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Titel: Testament des Abraham
Untertitel:
aus: Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel S. 1091–1103, S. 1332f.
Herausgeber: Paul Rießler
Auflage:
Entstehungsdatum: 2. Jahrhundert
Erscheinungsdatum: 1928
Verlag: Dr. B. Filser
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Erscheinungsort: Augsburg
Übersetzer: Paul Rießler
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Commons
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56. Testament des Abraham
1. Kapitel: Michaels Auftrag
1
Als Abrahams Todestag herankam,

da sprach der Herr zu Michael:

2
Erhebe dich und geh zu meinem Diener Abraham

und sage ihm, er solle jetzt die Welt verlassen:

3
„Sieh, deines kurzen Lebens Tage sind erfüllt“,

daß er vor seinem Tod sein Haus bestelle!


2. Kapitel: Michaels Besuch bei Abraham
1
Und Michael zog hin und kam zu Abraham

und fand ihn vor den Pflugstieren sitzen;
er aber war nach seinem Aussehen sehr alt
und herzte eben seinen Sohn.

2
Als Abraham den Erzengel Michael erblickte,

erhob er sich vom Boden, grüßte ihn,
obwohl er ihn nicht kannte,
und sprach zu ihm:

3
Gott schütze dich!

Erhebe dich und ziehe glücklich deines Wegs!

4
Und Michael gab ihm zur Antwort:

Du bist so milde, edler Vater.
Da gab ihm Abraham zur Antwort:

5
Komm, Bruder, zu mir her

und setze dich ein wenig nieder,
daß ich dir Fleisch vorsetzen lassen kann!

6
Wir wollen uns zu meinem Haus begeben!

Da ruhe bei mir aus!
Denn es will Abend werden.
Und morgen ziehe hin,
wohin du willst!
Sonst möchte dir ein schlimmes Tier begegnen
und dich beschädigen.

7
Da sagte Michael zu Abraham:

Ach! Sag mir deinen Namen,
eh ich dein Haus betrete,
daß ich dir nicht beschwerlich falle!

8
Da gab ihm Abraham zur Antwort:

Es nannten meine Eltern mich einst Abram;
dagegen ward ich Abraham vom Herrn genannt,
indem er sprach:
„Erhebe dich und ziehe fort aus deinem Haus,
aus deiner Sippe
und gehe in ein Land,
das ich dir zeigen will!“

9
So zog ich in das Land,

das mir der Herr gezeigt.
Er sprach zu mir:
„Du heißest nicht mehr Abram, sondern Abraham.“

10
Da sagte Michael zu ihm:

Gestatte mir, mein Vater, du besorgter Gottesmann!
Ich bin ja fremd; doch hörte ich von dir,
du seiest vierzig Stadien weit gegangen
und habest da ein Rind geholt und es geschlachtet,
als du in deinem Hause Engel rasten ließest
und ihnen Herberg gabest. –

11
So sprachen sie, erhoben sich

und gingen beide zu dem Haus.

12
Und Abraham rief einen seiner Knechte

und sagte ihm:
Geh hin und hole mir ein Reittier,
darauf der Fremde reite!
Vom Reisen ward er müde.

13
Hingegen Michael:

Behellige den Diener nicht!
Wir wollen vielmehr fürbaß schreiten,
bis wir zu deinem Haus gelangen;
ich liebe das Zusammensein mit dir.


3. Kapitel: Abrahams Ahnung
1
So zogen sie dahin.
2
Als sie der Stadt auf ungefähr drei Stadien nahe waren,

da stießen sie auf einen großen Baum,
der wohl dreihundert Äste hatte, eine Art von Tamariske.

3
Und sie vernahmen eine Stimme,

die sang aus seinen Zweigen:
„O Heiliger, du brachtest eine Voransage dessen,
um dessentwillen du gesandt.“

4
Und Abraham vernahm die Stimme;

im Herzen aber barg er das Geheimnis
und dachte also:
Was mag doch das für ein Geheimnis sein,
was ich vernahm?

5
Als er sein Haus betrat,

sprach Abraham zu seinem Diener:
Erhebet euch und gehet zu den Schafen,
holt ihrer drei
und schlachtet sie geschwind!
Wartet beim Essen und beim Trinken auf!
Heute ist ein Freudentag!

6
Die Diener holten nun die Schafe,

und Abraham rief Isaak, seinen Sohn,
und sprach zu ihm:
Mein lieber Isaak, geh!
Gieß Wasser in die Schüssel,
daß wir dem Gast die Füße waschen!

7
Er tat, wie ihm befohlen.

Darauf sprach Abraham:
Ich habe eine Ahnung,
daß ich in dieser Schale
unserer Gäste keinem mehr die Füße wasche.

8
Als Isaak seinen Vater also reden hörte,

da weinte er und sprach zu ihm:

9
Mein Vater! Was sind das für Reden:

„Zum letztenmal wasch ich die Füße eines Gastes?“

10
Als Abraham in Tränen seinen Sohn erblickte,

weinte er heftig;
auch Michael brach bei dem Anblick ihrer Tränen
in Weinen aus.

11
Und Michaels Tränen fielen in die Schüssel

und wurden Edelsteine.


4. Kapitel: Michaels Fürsprache für Abraham
1
Als Sara ihren Jammerlaut in ihrer Wohnung hörte,

kam sie heraus und fragte Abraham:
Was gibt es, Herr, daß Ihr so weinet?

2
Drauf gab ihr Abraham zur Antwort:

Es ist nichts Schlimmes.
Geh nur in deine Wohnung wiederum zurück
und tu das Deine!
Wir wollen doch dem Mann nicht lästig fallen.

3
Darauf zog Sara sich zurück,

weil sie das Mahl besorgen wollte.

4
Die Sonne neigte sich zum Untergang,

und Michael verließ das Haus
und wurde in die Himmel aufgenommen,
um dort vor Gott ihn anzubeten.

5
Denn alle Engel beten Gott beim Untergang der Sonne an;

der Engel Erster aber ist Michael.

6
So beteten sie alle an

und gingen weg,
ein jeglicher an seinen Posten.

7
Nur Michael sprach noch vor Gott:

Herr, wolle mich vor deiner heiligen Glorie befragen!

8
Da sprach der Herr zu Michael:

Berichte, was du willst!

9
Da sprach der Erzengel:

O Herr, du sandtest mich zu Abraham,
ihm zu vermelden:
„Verlaß den Leib!
Geh aus der Welt!
Der Herr ruft dich.“

10
Ich aber wage nimmer, Herr,

ihm dies zu melden;
er ist dein Freund und ein gerechter Mann
und gastfrei.

11
Ich möchte dich, Herr, vielmehr dazu einladen:

Befiehl, daß in das Herz des Abraham
sich der Gedanke an sein Sterben schleiche!

12
Ich aber möchte ihm nichts sagen;

es ist dies eine schwere Aufgabe, zu sagen:
„Verlaß die Welt!“
Noch schwerer aber:
„auch den eignen Leib“.

13
Du ließest ihn von Anfang an

mit allen Menschen Mitleid haben.

14
Da sprach der Herr zu Michael:

Steh auf und geh zu Abraham
und bleib als Gast bei ihm!

15
Und iß auch selbst,

wenn du ihn speisen siehst,
und leg auch du dich dort zum Schlafe nieder,
sobald er schläft!

16
Ich will in seines Sohnes Isaaks Herz

im Traume den Gedanken
an Abrahams Hingang senken.


5. Kapitel: Michaels zweiter Besuch bei Abraham
1
So ging denn Michael an jenem Abend

ins Haus des Abraham
und traf sie an,
wie sie ein Mahl bereiteten;
sie aßen, tranken
und wurden froh.

2
Da sprach zu seinem Sohne Isaak Abraham:

Steh auf nun, Kind,

bereit dem Mann ein Lager, daß er ruhe,
und stell die Lampe auf den Leuchter!

3
Und Isaak tat, wie ihn sein Vater hieß.
4
Dann sprach zu seinem Vater Isaak:

Ich möchte mich in nächster Nähe bei euch schlafen legen

5
Doch Abraham erwiderte:

Doch nicht, mein Kind!
Wir möchten jenem Menschen sonst beschwerlich fallen.
Geh nur in deine Kammer; ruhe dort!

6
Obgleich nicht Isaak seines Vaters Rat zustimmte,

so ging er doch zur Ruhe in die Kammer.


6. Kapitel: Abrahams Trauer
1
Und es geschah zur siebten Stunde in der Nacht;

da machte Isaak aus dem Schlafe auf
und kam zur Türe seines väterlichen Hauses
und schrie und rief:
Ach Vater, öffne, daß ich dich genieße,
bevor man dich mir nimmt!

2
Und Abraham stand auf und öffnete,

und Isaak trat hinein
und hängte sich an seines Vaters Hals mit Tränen
und küßte unter Weinen ihn gar herzlich.

3
Da weinte Abraham mit seinem Sohn zusammen;

als Michael sie weinen sah,
vergoß er gleichfalls Tränen.

4
Als Sara in dem Schlafgemach das Weinen hörte,

da schrie sie auf und rief:

5
O Abraham, mein Herr!

Was soll es mit dem Weinen?
Vermeldete der Gast
dir deines Brudersohnes Lot Verscheiden?
Oder traf uns sonst etwas?

6
Darauf sprach Michael zu Sara:

Ich brachte keine Botschaft über Lot, o Sara;
vielmehr gedacht ich aller eurer Güte,
womit ihr alle Menschen auf der Erde übertreffet;
auch Gott gedachte euer.

7
Da fragte Sara Abraham:

Wie konntest du zu weinen dich erkühnen,
nachdem der Gottesmann bei dir doch eingekehrt?

8
Was weinten deine lichte Augen?

Es wird ja heute Freude herrschen.

9
Da frug sie Abraham:

Woher nur weißt du es, daß er ein Gottesmann?

10
Und Sara sprach:

Ich sage einfach: Er ist einer von den Dreien,
die bei der Mambreeiche unsere Gäste waren,
als von den Knechten einer ging
und dann mit einem Rinde kam
und du es schlachtetest.

11
Und damals sagtest du zu mir:

Erhebe dich und mach,
daß wir mit diesen Leuten
in unserm Hans jetzt speisen können!

12
Und Abraham erwiderte:

O Weib, das hast du fein bedacht.

13
Als ich ihm seine Füße wusch,

erkannt auch ich,
daß dies die Füße sind,
die bei der Mambreeiche ich einst wusch,
und als ich anfing, nach dem Weg zu fragen,
sprach er zu mir:
„Ich führe deinen Bruder Lot aus Sodoma hinweg“,
und so erfuhr ich das Geheimnis.


7. Kapitel: Isaaks Traum
1
Und Abraham sprach zu Michael:
2
Sag mir, o Gottesmann,

und offenbar es mir,
wozu du kamst?

3
Und Michael erwiderte:

Dies kann dir dein Sohn Isaak kundtun.

4
Da sagte Abraham zu seinem Sohn:

Mein lieber Sohn,
sag mir, was du im Traume heute schautest,
weshalb du dich so fürchtest!
Tu mir es kund!

5
Da sprach zu seinem Vater Isaak:

Ich sah in meinem Traum die Sonne und den Mond;
auf meinem Haupte war ein Kranz.

6
Da war ein riesengroßer Mann,

der von dem Himmel leuchtete wie Licht,
den man „des Lichtes Vater“ nennen könnte.

7
Er nahm die Sonne mir vom Haupte

und ließ in mir die Strahlen nur zurück.

8
Da weinte ich und sprach:

Ich bitte dich, mein Herr:
Nimm mir doch nicht die Zierde meines Hauptes
und meines Hauses Licht, ja meine ganze Herrlichkeit!

9
Es klagten auch die Sonne und der Mond;

die Sterne riefen:
„Nimm doch nicht unseres Heeres Schmuck hinweg!“

10
Da gab mir jener lichte Mann zur Antwort:

Ach weine nicht, daß deines Hauses Licht ich nahm!
Es wurde ja von Mühsalen zur Ruhe aufgenommen
und von Erniedrigung zur Höhe.

11
Sie bringen ihn aus Enge in die Weite;

sie bringen ihn aus Finsternis ins Licht.

12
Da sagte ich zu ihm:

Ich bitte dich, o Herr:
Nimm auch die Strahlen mit ihm fort!

13
Er sprach zu mir:

Zwölf Stunden sind es in dem Tag
und dann nehm ich die ganzen Strahlen fort.

14
So sprach zu mir der lichte Mann.

Da sah ich meines Hauses Sonne in den Himmel fahren
und jenen Kranz erblickte ich nicht mehr.

15
Doch jene Sonne hatte Ähnlichkeit mit meinem Vater.
16
Da sprach zu Abraham Michael:

Es sprach dein Sohn Isaak die Wahrheit.
Du bist es nämlich;
du wirst auch in die Himmel aufgenommen.

17
Dein Leib jedoch bleibt hier auf Erden,

bis siebentausend Zeiten sich erfüllt;
dann nämlich wird ein jeder Körper auferweckt.

18
Nun also, Abraham, bestell dein Haus,

verfüge über deine Kinder!
Denn du vernahmst das Ende deiner Haushaltung·

19
Da sagte Abraham zu Michael:

Ich bitte dich, o Herr:
Wenn ich schon meinen Leib verlassen soll,
so wünschte ich zuvor schon körperliche Aufnahme,
daß ich die Kreaturen schauen kann,
die in dem Himmel und auf Erden
Gott, mein Herr, geschaffen hat.
Da sagte Michael:
Dies ist nicht meine Sache;
doch will ich gehen
und dieses meinem Herrn vermelden,
und werde ich’s geheißen,
zeig ich dir alles.


8. Kapitel: Abrahams leibliche Himmelfahrt
1
Und Michael ging in die Himmel

und sprach für Abraham vorm Herrn.

2
Da sprach der Herr zu Michael:

Geh hin und bringe Abraham im Leib herauf
und zeig ihm alles
und was er zu dir sagt,
tu ihm als meinem Freund!

3
So ging nun Michael

und brachte Abraham im Leib auf einer Wolke her
und führte ihn zum Weltenstrom.

4
Da schaute Abraham und sah zwei Tore,

das eine klein, das andere groß,

5
Und zwischen beiden Toren saß ein Mann

auf einem Thron voll Glanz
und eine Menge Engel rings um ihn.

6
Bald weinte er; bald lachte er;

das Weinen aber überstieg das Lachen siebenfach.

7
Da fragte Abraham den Michael:

Wer ist doch der,
der zwischen beiden Toren sitzt voll Herrlichkeit,
bald weint, bald lacht
und dessen Weinen siebenfach das Lachen übersteigt?

8
Da sagte Michael zu Abraham:

Erkanntest du ihn nicht, wer’s ist?

9
Er sagte: Nein, o Herr.
10
Da sagte Michael zu Abraham:

Siehst du die beiden Tore hier, das kleine und das große?

11
Es führen diese in das Leben und in das Verderben.
12
Der Mann, der zwischen ihnen sitzt, ist Adam,

der erste Mann, den einst der Herr geschaffen.

13
Er setzte ihn an diesen Platz,

damit er jede Seele
beim Austritt aus dem Körper schaue:
von ihm ja stammen alle ab.

14
Wenn du ihn weinen sahst, so wisse,

er schaute viele Seelen ins Verderben gehen!

15
Wenn du ihn lachen sahst,

so sah er ein paar Seelen in das Leben eingehen.

16
Siehst du, wie er mehr weint als lacht?

Weil er der Menschen Mehrzahl
durch diese breite Straße zum Verderben ziehen sieht.
Deswegen übersteigt das Weinen siebenfach das Lachen.


9. Kapitel: Die enge Pforte
1
Da fragte Abraham:

Wer aber durch die enge Pforte nicht eintreten kann,
vermag der nicht ins Leben einzugehen?

2
Dann weinte Abraham und sprach:

Weh mir! Was soll ich tun?

3
Ich bin ein Mensch, so breit durch meinen Körper.

Wie kann ich in die enge Pforte treten,
durch die kein fünfzehnjähriger Knabe kommen kann?

4
Da sagte Michael zu Abraham:

Hab keine Angst noch Trauer, Vater!

Du wirst ganz unbehindert durch sie kommen,
desgleichen alle, die dir gleichen.

5
Solange Abraham noch dastand und sich wunderte,

trieb schon des Herren Engel
an sechzigtausend Seelen ins Verderben.

6
Da sagte Abraham zu Michael:

Ja, gehen diese alle ins Verderben?
Da sagte Michael zu ihm:

7
Jawohl; doch laßt uns gehen

und nachforschen bei diesen Seelen,
ob es darunter auch nur eine einzige gerechte gibt!

8
So gingen sie und trafen einen Engel,

der aus den sechzigtausend
nur eine einzige Weiberseele in den Händen hielt,
weil ihre Sünden ganz genau wie alle ihre Werke wogen
Und solche waren nicht in Drangsal noch in Ruhe,
vielmehr an einem Zwischenort.

9
Die andern Seelen aber brachte er in das Verderben.
10
Da sagte Abraham zu Michael:

O Herr! Ist das der Engel,
der aus dem Leib die Seele holt,
oder nicht?

11
Da sagte Michael:

Dass ist der Tod;
er führt sie zum Gerichtsort,
damit der Richter über sie das Urteil spreche.


10. Kapitel: Abrahams Reise ins Paradies
1
Da sagte Abraham:

Mein Herr, ich bitte dich:
Führ mich zu dem Gerichtsorte,
damit ich seh, wie sie gerichtet werden!

2
Darauf nahm Michael den Abraham auf einer Wolke mit

und führte ihn ins Paradies.

3
Und als sie an den Ort gelangten, wo der Richter war,

erschien der Engel
und stellte eine Seele vors Gericht.

4
Die Seele aber rief: Erbarm dich meiner, Herr!
5
Da sprach der Richter:

Wie kann ich denn mit dir Erbarmen haben,
da du mit deiner eignen Tochter
kein Mitleid hattest,
mit deines Leibes Frucht?
Warum hast du sie umgebracht?

6
Sie sprach: Ach nein, o Herr!

Ich habe keinen Mord verübt;
nur meine Tochter hat mich so verleumdet.

7
So ließ der Herr nun den Chronisten kommen.
8
Und Cherubim erschienen mit zwei Büchern;

bei ihnen war ein riesengroßer Mann,
der auf dem Haupt drei Kränze trug.

9
Der eine Kranz war aber höher als die beiden andern;

die Kränze aber hießen Zeugniskränze.

10
Es trug der Mann in seiner Hand ein golden Schreibrohr;

der Richter sprach alsdann zu ihm:
Stell dieser Seele Sünde fest!

11
Darauf schlug jener Mann

das eine jener Bücher aus den Cherubshänden auf
und suchte nach der Sünde jener Weiberseele
und fand sie auch.

12
Da sprach der Richter:

O üble Seele! Wie kannst du behaupten,
du hättest keinen Mord begangen?

13
Gingst du denn nicht nach deines Mannes Tode hin

und brachst mit deiner Tochter Mann die Ehe
und brachtest sie ums Leben?

14
Auch ihre andern Sünden tat er dar

und was sie je von Jugend auf getan.

15
Als dies das Weib vernahm, da schrie sie laut:

Weh mir! Weh mir!
Ich habe alle meine Sünden,
die ich in dieser Welt beging, vergessen;
hier aber sind sie nicht vergessen.

16
Da nahm man sie

und übergab sie ihren Peinigern.


11. Kapitel: Das Seelengericht
1
Da sagte Abraham zu Michael:

Herr! Wer ist dieser Richter
und wer ist jener andre, der die Sünden nachweist?

2
Da sagte Michael zu Abraham:

Siehst du den Richter?
Es ist dies Abel, der am Anfang Zeugnis gab;
ihn brachte Gott an diesen Ort, zu richten.

3
Und der den Nachweis führt,

das ist der Lehrmeister für Erde und für Himmel,
der Schreiber der Gerechtigkeit, Henoch.

4
Es sandte sie der Herr hieher,

damit sie eines jeden Sünden
und die gerechten Taten aufschrieben.

5
Da sagte Abraham:

Wie kann nur Henoch das Gewicht der Seelen abschätzen,
da er den Tod nicht kostete?

6
Da sagte Michael:

Wollt er ein Urteil fällen,
wär dies ihm nicht gestattet;
jedoch wird nicht des Henoch Urteil ausgesprochen.

7
Der Herr ist’s, der es ausspricht,

und jener hat nichts anderes zu tun,
als aufzuschreiben.

8
Es hatte Henoch einst den Herrn gebeten:

„O Herr, ich möchte nicht ein Urteil über Seelen sprechen,
auf daß ich keiner unrecht tue.“

9
Da sprach der Herr zu Henoch:

Ich will, daß du die Sünden einer Seele niederschreibst,
wenn sie begnadigt wird,
wird aber eine Seele nicht begnadigt und bereut sie nicht,
so wirst du ihre Sünden aufgezeichnet finden;
sie selber wird der Strafe überliefert werden.


12. Kapitel: Abrahams Rückkehr
1
So schaute Abraham die Stätte des Gerichtes;

da führte ihn die Wolke in das Firmament hinab.

2
Als Abraham die Erde wieder sah,

erblickt er einen Mann,
der Ehebruch mit einem Eheweibe trieb.

3
Da wandte Abraham sich um und sprach zu Michael:

Siehst du dort diesen Frevel?
Wohlan, send Feuer aus dem Himmel, daß es sie verzehre!

4
Und zugleich fiel ein Feuer, das sie aufzehrte.
5
Es hatte ja der Herr zu Michael gesprochen:

„Um was dich immer Abraham ersucht, das tue!“

6
Und wieder schaute Abraham und sah,

wie andre ihre Freunde verleumdeten.

7
Er sprach:

Es öffne sich die Erde und verschlucke sie!

8
Und während er noch sprach,

verschlang lebendig sie die Erde.

9
Da brachte ihn die Wolke wiederum an einen andern Ort:

da schaute Abraham,
wie einige an eine öde Stätte gingen, um zu morden.

10
Da sagte er zu Michael:

Siehst du dort diese Missetat?
Wohlan, es mögen wilde Tiere aus der Wüste kommen
und sollen sie zerreißen!

11
Zur selben Stunde kamen wilde Tiere aus der Wüste und sie zerrissen sie.
12
Da sagte Gott, der Herr, zu Michael:

Bring Abraham zu seinem Haus zurück
und laß ihn nicht in meiner Schöpfung mehr umherwandern,
dieweil er sich der Sünder nicht erbarmt!

13
Dagegen ich erbarme mich der Sünder,

auf daß sie, sich bekehrend, leben
und Reue über ihre Sünden fühlen und so Rettung finden.

14
Zur neunten Stunde brachte Michael

den Abraham zu seinem Haus zurück.

15
Als Sara Abraham nicht mehr vor Augen hatte

und noch nicht wußte, was geschehen war,
da wurde sie von Kummer aufgezehrt und starb.

16
Bei seiner Heimkehr fand sie Abraham gestorben

und er begrub sie.


13. Kapitel: Des Todes Besuch bei Abraham
1
Nun nahte sich der Todestag des Abraham.

Da sagte Gott, der Herr, zu Michael:
Es dürfte nicht der Tod den Mut besitzen,
die Seele meines Dieners abzuholen,
weil er mein Freund ist.

2
Wohlan, so geh und schmück den Tod mit vieler Zier

und send ihn so zu Abraham,
daß er mit eignen Augen ihn erblicke!

3
So schmückte Michael sofort, nach dem Geheiß,

den Tod mit vieler Zier
und sandt’ ihn so zu Abraham,
daß er ihn schaue.

4
Da setzte er sich in die Nähe Abrahams.
5
Als Abraham den Tod in seiner Nähe sitzen sah,

erschrak er heftig.

6
Da sprach der Tod zu Abraham,

Gegrüßet seist du, heilige Seele!
Gegrüßt du Freund des Herrn, Gottes!
Gegrüßt du Trost der fremden Wandersleute!

7
Da fragte Abraham:

Du kommst gerade recht, des höchsten Gottes Diener!
Ich bitte dich: Vermeld mir, wer du bist!
Geh in das Haus, nimm Speis und Trank;
verlaß mich aber dann!

8
Denn seit ich dich in meiner nächsten Nähe sitzen sah,

befiel Verwirrung meine Seele.

9
Ich bin ja gar nicht wert, bei dir zu weilen;

du bist ein hoher Geist, ich aber Fleisch und Blut;
deswegen kann ich deine Glorie nicht ertragen.

10
Ich sehe ja, daß deine Zierde nicht von dieser Welt.
11
Da sprach der Tod zu Abraham:

Ich sage dir, daß in der ganzen Gottesschöpfung
sich deinesgleichen nicht vorfand.
Gott selber suchte;
doch fand er keinen solchen auf der ganzen Erde.

12
Da sagte Abraham zum Tod:

Wie konntest du so dreist Unwahres sagen?

13
Ich sehe ja, daß deine Zierde nicht von dieser Welt.
14
Da sprach der Tod zu Abraham:

Glaub, Abraham, nicht,
daß diese Zierde stets mir eigen ist,
oder daß ich so zu jedem andern Menschen gehe!

15
Nein! Nur wenn jemand so gerecht wie du,

dann nehm ich Kränze mit
und gehe so zu ihm.

16
Ist er jedoch ein Sünder, komme ich in starker Fäulnis,

auf meinem Haupte einen Kranz aus seinen Sünden,
und ich erschrecke ihn mit großer Angst,
so daß er sich entsetzt.

17
Da frug ihn Abraham:

Woher stammt diese Zier?

18
Da sprach der Tod:

Kein anderer ist fauliger als ich.

19
Da sagte Abraham zu ihm:

Bist du dann nicht der sogenannte Tod?

20
Er sprach zu ihm:

Ich bin das bittere Wort;
ich bin das Weinen.


14. Kapitel: Abrahams Tod
1
Da sagte Abraham zum Tod:

Zeig uns doch deine Fäulnis!

2
Da ließ der Tod ihn seine Fäulnis sehen.

Und er besaß zwei Köpfe.

3
Der eine hatte eines Drachen Angesicht

und durch ihn sterben einige
ganz unversehens unter Schilden.

4
Der andere Kopf glich einem Schwert

und durch ihn fallen einige durchs Schwert
sowie durch Bogen.

5
Aus Furcht vorm Tode kamen jenen Tags

die Diener Abrahams ums Leben;
bei ihrem Anblick betete Abraham zum Herrn
und er erweckte sie.

6
Doch Gott kam wieder

und er versenkte Abrahams Seele wie in Träume
und also nahm der Erzengel Michael
sie in den Himmel mit.

7
Und da begrub nun Isaak seinen Vater

zur Seiten seiner Mutter Sara.
Er pries und lobte Gott;
denn ihm gebühret Ehre, Ruhm und Anbetung, –
dem Vater, Sohn und Heiligen Geist, –
von nun an bis in Ewigkeit. Amen.

Erläuterungen

[1332]
56. Zum Testament Abrahams

Das Ganze ist eine Legende. Sie erzählt von der Todesbotschaft an Abraham. Eingestreut ist eine Vision, die Reise Abrahams in den Himmel und seine Rückkehr. Die Eschatologie ist verschieden von der in der Apokalypse Abrahams. Diese betont die nationale Seite, unser Testament die individuelle vom essenischen Standpunkt aus. Für essenische Abfassung spricht auch die [1333] Betonung der Gastfreundschaften. Damit stellt sich diese Schrift in die Gruppe der jüdischen Literatur, die in besondern Büchern besondere Tugenden behandelte, wie die zwölf Patriarchen, das Testament Iobs, Joseph und Asenath. Das Schriftchen liegt griechisch in zwei Rezensionen vor, in einer längeren und einer kürzeren. Letztere verdient den Vorzug. Die längere ist christlich überarbeitet. Bezeichnend für die Schrift in beiden Rezensionen ist das Fehlen des eigentlichen Teufels. Dieses dürfte in vorchristliche Zeit weisen. Die Ursprache war semitisch (s. Texts and Studies II 2 M. R. James, The Testament of Abraham 1892 Google, Jewish Quarterly Review VII 1895, 581 ff JSTOR = IA, Th Q 1925, 5 ff ).

  • 2: 6 Muster der Gastlichkeit, ein essenischer Zug (s. Jos. B. J. II 8, 4. 10 Gen 18, 1 ff.
  • 3: 3 Der Heilige ist Michael. Die Voransage bezieht sich auf Abrahams Tod. Sprechende Bäume kommen wie in der griechischen, so auch in der rabbinischen Literatur vor.
  • 4: 5 Dieser Zug kommt auch in der Apokalypse Pauli vor, ebenso in der Apokalypse Mosis und im Testament Adams.
  • 6: 6 s. 4, 10. 13. 10 Gen 18, 1 ff. 13 Gen 18, 17 ff „nach dem Weg“ oder der weiteren Reise des Besuchers.
  • 7: 9 Genannt ist Abraham. 17 Die leibliche Auferstehung nach 7000 Jahren hängt mit der Ansicht zusammen, die Welt besitze eine Dauer von 7000 Jahren (s. Barnab. 15, 6, Victorinus). 19 Gleich Henoch; s. 2 Kor 12, 3.
  • 9: 8 Das Wägen der Seelen ist der ägyptischen Mythologie eigen. Im A. T. erscheint es rein bildlich (s. Iob 31, 6 Dan 5, 27 Ps 62 9 Prov 16, 2).
  • 10: 11 Die Gerichtsbücher finden sich auch in Dan 7, 1 ff Henoch 90, Apok 20, 4 Esdr. 6, 20. Sie enthalten entweder die Namen der zu Rettenden oder die Liste der Taten. In anderen Büchern, Jubiläen, Zwölf Patriarchen, Asenath sind es die himmlischen Tafeln, die die Menschengeschicke enthalten. Origenes deutet sie auf die Sterne.
  • 12: 12 Hervorragender Zug der Milde gegen die gefallenen Mitmenschen; auch eine essenische Eigentümlichkeit s. Jos. B. J. II 8, 6 „zwei Dinge sind ihnen (den Essenern) freigestellt, Hilfswilligkeit und Barmherzigkeit“.
  • 13: 6 Abermalige Betonung der Gastfreundlichkeit.