ordnen sich doch die Sterne unsers Schicksals! Als mein Pater starb, versprach ich ihm, Dich, wie er es wünschte, aufzusuchen in Deinem Dörflein. Jahre vergingen, ohne daß ich es that. Da lerne ich vor zwei Monaten meinen Theodor kennen. Ich habe keine Ahnung davon, daß er in deiner Nachbarschaft wohnt, und kaum ist er abgereist, da fügt sich’s, daß ich mein Engagement aufgebe, und mir kommt der Gedanke, Dich aufzusuchen, eine Zeit lang in ländlicher Einsamkeit zu verleben. Und in Deinem Hause werde ich so glücklich!“

„Alles vom Himmel, Alles!“ antwortete Schnurr, „und auch ich wurde glücklich, in doppelter Hinsicht glücklich. Nicht nur, daß ich Dich kennen lernte, Du hast mich auch so reichlich –“

„Still, Oheim, Du sollst dieses Geld nicht erwähnen!“ fiel sie rasch und fast unwillig ein, „nun hast Du augenblicklich meine Stimmung getrübt! Komm, wir wollen spielen!“ Sie nahm das Licht vom Fenster. Nach einigen Augenblicken erklang das Spiel.

„Rosa, Rosa!“ sagte seufzend Theodor, indem er leise am Zaune vorbeischritt und die Hand auf’s Herz drückte, „o hättest Du sie nicht geredet, diese letzten Worte!“ Dann stand er wieder still. Auf und ab wogten die Gedanken und Gefühle in seinem Innern. Er blickte nach den Fenstern, ohne dem Gange der Musik zu folgen. Da ertönte in der Ferne das Posthorn, „Auch Dir, o Rosa, eine gute Nacht! Rosa, schlaf’ wohl! schlaf’ ohne Schuld! Der Himmel gebe uns ein glückliches Wiedersehn!“ rief er leise und preßte die Hände fester auf die Brust. Und doch konnte er, so fest er auch die Hände auf die Brust drückte, das Drama nicht zerstören, welches in seinem Herzen spielte. Er schritt durch die Sommernacht hinüber nach der Straße. Auf ihr war es öde und still. Weich wallte die Luft um feine Schläfe. Vom Schulhause her klang leise noch die Musik. Die Post kam an, er stieg ein.

Nach einer Stunde gelangte man in die Nähe der Eisenbahn. Da stieg er aus und schritt nach dem nächsten Anhaltspunkte. Er ließ sich ein Billet nach Berlin geben. Dann schrieb er folgenden Brief:

„Mein theurer Vater!

„Nur an Ort und Stelle kann Licht, vielleicht auch Lösung in das Räthsel kommen. Darum reise ich nach Berlin. Thue nichts, auch gar nichts in der bewußten Angelegenheit, bis ich Dir Nachricht gebe oder selbst komme. Das vergiß nicht, das halte genau, lieber Vater! Sollte ich in Berlin Geld brauchen, so werde ich es von unserm dortigen Bankhause nehmen.

„Dein Sohn Theodor.“     

Kaum hatte er den Brief in den Kasten geschoben, da kam der Zug, der nach Berlin ging. Nach wenigen Minuten ertönte das Signal zur Abfahrt. Theodor stieg ein. Kein Schlaf schloß seine Augen, der Gutenachtwunsch, den Rosa liebend für ihn ausgesprochen, erfüllte sich nicht.



VII.

Noch früh am Morgen war es, als Theodor, den Berliner Adreßkalender in der Hand, in der Restauration des Bahnhofes stand. Er blätterte und suchte. Er legte unwillig das Buch auf den Tisch.

„Mein Herr, Sie finden nicht, was Sie suchen?“ fragte der Kellner. „Dürfte ich bitten? Vielleicht vermöchte ich Auskunft zu geben.“

Theodor fragte nun nach dem Schauspieldirector Liebing.

„Der steht nicht im Kalender, seine Gesellschaft spielt nur zuweilen in einer hiesigen Vorstadt, dann geht sie wieder in eine Nachbarstadt, gegenwärtig spielt sie in Luckenwalde.“

Mit dem nächsten Zuge fuhr Theodor nach Luckenwalde, Ehe eine Stunde verging, stand er vor der Thüre des Schauspieldirectors, hörte im Zimmer eine Kaffeetasse klirren und klopfte leise an.

Eine sonore Stimme rief zum Eintreten. In demselben Augenblicke überschritt Theodor die Schwelle. Der Director erhob sich von seinem Kaffeetische, Theodor stellte sich vor.

„Ich habe Wichtiges mit Ihnen zu reden, Herr Director,“ begann jetzt Theodor, „sind wir allein?“

Der Director versicherte es, und rückte einen Stuhl zurecht.

„Eine wunderbare Verkettung der Umstände,“ hob Theodor an, indem er sich setzte, „läßt mich ein warmes Interesse nehmen an dem Gange der Untersuchung, betreffend den Diebstahl, der bei Ihnen verübt ward. Darf ich fragen, wie weit die Untersuchung vorwärtsschritt und was sich in derselben ergab?“

„In der letzten Zeit ist nichts darin geschehen,“ gab der Director zur Antwort, „ein besonderes Resultat ward auch nicht gewonnen. Derjenige, auf den sich Verdacht warf, mußte auf Handgelöbniß seiner Haft entlassen werden, weil die vorliegenden Indicien während der Untersuchung sich abschwächten. Gestern soll er wieder im Verhör gewesen sein. Das wäre so ohngefähr das Hauptsächlichste. Mein Geld ist weg, ich werde es nicht wieder erlangen.“

[536] „Das fragt sich noch sehr, möglich, daß Sie es sogar durch mich ersetzt bekommen,“ antwortete nicht ohne Bewegung Theodor.

„Wie, mein Herr? ersetzt? durch Sie?“ rief der Director erfreut und staunend, „o, wenn Sie wahr redeten!“

„Ich rede wahr. Eine wunderbare Verkettung der Umstände erwähnte ich schon. Diese liegt hier vor. Es gibt zuweilen Verhältnisse, wo man Ersatz leistet, um die Schande eines Andern zuzudecken.“

„O wenn das wäre! wenn ich mein Geld wieder bekäme, Alles möchte dann zugedeckt werden!“ erklärte heiter der Director. „Ich würde die Anzeige machen, mein Geld habe sich wiedergefunden, es sei ein Irrthum gewesen, ich ließe die Sache niederschlagen! Wollen Sie wirklich Ersatz leisten?“

„Ruhig, Herr Director, es wird vielleicht nöthig werden,“ entgegnete Theodor. „Vor allen Dingen, auf wem ruhte Verdacht? wer wurde verhaftet und dann wieder entlassen auf Handgelöbniß?“

„Der Schauspieler Rauschenbach.“

„Rauschenbach?“ rief erschrocken Theodor.

„Sie kennen ihn?“

„Lassen wir das jetzt. Geben Sie mir –“

„Mein Herr, wenn Sie ihn kennen, wenn er es ist, der Ihnen nahe steht, dann, ja dann – ich muß gestehen, der Ersatz dürfte reif werden – nach meiner moralischen Ueberzeugung hat er das Geld!“

„Rauschenbach steht mir nicht nahe. Geben Sie mir nur ruhig Antwort, wie ich ruhig Sie frage. Wie war es mit dem ABC-Buch, das mit in dem Geldkasten lag, hat sich dasselbe wiedergefunden?“

„Der Theaterdiener wollte es am Tage nach dem verübten Diebstahle bei Rauschenbach gesehen haben, wußte es aber nicht gewiß, konnte es nicht beschwören.“

„Und die Haussuchung bei Rauschenbach?“

„Ergab nichts. Ueberdies lag das ABC-Buch einige Zeit später in einem finstern Winkel des Hauses, das ich bewohne. Hier fand es die Magd. Mit ihr legte ich es nieder vor Gericht.“

„Es war ein Buch aus früherer Zeit? mit Bildern und Versen, die sich immer auf einen Initialbuchstaben bezogen?“

„Ganz recht.“

„Und das Buch war vollständig, als die Magd es wiederfand im Winkel? Es fehlte nichts darin?“

„Ich weiß nicht, ob es vor den, Diebstahle vollständig war. Nach diesem Umstände fragte mich der Untersuchungsrichter sofort, als ich mit der Magd das Buch deponirte.“

„Und warum fragte der Untersuchungsrichter nach diesem Umstände?“

„Weil in dem Buche zwei Blätter fehlen.“

Theodor stand auf. Er trat schweigend an’s Fenster. Er nahm alle seine Kräfte zusammen, um ruhig zu erscheinen im Aeußern, so unruhig er auch war in seinem Innern. Nur dadurch, daß er selbst angehender Criminalbeamter war, wurde es ihm möglich, den Kampf, der in ihm tobte, zu beherrschen. Sprach er sie auch noch frei von der Hauptschuld, Rosa stand doch als Mitwisserin vor ihm. Allem Anschein nach mußte sie in das Vergehen verflochten sein.

„Leicht möglich, daß die zwei Blätter schon vor dem Diebstahl gefehlt haben,“ fuhr der Schauspieldirector fort, „wer will das wissen? Darauf kommt auch am Ende nichts an. Anders freilich wäre es, hätte man die zwei Blätter bei Rauschenbach gefunden, da würde der Umstand einen bedeutenden Beweis abgeben. Und dennoch – mag es sein mit diesen Blättern wie es wolle – Rauschenbach, Rauschenbach!“ schloß er kopfschüttelnd, „ich glaube steif und fest, daß er das Geld hat!“

„Und gegen eine andere Person brauchten Sie keinen Verdacht zu fassen? durchaus gegen keine andere Person?“

„Anfangs that ich’s, wie das so geht, aber dann und bis heute durchaus nicht mehr.“

„Und wer waren die Personen?“ fragte mit bebenden Lippen und mit weggewendetem Gesicht Theodor, „gegen welche Sie anfangs noch Verdacht hatten?“

Der Director nannte den Zettelträger, ein Dienstmädchen, einen Markthelfer, der mit in dem Hause gewohnt hatte.

Theodor athmete freier. Ein Schimmer der Hoffnung zuckte durch seine Seele.

„Und ist nicht Fräulein Rosa Schnurr, genannt Rosa Brandes, bei Ihnen engagirt?“ fragte er dann.

„Sie war es, ist jetzt abgegangen, hatte bedeutende Offerten vom Theater in Frankfurt und Breslau; ein großer Verlust für mich, daß sie von mir ging!“

„Und ist nun in einer jener Städte?“

„Weder da, noch dort, sie ging nach Hamburg, dann, soviel ich weiß, zu einem Oheim auf’s Land, um einige Wochen oder Monate sich selbst zu leben. Auch dieser Verlust kommt mir eigentlich durch Rauschenbach,“ sprach der Director aufgebracht weiter, „dieses Menschen wegen ging sie weg von hier.“

„Erzählen Sie mir,“ bat Theodor, der ja nur Weniges und nur das Hauptsächlichste darüber gestern von Rosa gehört hatte. Und that es seinem Herzen doch unendlich wohl, denken zu dürfen, der Hoffnungsschimmer, welcher seit einigen Minuten in ihm aufgestiegen war, werde sich dadurch vielleicht vermehren.

„Da Sie Herrn Rauschenbach zu kennen scheinen,“ fuhr Jener fort, „so werden Sie wissen, daß er ein geistreicher Mann, aber ein Glücksritter, ein Spieler, ein vollkommener Roné ist. Das wußte er freilich vor Fräulein Rosa, die in jeder Beziehung und bis auf die kleinsten Verhältnisse herab höchst nobel und ehrenwerth dasteht, geschickt zu verdecken. So wurde er mit ihr bekannt; ich muß bemerken, nicht im gewöhnlichen Sinne dieses Wortes – Rosa’s Ruf blieb unantastbar.“

„Und wie lange dauerte diese Bekanntschaft?“ fragte ermuthigt Theodor.

„Ein Vierteljahr vielleicht. Dann ist das Verhältniß gelockert worden. Fräulein Rosa hat gemerkt, hat tiefer geblickt. Man sagt auch, sie habe in der Lotterie gewonnen, das Geld in Rauschenbach’s Hände gegeben, um es zu verleihen oder Staatspapiere zu kaufen, und dieser habe das Geld verspielt. Ich weiß nicht, ob das gegründet sein dürfte. Aber gewiß soll es sein, daß Fräulein Rosa vor einigen Monaten die Bekanntschaft eines interessanten jungen Mannes machte. Das Verhältniß mit Rauschenbach war schon gelockert. Neue, schlimme Erfahrungen über ihn mochten hinzukommen, und so zog sich Rosa unter völligem Bruch mit Rauschenbach still zurück von mir und meiner Gesellschaft, sie kündigte, spielte nicht mehr.“

„Und Rauschenbach?“

„Wüstete nun offener, ungenirter.“

„Und wann reiste Rosa ab, vor oder nach dem Diebstahl?“

„Ich denke, einen oder zwei Tage nach dem Diebstahl.“

Zerstreut, verdunstet lag der aufgestiegene Schimmer von Freude und Hoffnung, finsterer wieder ward es in Theodor’s Seele. Er öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus, Alles erwog und bedachte er.

„Wo hält sich Rauschenbach auf?“ fragte er dann schnell und schloß das Fenster.

„In Berlin, wo die That geschah und die Untersuchung geführt wird,“ antwortete der Director.

„Wir müssen zu ihm, Sie müssen mich begleiten!“

Der Director stand befremdet, machte Einwendungen, wies in höflicher, aber in ziemlich entschiedener Weise das Gesuch Theodor’s zurück.

„Wohl denn, so muß ich Ihnen Alles offenbaren. Sie werden sehen, warum ich nicht geradezu vor Gericht gehe, warum ich die schonenden Umwege betrete, warum ich gerade Ersatz leisten will, Alles werden Sie erkennen, Herr Director, und ich weiß es im Voraus, Sie begleiten mich dann zu Rauschenbach! – Was sagen Sie zu diesen zwei Blättern?“ fragte er und zog die uns bekannten Fragmente jenes ABC-Buches hervor.

Der Director stand wie versteinert.

„Nun hören Sie den Zusammenhang,“ fuhr Theodor fort und erzählte.

Verwundert folgte der Director jedem Worte, und öfters rief er am Schlusse der Erzählung aus: „Fräulein Rosa ist unschuldig, ist nicht einmal Mitwisserin! das werden wir ja sehen, wenn Alles sich enthüllt! Sie haben Recht, wir müssen zu Rauschenbach!“

Und höher und freudiger wieder schlug Theodor’s Herz unter den so zuversichtlichen Behauptungen von Rosa’s völliger Unschuld. Aber weder er, noch der Director vermochten die Einsprüche und Anzeichen umzustoßen, welche verdächtigend noch gegen Rosa sich aufrecht erhielten. Schlag acht Uhr waren sie in Berlin.

[549] Der Schauspieldirector kannte Rauschenbach’s Wohnung. Sie eilten dahin. Rauschenbach war nicht zu Hause, sein Zimmer verschlossen, Niemand wußte, wohin er gegangen oder wann er wiederkommen werde. Verstimmt stiegen Beide die Treppe herab.

„Warten Sie, warten Sie,“ rief plötzlich der Director, als sie eben aus der Hausthür treten wollten, „dort läuft sein Stiefelwichser, ein lumpiger Bursche, der aber Rauschenbach’s ganzes Vertrauen besitzt, – mit dem will ich sprechen!“

„Bringen Sie den Burschen hierher,“ bestimmte Theodor, indem der Director auf die Straße trat und dem Stiefelwichser nacheilte.

Der Director brachte den Burschen. Theodor fragte und forschte. In den ersten Augenblicken schon merkte er, daß der Bursche mehr wußte, als derselbe sagen wollte. Ein Zweithalerstück, welches Theodor ihm in die Hand drückte, machte die Zunge des Burschen flotter.

„Nun ja,“ fuhr derselbe leise und verschmitzt fort, „wenn es durchaus nothwendig ist, daß Sie ihn sprechen, – ich denke mir freilich, daß er erst gegen Abend oder des Nachts zurückkehren wird – zu Ihnen gesagt, er ist verreist.“

„Er kann aber doch,“ entgegnete Theodor, „da er auf Handgelöbniß entlassen ist und noch in Untersuchung steht, die Stadt nicht verlassen! Hat er Erlaubniß vom Gericht dazu erhalten?“

„Bewahre, bewahre!“ versicherte heimlich der Bursche, „er war zwar gestern vor Gericht, aber da stand er nur im Verhör. Und gerade das gestrige Verhör muß ihn zu dieser Reise veranlaßt haben. Er kam unruhig zurück, sehr unruhig und äußerte, er müsse verreisen.“

„Auch Sie, Herr Director, erwähnten schon gegen mich, daß er gestern im Verhör gewesen,“ sprach Theodor, „und wissen Sie nicht, um was sich’s da etwa gehandelt hat?“

Der Director verneinte es. Theodor fragte nun den Burschen, ob Rauschenbach gar keine Aeußerung über das Verhör gethan.

„Nein,“ antwortete der Stiefelwichser, „da kann ich mich durchaus nicht erinnern, er war nur unruhig, stieß einmal einen Fluch aus und sagte so halblaut, aber wild vor sich hin: „das verdammte Buch könnte mir doch noch einen Streich spielen – ich war sehr dumm – ich muß vorbeugen – jedenfalls lebt sie bei dem Oheim – ist das Zeug vernichtet, gut – hat sie’s noch, desto besser, dann will ich mir es schon verschaffen.““

„Und? – und weiter?“ fragte Theodor erregt.

„Weiter nichts – weiter hat er durchaus nichts geäußert – ich würde es Ihnen gern mittheilen,“ versicherte der Bursche.

„Und auf welchen Bahnhof begab sich Herr Rauschenbach?“ versetzte Theodor, „und wann ungefähr?“

„Ich habe ihn vor Abgang des Abendzuges auf den Magdeburger Bahnhof begleitet,“ antwortete der Stiefelwichser.

„Kommen Sie, Herr Director!“ rief Theodor gepreßt, und nahm den Director an die Hand, „wir müssen fort.“

„Nun,“ fragte dieser verwundert, indem sie den Stiefelwichser verließen und in das Straßengewühl traten, „was wissen Sie?“

„Ich weiß, wo Rauschenbach ist!“ entgegnete Theodor ruhig. „O, ich weiß nun auch, daß – daß,“ setzte er schmerzlich hinzu, „daß Rosa jedenfalls Mitwisserin ist!“

„Nein, nein, und tausend Mal nein,“ versicherte ruhig Jener, „ich glaube das nicht! Ich kann mir das nicht denken! Behalten Sie aber Recht, dann weiß ich, daß auch die Engel im Himmel lügen!“

Theodor trank Trost aus diesen ruhig gesprochenen Worten. Er schwieg eine Weile. So schritten Beide eine Strecke auf der belebten Straße fort.

„Erwähntem Sie nicht, daß Rosa in der Lotterie gewonnen habe?“ hob Theodor dann sinnend an.

„So ging das Gerücht,“ antwortete der Director, „ich weiß nicht, ob es auf Wahrheit beruhte.“

„Gegen Schnurr hat Rosa das doch ebenfalls geäußert,“ fuhr Theodor langsam fort. „Als sie ihm das Geld gab, und er sie fragte, ob sie vielleicht Pharo – – ganz recht, ich besinne mich, Schnurr hatte noch den Ausdruck das „heillose Pharo“ gebraucht, worauf sie dann lächelnd geantwortet: „nein, nur Lotterie,“ – – Ja, ja,“ sprach er combinirend und langsam weiter, „das wäre ein entwirrender Gedanke, – hätte sie wirklich in der Lotterie gewonnen, hätte Rauschenbach das Geld verthan – hätte sie es bei dem Bruche mit ihm wieder verlangt – hätte er dann gestohlen – von dem Gestohlenen die Rückzahlung geleistet – – Gott, Gott!“ brach er in Wärme aus, und faßte im schnellen Weiterschreiten des Directors Arm, „über die Unbesonnenheit, daß er das Geld gerade in die zwei mitgestohlenen Blätter packte, wäre schon wegzukommen! Derartige Unbesonnenheiten zeigen die Criminalfälle sehr oft, und gerade durch sie kommt gewöhnlich das Verbrechen an den Tag, während der ganze übrige Thatbestand weder zur Ueberzeugung des Richters, noch zum Geständnisse des Angeklagten führt. – O, wenn Sie wüßten, Herr Director, daß Rosa wirklich in der Lotterie gewann! Wenn wir das wenigstens erfahren könnten!“

„Dazu würde viel Zeit gehören, und unsere Bemühung dürfte noch immer vergeblich bleiben,“ bemerkte der Director.

[550] „Und die Umstände drängen,“ fiel Theodor ein, „Sie haben Recht. Wir wollen eilen, – wir müssen fort!“

Der Director machte freilich noch einige Einwendungen, aber Theodor überzeugte ihn, daß durchaus Beide reisen müßten.

Mit dem Mittagszuge fuhren sie ab.



VIII.

Auf demselben Anhaltepunkte, wo Theodor am gestrigen Abend das Billet nach Berlin genommen hatte, stieg er mit dem Director aus. War Rauschenbach in Schnurr’s Dörflein gereist, so hatte auch er hier aussteigen und dann die zwei Wegstunden bis an’s Ziel zu Fuß oder zu Wagen zurücklegen müssen.

Sofort stellte Theodor Erkundigungen an. Er fragte, ob nicht ein stattlich aussehender junger Mann, der mit dem ersten Zuge heute angekommen, hier ausgestiegen sei und nach dem Wohnorte des Schulmeisters Schnurr sich erkundigt habe. Das traf. Der junge Mann hatte in der nahegelegenen Restauration einige Stunden sich aufgehalten und dann einen Einspänner genommen.

Theodor und der Director begaben sich nach der Restauration. Hier hörten sie, daß Rauschenbach bestimmt hatte, er werde nicht zu spät zurückkehren, weil er mit dem Abendzuge nach Berlin müsse.

Um allein zu sein, traten sie heraus in den Garten.

„Wollen wir ihm nicht entgegenfahren oder ganz hin an den Ort, wo Fräulein Rosa bei dem Oheim verweilt?“ fragte der Director.

„Nein, nein,“ versetzte Theodor, „mein Plan ist gefaßt. Kaum zwei Stunden noch und der Zug geht ab. Rauschenbach muß ja drüben längst fertig fein, jeden Augenblick kann er zurückkehren. Ueberhaupt bleibt er viel zu lange. Heute früh schon hin – und nur zwei Stunden weit ist’s – er könnte ja eigentlich schon längst wieder hier sein.“

„Und Ihr Plan?“ fragte der Director.

„Den sollen Sie sofort hören, wenn wir hinauf in unsere Zimmer sind.“

„Brauchen wir zwei Zimmer? Sagten Sie nicht: in unsere Zimmer?“

Theodor bejahete es mit einem Kopfnicken. Er rief dann den Wirth, und bat um zwei aneinanderstoßende Zimmer. Oben angelangt, begaben sich Beide in eins der angewiesenen Gemächer.

Der Wirth entfernte sich.

„Vor der Hand können wir hier in Gemeinschaft uns aufhalten,“ sagte Theodor zum Director, „sobald wir aber den Wagen sehen, in welchem Rauschenbach kommt, müssen Sie hinüber in das anstoßende Gemach.“ Und nun theilte er ihm den Plan mit.

Der Director billigte denselben. Uebrigens blieb er noch immer bei seiner Behauptung, Rosa werde schuldlos erscheinen.

„Selbst daß sie Ihnen nur Einiges, nur das Hauptsächlichste über Rauschenbach mittheilte, befremdet mich nicht,“ sagte er. „Ich kenne ihre noble Gesinnung, ihr Zartgefühl, ich kenne ihr ganzes Wesen. Sie mag von dem Manne nicht sprechen, den sie verachten lernt. Sie will die Erinnerung an ihn aus ihrer Seele werfen, wenigstens von den Fehlern und Gebrechen nicht reden, durch welche er ihr zuwider wurde. Späterhin,“ fuhr er fort, „wird sie schon weniger zurückhaltend sein – aber gestern, bei diesem schnellen Wechsel der Dinge – ja, ich finde es, wenn ich den ganzen Charakter von Fräulein Rosa auffasse, sehr natürlich, daß sie es vermied, Näheres von Rauschenbach gerade mit Ihnen zu sprechen. Und erwähnten Sie nicht, daß sie gegen Ihren Herrn Vater bedeutsame Aeußerungen that?“

„Das erwähnte ich, und es ist wahr,“ antwortete Theodor, der sich durch diese Erklärung, die ja eigentlich seine eigenen Gedanken nur bestätigte, erquickt fühlte; „gegen meinen Vater hat sie im Grunde deutlicher über Rauschenbach gesprochen, als gegen mich. Mit schmerzlichem Lächeln hatte sie erklärt, daß es gegen das Gefühl der Frauen laufe, von den Gebrechen eines Mannes zu reden, der ihnen näher gestanden, – daß Rauschenbach selbst die Schuld trage von der Auflösung ihrer Bekanntschaft mit ihm.“

„Und Sie kennen Rauschenbach nicht, sahen ihn nie?“

„Nie,“ erklärte Theodor, „wie konnte ich sonst auch den Plan ausführen wollen, den ich Ihnen vorhin mittheilte?“

„Wahr, ganz wahr, entschuldigen Sie meine Vergeßlichkeit,“ entgegnete lächelnd der Director; „Sie hörten ja blos von ihm, als Sie in Berlin waren und Fräulein Rosa kennen lernten.“

„Sehen Sie?“ rief jetzt überrascht Theodor, und trat schnell an’s Fenster, „nun werde ich auch ihn kennen lernen. Da kommt der Einspänner!“

Der Director eilte zum Fenster und überzeugte sich.

„Das ist er!“ bestätigte der Director.

„Und nun auf Ihren Posten und ich auf den meinen!“ entgegnete mit klopfendem Herzen Theodor. „Der Himmel mache Ihre Vermuthung wahr, er gebe, daß Rosa schuldlos sei!“

Unter diesen Worten schenkte er schnell die Römer noch voll, die neben den zwei Weinflaschen auf dem Tische standen. Leise stieß er mit dem Director an –- schnell tranken sie aus. – Der Director begab sich in das Nebenzimmer. Auf dem Tische ließ man nur eine Flasche und ein Glas zurück. Theodor ging, als der Wagen etwa noch hundert Schritte vom Hause entfernt war, mit bedecktem Haupte hinab. Er schritt dem Wagen entgegen.

„Sie sind der Schauspieler Herr Rauschenbach?“ fragte er fest und mit amtlicher Höflichkeit, und lüftete den Hut.

Rauschenbach stutzte. Er erhob sich, erwiderte höflich den Gruß und stieg aus dem Wagen.

„Sie entfernten sich aus Berlin?“ setzte Theodor seine Frage fort und gab dem Kutscher durch Handbewegung einen Wink, mit dem Wagen in das Gehöfte zu lenken. „Sie hatten nicht die erforderliche Erlaubniß dazu!“ sprach er weiter, während er bemerkte, wie Rauschenbach erblaßte.

„Mein Herr, wenn Sie Beamter – –“

„Sie haben nicht nöthig, zu erschrecken, so wenig als Sie zu leugnen brauchen,“ fiel Theodor ein, „ich habe Ihnen Mittheilungen zu machen, Herr Rauschenbach, folgen Sie mir auf mein Zimmer.“

Düpirt, aber mit sicherm Anstande schritt Rauschenbach an Theodor’s Seite hinauf in das Zimmer.

„Setzen Sie sich,“ sprach Theodor und präsentirte ihm einen Stuhl. Rauschenbach verbeugte sich und blieb stehen.

„Darf ich fragen, wer Sie sind, mein Herr?“ hob er gefaßter an.

„Das sollen Sie erfahren. Sie kommen soeben vom Schulmeister Schnurr?“

„Nein.“

„Nun ja, ich hätte sagen können, von Fräulein Rosa?“

„Nein, mein Herr.“

„Herr Rauschenbach!“

„So eben komme ich von Magdeburg – bei dem Schulmeister Schnurr war ich heute früh.“

„Wen suchten Sie in Magdeburg?“

„Den Schulrath Werner – ich traf ihn nicht, er war verreist. Dann suchte ich seinen Sohn daselbst, auch er war verreist.“

„Beide verreist?“

„Beide.“

„Und was wollten Sie bei dem Schulrathe und dessen Sohn?“

„Mein Herr, haben Sie wirklich ein Recht zu solchen Fragen?“ entgegnete verlegen und ausweichend Rauschenbach.

„Ich werde Ihnen sagen, was Sie suchten, ich werde Ihnen zeigen, was Sie suchten,“ versetzte langsam und betont Theodor, „und dadurch werde ich beweisen, daß ich allerdings zu solchen Fragen ein Recht habe!“

Er trat einen Schritt zurück, und hielt die bekannten zwei Blätter empor.

„Ha! – die Elende! So hat sie mich verrathen!“ rief gellend Rauschenbach und bedeckte fein Gesicht. „Sie hat die Blätter eingesendet, – und doch hat sie behauptet, der Schulrath Werner besitze dieselben! O Verrath, scheußlicher Verrath!“

„Wußte Rosa von Ihrer Schuld?“ fragte erschrocken Theodor. Rauschenbach schwieg einige Augenblicke. Dann durchschritt er rasch das Zimmer, streckte die Hände empor und versicherte, Rosa wisse davon – Rosa sei schuldig.

Theodor’s Lippen entfärbten sich – er schöpfte tief Athem – er stand wie vernichtet.

Aber in demselben Augenblicke stand auch Rauschenbach wie vernichtet. Aus dem Nebenzimmer hörte er plötzlich eine sonore Stimme, die ihm so bekannt vorkam.

„Ich muß den Plan durchkreuzen, kann nicht warten!“ stürmte der Director aus dem Nebenzimmer, „also entschuldigen Sie!“ In raschen Schritten trat er zu Rauschenbach, schüttelte ihn an der Brust und rief: „Elender! Wie können Sie es wagen, Fräulein Rosa zu verdächtigen?“

[551] „Herr Direktor – Sie – Sie hier?“ stammelte Rauschenbach, „Nun ist Alles vorbei! – Herr des Himmels und der Hölle!“ setzte er gepreßt hinzu und drückte die Hände in die Augen. „Jetzt ist Alles verloren, Alles! Nur Zuchthaus!“

„Antworten Sie, wie konnten Sie es wagen, Fräulein Rosa zu beschuldigen? Noch soll nichts verloren sein für Sie! Sie sollen geschont werden, Ihr Vergehen soll zugedeckt bleiben! Alles wird für Sie gewonnen sein –“

„Alles, Alles!“ betheuerte einfallend Theodor und trat wieder näher herzu, „aber reden Sie die Wahrheit! Ist Fräulein Rosa Mitwisserin?“

„Nein doch, nein!“ entgegnete der Director ungeduldig. „Ich sehe ja gerade an dieser Lüge, daß ihr nichts davon bewußt ist! Und warum, Herr Rauschenbach, verdächtigen Sie dieselbe?“

„Hat sie die verrätherischen Blätter nicht eingesandt? Nicht, nicht?“ fragte Rauschenbach erschüttert.

„Diese zwei Blätter habe ich vom Schulrath Werner, und dieser fand sie in der Schule bei Schnurr, Ich aber gehöre weder der Polizei in Berlin, noch Ihrem Untersuchungsgerichte an. Fräulein Rosa hat nichts gegen Sie gethan, keinen Schritt, Herr Rauschenbach! Das Fräulein hat Sie mit Schonung behandelt! Aber auch Sie, Herr Rauschenbach, sollen von mir und dem Director geschont, Ihre Untersuchung soll abgebrochen werden, ich will Ersatz leisten – ich gebe Ihnen mein Wort darauf! Reden Sie also die Wahrheit! Wußte Rosa von der Entwendung?“

„Nein, nein!“ betheuerte Rauschenbach weich, und helle Thränen standen in seinen Augen. „Rosa wußte nichts, Rosa ahnte nichts! Als ich das Kästchen entwendet hatte, verging kaum eine Stunde, und ich sendete ihr das Geld nach Hamburg, wohin sie zwei Tage früher abgereist war. Ich schuldete ihr hundert Stuck Louisd’or. Sie hatte in der Lotterie gewonnen, mir den größeren Theil des Gewinnes anvertraut, und ich verbrauchte, ich verspielte das Geld. Meine Herren,“ fuhr er gerührt fort, „ich weiß es, ich war der Liebe, der Freundschaft dieses Engels nicht würdig. Dennoch ergriff mich, als Rosa abreiste und mir ihre vollkommene Verachtung auch dadurch bewies, daß sie an eine Zahlung oder an eine Sicherstellung mit keinem Worte mich erinnern ließ, ein gewisser Stolz. Der Gedanke, ihr durch Rückzahlung des Geldes wenigstens in einer Hinsicht noch Achtung abzwingen zu können, war ein Triumph in meiner Seele, und so schritt ich bald nach Rosa’s Abreise zu der That, die Sie kennen.“

„Sonst würden Sie nicht dazu geschritten sein?“ fragte Theodor sinnend, als wolle er tiefer in Rauschenbach’s leidenschaftliche Seele schauen. „Es war nur dieses Ehrgefühl, dieser Stolz, dieser innere Trotz, der Sie zur That verleitete?“

„Nein,“ antwortete nach einer Pause Rauschenbach, „ich gestehe es, ich würde es gethan haben auch ohne diesen Umstand. Ich glaube es wenigstens. Die Gelegenheit war zu günstig, mein Bedarf zu vielfach, mein Leichtsinn zu groß. Der erste Gedanke aber, als ich zur That schritt, galt allerdings der Rückzahlung jenes Geldes. Ich erwähnte bereits, daß ich die Rückzahlung sofort auch vollzog. Ich that es freudig, ja triumphirend, daher überhurtig, unvorsichtig, nicht bedenkend, daß die Verpackung, die ja nur die innere war, mir verderblich werden könne. Das Bilderbuch warf ich, als ich Haussuchung befürchtete, von mir, bedachte aber nicht, daß ich zwei Blätter herausgerissen hatte. Jetzt wissen Sie Alles.“

„Und schrieben Sie mit an Fräulein Rosa, als Sie das Geld sendeten?“ hob Theodor von Neuem an.

„Nur wenige, stolze Worte.“

„Und Rosa – schrieb sie Ihnen wieder?“

„Nein. Das wußte ich auch im Voraus, sie verachtet mich.“

„Und heute, wie standen Sie ihr gegenüber?“

„Mit tiefem Schmerz, den ich zu verbergen wußte.“

„Hätten Sie sich besser gehalten!“ tadelte der Director. „Sie brauchten wenigstens die andere Hälfte meines Geldes nicht zu verthun! Aber Sie spielten, Sie tranken! Sie treiben es noch! Bessern Sie sich, Herr Rauschenbach! Ist’s denn nicht möglich, daß Sie sich bessern?“

„Konnte mich der Engel nicht bessern, wer wird es können?“ antwortete lächelnd Rauschenbach, und eine helle Röthe zog über sein Gesicht, „Wissen Sie, was Leidenschaft ist, wenn sie zur Gewohnheit wird?“

„Herr Rauschenbach,“ nahm Theodor, den in der Freude, welche in ihm jauchzte, zugleich ein tiefes Mitleid bewegte, abermals das Wort, „es beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt für Sie! Ihre Untersuchung wird niedergeschlagen, ich leiste dem Director vollen Ersatz, Niemand weiß das, Sie gehen an ein fernes Theater, werden ein guter Mensch!“

„Ihre Sprache bleibt mir räthselhaft, so lange ich nicht weiß, wer Sie sind,“ antwortete mit Sicherheit Rauschenbach.

„Wohl denn! Sie haben die Wahrheit geredet, Herr Rauschenbach, und ich bin Ihnen nun ebenfalls die Wahrheit schuldig. Herr Director,“ wendete er sich an diesen, „darf ich bitten?“

Der Director verstand das Schonende dieses Benehmens und erklärte ruhig: „Ich stelle Ihnen den Herrn Assessor Theodor Werner vor, seit gestern Bräutigam von Fräulein Rosa.“

„Bräutigam? seit gestern Bräutigam von Rosa?“ rief heftig Rauschenbach, und trat einige Schritte zurück. „Also wirklich? und so schnell? Man hat mir im Schulhause nichts davon gesagt. O, nun sehe ich, warum Sie mich schonen, warum Sie Ersatz leisten! nun verstehe ich Alles, Alles!“ setzte er schmerzlich hinzu.

„Danken Sie dem Herrn Assessor dadurch, Herr Rauschenbach,“ sprach ruhig der Director, „daß Sie vollziehen, was er Ihnen vorhin anrieth. Auch ich rathe Ihnen das.“

Mit vornehmer, fast höhnender Eleganz, die Arme in einander schlagend, trat Rauschenbach einen Schritt vorwärts.

„Nicht mein Wohl, nicht meine Besserung war der Beweggrund zu Ihrer Handlungsweise,“ sagte er, „aber es ist mir lieb, daß ich nicht öffentlich als Dieb stehen werde, daß Sie – – und dennoch, dennoch!“ fuhr er fort, und sein Ton wurde plötzlich ein anderer, und die verschränkten Arme ließ er herabgleiten, „was ist doch Alles, wenn sie es weiß? O sagen Sie mir,“ wendete er sich an den Assessor, und faßte mit Innigkeit dessen Hand, „weiß Rosa schon Alles?“

„Nichts, gar nichts! nicht einmal, daß Sie in Untersuchung sind!“ versicherte Theodor, „auch Herr Schnurr weiß nichts.“

„Und wollen Sie dafür sorgen, daß es so bleibt? daß Rosa nichts erfährt? Wollen Sie das? wollen Sie mir das zuschwören? zuschwören bei Ihrer Liebe zu –“

Noch weicher wurde Rauschenbach’s Stimme, er stockte, er schwieg, tief senkte er den Blick zu Boden.

„Ich schwöre es Ihnen zu!“ versetzte Theodor, „mein Lebensglück soll verloren gehen, wenn ich dieses Wort nicht halte!“

Rauschenbach schwieg. Noch immer stand er gebückt und blickte zu Boden. „Sind Sie zufrieden damit?“ fuhr Theodor fort.

Ohne seine Stellung zu verändern, nickte Rauschenbach mit dem Kopfe.

„So befolgen Sie denn unsern Rath,“ mahnte der Director, „nehmen Sie, sobald Ihr Proceß beseitigt ist, in der Ferne Engagement, bessern Sie sich, Rauschenbach, bessern Sie sich! Ohne Besserung sind Sie verloren!“

„Bei solcher Demüthigung auch noch Vorschriften? auch noch Bedingungen?“ fragte mit bitterm Lächeln Rauschenbach, indem er sich empor richtete. „Die Menschen sind verschieden organisirt, doch will ich sehen, wie es geht, will mir Mühe geben, mit der Leidenschaft zu brechen.“

Er ging mit diesen Worten nach der Thüre und zog die Klingel. Dem herauseilenden Kellner rief er zu, daß er ihm Wein bringen möge.

Da war es, als rassele draußen ein Wagen. Theodor trat an’s Fenster. Der Wagen hatte bereits das Gehöfte erreicht, und man konnte daher nichts weiter sehen.

Der Kellner brachte den Wein. Rauschenbach stürzte gierig Glas auf Glas hinunter. Dabei ging er, ohne sich um die zwei Andern zu kümmern, schweigend im Zimmer auf und ab.

Draußen auf der Treppe erklangen Stimmen, unter welche sich die Stimme des Kellners mischte.

„Ist’s Täuschung?“ rief Theodor überrascht, und eilte vom Fenster nach der Thüre hin.

Auch Rauschenbach stutzte, stellte heftig das wieder geleerte Glas auf den Tisch.

„Wie leidenschaftlich Sie trinken!“ sprach der Director, der jetzt ebenfalls horchte und nach der Thüre blickte, welche Theodor schon erreicht hatte und nun schnell öffnete.

„Wahrhaftig!“ rief Theodor laut und stürzte hinaus, „Ihr seid es!“

„Wir sind’s!“ antwortete der Schulrath, während Theodor [552] freudetrunken seine Arme ausbreitete und hineilte zu seiner Braut und sie an sein Herz drückte mit dem Rufe: „Rosa! meine Rosa!“

„Deinen Brief, Theodor, erhielt ich,“ fuhr der Schulrath fort, während er mit Theodor und Rosa noch auf dem Vorsaale stand, „aber es ließ mir keine Ruhe. Wahre Liebe muß auf gegenseitigem Vertrauen beruhen. Das sagte ich Dir schon früher. Das ist die sicherste Basis. Also fuhr ich heute früh zu Fräulein Rosa. Ich habe mit ihr geredet, wie ein Vater redet mit seinem Kinde, offen und wahr. Da ich übrigens denken konnte, daß Du heute mit dem vorletzten oder letzten Zuge zurückkommen würdest, so fuhr ich hierher, um Dich zu erwarten. Du siehst, wer mich begleitet hat. Fräulein Rosa weiß Alles.“

„Weiß Alles!“ rief es im Zimmer laut und schmerzlich. Dann folgte dem Ausrufe ein bitteres Lachen. Rauschenbach trat auf die Schwelle. Er verbeugte sich, schlug die Arme in einander und sah unverwandt nach Rosa, die ihr Gesicht nun fest an Theodor’s Brust drückte.

„Theodor, wer ist dieser Herr?“ fragte der Schulrath befremdet.

„Das ist Herr Rauschenbach,“ antwortete Theodor, „es ruhte Verdacht auf ihm, aber er ist unschuldig, völlig unschuldig! Es war ein Irrthum, das Geld hat sich wiedergefunden, Vater!“

„Herr Director Liebing!“ rief er mit unsicherer Stimme, „treten Sie doch näher! bezeugen Sie meinem Vater das Nöthige!“

„Es ist so, wie Sie es jetzt gehört,“ versicherte der Director, indem er grüßend an die Thüre sich stellte.

„Also das Geld war gar nicht gestohlen worden?“ fragte verwundert der Schulrath. „Und da habe ich vielleicht wehe gethan?“ wendete er sich an Rosa und trat hin zu ihr. „Ist es so, liebe Rosa? habe ich wehgethan? habe ich ein verletzendes Wort gesagt? Rosa, Du bist ja nun mein Kind, mein liebes, liebes Kind! ich weiß nicht, ob ich Dich verletzte; wenn es wäre, vergibst Du mir?“

Rosa blieb gelehnt an Theodor’s Brust, aber sie streckte schweigend dem Schulrathe ihre rechte Hand entgegen.

„Rosa! und habe ich Dir wehgethan?“ flüsterte Theodor mit bebender Stimme, „o vergib auch mir, theuere Rosa!“

Sie schwieg fort, aber inniger drückte sie ihr Angesicht an sein Herz.

„Habe ich’s nicht behauptet, daß auch die Engel im Himmel lügen, wenn nur ein Körnlein von Schuld auf ihr ruhte? O ich wußte es!“ sprach der Director.

„Du bist rein wie ein Sonnenstrahl!“ sagte leise Theodor und drückte leise seine Lippen auf ihr Haupt.

Es entstand eine feierliche Pause.

„Aber ich! ich!“ rief plötzlich, wie aus wüstem Traum erwachend, Rauschenbach und ging rasch in Rosa’s Nähe, „Fräulein Rosa! o geben Sie auch mir eine Hand! Es ist die Hand zum Abschied! Rosa, Sie sind Braut, eine reine, eine schuldlose, glückliche Braut! Noch ein Mal, zum letzten Mal geben Sie mir die Hand, die mich von sich stieß, von sich stoßen mußte! deren ich unwürdig war!“

Rosa regte sich nicht, fester schloß sie sich an Theodor.

„Thun Sie es, Rosa! Ihre Hand! Ihre Hand!“ klang es lauter und schmerzlicher noch als vorher aus Rauschenbach’s Munde,

Und sie reichte ihm die Hand, ohne das Gesicht nach ihm zu wenden.

Rauschenbach beugte sich, drückte seine Lippen auf die Hand. Dann richtete er sich empor.

„Und nun die Wahrheit!“ rief er mit glänzenden Augen „ich bin der Schuldige! ich bin der Dieb!“

„Rauschenbach!“ versetzte Theodor erschrocken.

„Was thun Sie?“ fragte verwundert der Director.

„Staunen Sie nicht!“ entgegnete in höchster Aufregung Rauschenbach, „Auch für Sie Beide, die Sie mich schonen wollten, ist es besser so! Das Schweigen würde für Sie eine Qual, eine unheilbare Krankheit werden! Und ich? ich?“ sprach er bitter lächelnd weiter, „soll ich besser stehen in Rosa’s Nähe, als ich bin? Soll ich die Schonung annehmen, und doch fürchten, daß Sie späterhin ihr sagen, ich sei ein Dieb? Nein! nein! Rosa gab mir ihre Hand, und so gab ich das Einzige, was ich hatte, die Wahrheit! Nun stehe ich nicht vermummt, nicht im Schein, ich stehe als der, der ich bin, stehe als Dieb!“

„Gib mir Aufschluß, mein Sohn! ich begreife das nicht!“ mahnte der Schulrath und schritt, indem er andeutete, daß man ihm nachfolgen möchte, aus dem Vorsaale in’s Zimmer.

Rosa ging mit Theodor. Auf einen Pfeilertisch, der im Vorsaale stand, warf sie die Mantille, und neben diese setzte sie den zierlichen, kleinen Arbeitskorb, den sie bei ihrer Ankunft auf ein Fensterbret gestellt hatte. Den kleinen Korb öffnete sie noch schnell. In ihm lagen Blumen, ein Buch, Häkelzeug, ein seidner Knaul. Die Blumen nahm sie schnell heraus, küßte Theodor’s Lippen, drückte die Blumen in seine Hand. Auf Rauschenbach richtete sie nur einen einzigen Blick, einen Blick voll Mitleid. Rauschenbach bemerkte es, und ein schmerzliches Lächeln ging über sein Gesicht.

„Und wollen Sie nicht auch eintreten?“ fragte Theodor, als die Uebrigen hinein waren in’s Zimmer.

„Sie werden ruhiger und richtiger erzählen, wenn ich nicht dabei bin,“ entgegnete Rauschenbach, warf noch sein glühendes Auge auf die reizende Rosa und drückte dann die Thüre in’s Schloß. So war er nun allein.

Unten wurde Lärm. Der Kellner rief aus dem Hause herauf, daß nach wenigen Minuten der Zug nach Berlin gehe.

Der Director öffnete die Zimmerthüre und sagte: „Herr Rauschenbach, wir reisen doch zusammen erst mit dem Nachtzuge?“

„Mit dem Nachtzuge! richtig, ich wenigstens!“ entgegnete Dieser fast heiter, während er die Thüre wieder schloß.

Er trat dann einige Schritte zurück und griff in die Seitentasche seines Rockes, aus welcher er einen Gegenstand hervorzog, den er einen Augenblick lang betrachtete und dabei leise, aber entschieden sagte: „So brauche ich dich also doch noch, armseliges Ding, das ich für alle Fälle zu mir nahm! Nein, nein, nicht armselig, du arbeitest rasch und gut!“

Nach diesen Worten begab er sich an den Pfeilertisch, auf welchem Rosa’s kleiner Korb stand. Er griff darin herum. Eine Blume, die er noch fand, nahm er lächelnd heraus und drückte sie an’s Herz. Dann schritt er leise im Vorsaal auf und ab, ohne sich um das zu kümmern, was drinnen im Zimmer vorging.

Drinnen aber gab nun theils der Director, theils Theodor die nöthige Aufklärung über das Geschehene. Auch schrieb Theodor eine Anweisung auf zweihundert Louisd’or.

„Es geht von meinem Vermögen, Vater,“ sagte er lächelnd zum Schulrath, indem er das Papier ihm hinwies.

„Ist nicht nöthig, mein Sohn!“ erwiderte Dieser. „Da Alles einen so glücklichen Ausgang genommen, so laß es getrost auf meine Rechnung zahlen! Vielleicht gelingt es auch noch, den jungen Mann zu bessern. Ich werde nachher selbst mit ihm sprechen. Also das Papier auf meine Rechnung, Theodor!“ erinnerte er treuherzig nochmals, und setzte lächelnd hinzu: „Habe ich doch auch noch überdies für das Geld einen Zuwachs für meine Revisionscuriositäten bekommen! Wo sind die zwei Blätter?“

„Die liegen wohl im Vorsaal, ich nahm sie vorhin mit hinaus, sie sollen Dir nicht entgehen. Und hier, Herr Director, ist die Anweisung!“

„So laß uns wenigstens das Ganze gemeinschaftlich tragen!“ versetzte der Schulrath.

„Nicht doch, lieber Vater, o ich zahle die Summe ja so gern!“ rief mit Wärme der Sohn.

Mit tiefsinnigem Blicke, mit heiterm Lächeln sah Rosa ihn an. „Mein Theodor!“ sprach sie leise und küßte den Geliebten.

Der Director trat näher. Er dankte, dankte herzlich und gerührt.

„So sind wir ja Alle nun glücklich geworden!“ rief Theodor froh.

„Möge auch der es noch werden, der dort draußen verweilt!“ sprach der Schulrath; „ich werde mein Werk dann beginnen mit ihm!“

Da krachte im Vorsaal ein Schuß.

„Gott im Himmel!“ rief der Schulrath und floh schnell an’s Fenster.

Theodor und Rosa standen erschrocken, aber fest und getrost und liebend schlossen sie sich in die Arme.

Der Director, der herausgestürzt war, kam zurück und sprach:

„Auch er ist nun glücklich!“

Rauschenbach war todt. Mit einer Kugel hatte er sich das Haupt zerschmettert. Neben ihm lag ein Pistol, an seiner Brust [553] befestigt war die eine Blume, die er noch aufgefunden. In kleine Stücke zerrissen und auf den Boden gestreut, fand man die ABC-Buchblätter.

Nun Lärm und Verwirrung im Hause. Nun gerichtliche Aufhebung. Nun abermals schöne Merkzeichen von der Gesinnung der guten Menschen, die wir kennen lernten. Ein halbes Jahr verging, es kam der Winter.

Der todte Rauschenbach stand gerechtfertigt, der Director erklärte vor Gericht, er habe das Geld wiedergefunden.

Erst als die Herzen Aller sich beruhigt und erholt hatten von dem Eindrucke des Ereignisses, wurde Hochzeit gefeiert.

Schnurr war froh, daß weder er, noch sein Geld in’s Gedränge kamen. Bei der Hochzeit ragte er unter den Lustigen als der Lustigste hervor.

Theodor und Rosa lebten glücklich. Der Schulrath kaufte ein Haus, welches sie dann vereint bewohnten.

Der Wirth vom „schwarzen Bär“ erzählte es noch oft seinen Gästen vor, daß gerade bei ihm die ganze Geschichte begonnen habe. War dann Schnurr zugegen, so kam wohl auch das Gespräch auf alte ABC-Bücher, auf die weit besseren Unterrichtsmittel in der Gegenwart.

Niemals aber ertönte aus der bekannten Schulstube das Verslein wieder:

„Ein toller Wolf in Polen fraß
Den Tischler sammt dem Winkelmaß!“

nur geplaudert wurde noch oft davon, besonders zwischen Schnurr und dem Schulrath.