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Titel: Türkische Eisenbahnen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 578–579
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Türkische Eisenbahnen.

Locomotiven und Türken, das klingt wie rothe Republik und Polizeipräsident, wie Biene und Faulthier. Und doch ist der Türke schon auf dem Wege, seine krummen Beine seufzend in das Coupé zu schleppen und mit Verzweiflung die Erfahrung zu machen, daß man sich darin nur auf das Gesäß und nicht auf die Beine setzen kann, oder dieser Wirtschaft stumm den Rücken zu kehren, auf den Tod zu warten und Tabak dazu zu rauchen.

In der Türkei werden wirklich schon Eisenbahnen gebaut, andere sind projectirt und werden in Angriff genommen. Die erste fertige Bahn auf dem Terrain des Korans ist die zwischen Suez und Alexandria, ein Stück Weg zwischen Indien und England und Europa überhaupt. Um diesen Weg noch bedeutend zu kürzen, beabsichtigt man, zwischen Antiochien, Bagdad und Bassorah die sogenannte „Euphrat-Thal-Eisenbahn“ zu ziehen. Die für diesen Zweck gebildete Compagnie hat sich für die Richtung von der Mündung des Orontes über Aleppo nach dem Taber-Schlosse am Euphrat entschieden. Aleppo mit seinen 70,000 Einwohnern treibt bedeutenden Handel mit eigenen Export- und europäischen Import-Artikeln auf Eseln und Kameelen, welche durch schnellere, unermüdliche Dampfpferdekräfte ersetzt und auf das Zehn- bis Fünfzigfache vermehrt werden sollen.

Kleine Dampfer werden zwischen der Mündung der Bahn und Bassorah am Kopfe des persischen Meerbusens die große projectirte Eisenbahn zwischen dem persischen Meerbusen und dem mittelländischen Meere (= 1200 engl. Meilen) auf dieser Stelle ergänzen, bis sie vollendet sein wird.

Dies wird noch lange dauern; aber schon die Erreichung des alten Culturflusses Euphrat ist von der größten Wichtigkeit für die modernen Verhältnisse und Bedürfnisse der Menschheit, die keine faulen Flecke auf der runden Erde mehr dulden soll und will. Der Euphrat öffnet die große ungeheure Ebene Mesopotamiens bis Bagdad und Bassorah, einst die Mitte des üppig blühenden babylonischen Reichs. Bagdad ist schon jetzt eine bedeutende Handelsstadt für den westlichen Theil Persiens. Die ganze Bahn wird Bombay und Malta auf eine Reise von 14 Tagen nähern. Der Weg über’s rothe Meer kostet 20 Tage bis einen Monat.

Zunächst kommt es der Compagnie auf Vollendung der Strecke von Suédiah, dem Thore Kleinasiens, in’s Innere an. Suédiah liegt an der Antiochien-Bucht an der Mündung eines großen Flusses, der in fruchtbare Getreide-, Seide-, Früchte- und Viehheerden-Thäler führt. Diese Thäler sind durch hohe Waldgebirge gegen trockene Winde geschützt. In letzteren schlummern reiche Kohlen-, Kupfer- und Eisenadern. Das Klima ist weich und warm. Schöne, fließende Berggewässer liefern Frische, Fruchtbarkeit, Kühlung und Schönheit. Die alten Römer machten diese Gegenden, so lange sie Syrien besaßen, zur Perle Kleinasiens und Antiochien zu ihrer Hauptstadt. An der Küste entlang kommen wir nach Smyrna, dem großen Hafen dieser Abtheilung des türkischen Reichs für das mittelländische Meer. Früher war Smyrna der Endpunkt der Karawanenzüge aus dem Innern zum Austausch herrlicher Früchte etc. mit europäischen Fabrikaten. Aber durch Eröffnung einer neuen Handelsstraße über Trebisond und Erzerum verfiel Smyrna. Nur Feigen, Getreide und Farbestoffe hielten es aufrecht. Ein innerer Knotenpunkt des kleinasiatischen Handels ist Aidin. Dieser wird durch eine Eisenbahn mit Smyrna verbunden, sodaß die englischen, französischen, italienischen und deutschen Kaufleute von da aus fleißiger und flüssiger mit Marseille, Genua, Livorno, Triest etc. werden verkehren können.

Im Norden Kleinasiens finden wir Samsun, das ein Knotenpunkt der großen europäisch-indischen Straße über die begonnene Moldau-galizische Eisenbahn und über Diarbekir und Bagdad werden wird. Die türkische Regierung hat eine englische Compagnie zur Erbauung einer Eisenbahn zwischen Samsun, Tokat und Siwas bevollmächtigt. Siwas ist nicht weit von Diarbekir, der ersten wichtigen Stadt im lachenden Tigris-Thale, das sich als fruchtbare Ebene bis Mosul und Bagdad erstreckt und einer Eisenbahn gar keine besonderen Schwierigkeiten entgegensetzt. Die ungeheure Ebene ist üppig fruchtbar mit manchen Städten und Dörfern besäet, die für die Ueberfülle ihres Bodens nur Käufer bedürfen, um fleißig, civilisirt und reich zu werden. Die Eisenbahn wird ihnen Abnehmer auf Hunderte von Meilen verschaffen. Der bisherige Transport auf Thier-Rücken ist langsam, kostspielig und deshalb unfähig, dort Cultur zu begünstigen und zu verwerthen. Alles schläft und faulenzt daher in jenen Thälern alter Cultur. Die Eisenbahn wird ihnen wieder Kraft, Frische und Leben schaffen.

Tokat hat unerschöpfliche Kupferminen. Siwas ist der Mittelpunkt eines an levantischen Produkten reichen Districts. Die große Eisenstraße von Calais bis Galatz, vollendet über Deutschland hinweg und in einem Theile Galiziens, wird dahin und bis Indien führen. Es fehlt nur noch der Theil Eisenbahn durch die Moldau, um einen großen Dampfweg von England bis Siwas herzustellen. Die Pforte hat für die betreffende Eisenbahn 7 Procent garantirt und sich verpflichtet, ein Drittel der Actien zu realisiren, so daß das Unternehmen als gesichert und profitabel betrachtet werden kann. Die Pforte hat sich durch diese und andere Eisenlinien das Thor zu einer neuen, wenn such vielleicht unmuselmännischen Zukunft eröffnet. Die Türkei ist der freihändlerischste Staat in der Welt und quält und brandschatzt die Handels- und Culturartikel fleißiger Menschen von allen Zöllnern am wenigsten. Wird erst wirklich producirt und gehandelt in der Türkei, so kommt der Segen des freien Verkehrs auch zu seiner segensreichen Geltung. Leider steht nur zu befürchten, daß sich höhere, westliche Civilisation an Grenzen und Häfen festsetzen und sich Steuern erbitten wird.

Das sind Eisenbahnen für die asiatische Türkei. In der europäischen finden wir auch eine Menge theils projectirte, theils bereits begonnene Bahnen. Die wichtigste ist hier zunächst die von [579] Constantinopel über Adrianopel nach Belgrad, die alte Heerstraße der Römer von der östlichen Hauptstadt nach Mösien. Adrianopel, Philippopel, Sophia und Belgrad liegen alle fast genau in einer geraden Linie nach Wien. Doch das ganze Unternehmen von Constantinopel nach Wien ist eins der großartigsten und schwierigsten, da die Schluchten des Balkan und viele andere Höhen und Thäler durchbrochen und geebnet werden müssen. Weniger kostspielig ist das Project einer Eisenbahn von Rustschuk, dem großen Getreide-Emporium der untern Donauländer, nach Enos am mittelländischen Meere, unterhalb der Dardanellen, nicht über, sondern um den Balkan herum. Eine kürzere Linie ist zwischen Rustschuk und Varna projectirt. Das sind noch Projecte. Für die Bahn zwischen Kustendsche und Czernawoda, welche die große Zunge von Unter-Bulgarien oder die Dobrudscha durchschneidet, ist das Capital schon gezeichnet und der Anfang schon gemacht worden. Man sehe sich eine gute Karte an und man wird finden, daß die Donau, statt hier ihren östlichen Lauf zu verfolgen, einen großen nördlichen Umweg nimmt und dann in mehreren seichten Ausflüssen das schwarze Meer erreicht. Diese Ausflüsse sind nur bei gutem Wetter mit leichten Fahrzeugen schiffbar und sehr vernachlässigt worden. Dabei hat der Handel von Galatz, dem Hafen der Moldau, und Ibraila, dem Handelsmittelpunkte der Walachei, seit 1838 mehr als fünfzehnfach zugenommen. Kann man nun mit Eisenbahn diese beschwerlichen, kostspieligen Straßen der Donaumündungen umgehen, so wird der Verkehr mit den von Natur so reichen Ländern Moldau und Walachei vielleicht auf’s Dreißigfache gesteigert uns und ihnen zu Gute kommen. Von den westlichen Theilen der Walachei wird das Getreide auf schlechten Landwegen nach Kalafat und von da in Donaubarken nach Ibraila befördert. Von der inneren Walachei, der Moldau und Bulgarien bedient man sich elender Karren, um den goldenen Ueberfluß auf die Donau zu bringen. Agenten von Kaufleuten handeln das Getreide direct von den Bauern ein und schaffen es auf die angedeutete, mühsame, riskante Weise in die Emporien und Häfen. Dabei blühen Lug und Trug, Verzug und Verlust, Mord und Todtschlag, wofür auch wir büßen und bezahlen müssen, da zu wenig Getreideüberfluß und zu theuer auf die Weltmärkte kommt und alle Viergroschenbrode der Welt abhält, die gehörigen Dimensionen für den gemeinen und armen Mann anzunehmen.

Bisher kommen ungeheure Getreidelasten für Europa, besonders für England, in der angedeuteten Weise aus den unteren Donauprovinzen. Aber es fehlt an wohlfeilen und hinreichenden Transportmitteln in’s schwarze Meer. Daher leiden die Donaubauern an Ueberfluß unverwerthbaren Getreides, in Folge davon an Faulheit und Demoralisation aller Art, und wir an Mangel der nöthigen Lebensmittel, deren die Erde bei nur einigermaßen erträglicher Bewirthschaftung und guten Straßen für doppelt so viel Menschen, als jetzt nicht genug zu essen haben, in Hülle und Fülle liefern würde. Die projectirte Eisenbahn will dem Ueberflusse der untern Donau einen Weg nach dem schwarzen Meere und so nach dem westlichen Europa bahnen, und überdies dem von Natur reichsten, aber künstlich armen Lande Bulgarien Menschen verschaffen, die golden lohnender Ackerbau und blühende Viehzucht hierher locken wird. Die Eisenbahn zwischen Kustendsche und Czernowada wird dies thun. Kustendsche, das alte Constantia, war ehemals eine blühende Stadt mit lebendigem Hafen. Die Ruinen alter Kirchen, Ueberbleibsel alter, prächtiger Hafenbauten u. s. w. legen noch Zeugniß davon ab. Hinter ihr breiten sich große offene Ebenen mit dem fruchtbarsten Alluvialboden aus. Das Terrain steigt und ist ungemein gesund. Nur ein Fluch lastet auf der von Natur gesegneten Gegend: der Krieg mit seinem Gefolge. Wer diesen Fluch von den Donauländern nähme, würde sich allerdings um die Menschen dort und überall verdienter machen, als die Eisenbahn-Compagnie. Kustendsche kann mit einigen Wasserbauten zu einem Hafen, sechsmal größer, als der von Odessa, erweitert werden. Außerdem ist hier das Wasser stets eisfrei und zweihundert englische Meilen näher dem Bosporus als Odessa.

Die Dobrudscha besteht aus 5000 englischen Quadratmeilen reichen, lockeren, porösen Bodens, im Allgemeinen 300 Fuß höher, als die Meeresfläche. Nur im Norden steigen die Hügel auf bis zu 2500 Fuß hohen Waldgebirgen, welche das Land vorn gegen kalte Winde schützen und vor dem Austrocknen bewahren. Der Boden ist wellig von Hügel und Thal mit vielen malerischen Sectionswindungen. Flüsse bleiben bisher freilich größtentheils in Sümpfen stecken, doch können die Thäler leicht zu ordentlichen Flußbetten verbunden werden. Der Boden ist bis zu beträchtlicher Tiefe reicher Humus, der Bäume, Cerealien, Küchengewächse und Blumen üppig in die Höhe treibt. Die Eisenbahn wird an einer Reihe von Seen, Nebengewässern der Donau, hingeführt und zwar auf einem vier bis sechs Fuß hohen Dammwerk, das am 22. October vorigen Jahres begonnen ward.

Das sind die projectirten oder in Angriff genommenen türkischen Eisenbahnen, denen jedenfalls bald andere folgen werden, da die Regierung selbst die politische und sociale Nothwendigkeit derselben einsieht und alle möglichen Begünstigungen bietet. Die politische Wichtigkeit besteht besonders in Verbindung ferner, durch Wüsten getrennter Regierungsstädte, die bis jetzt schwer zugänglich, schlecht zu controliren waren, so daß die Regierungsbeamten in Bestechung und Corruption aller Art das Land nur für ihren Beutel aussaugten, ohne daß Constantinopel etwas davon erfuhr oder dagegen etwas zu thun im Stande war. Die sociale und ökonomische Wichtigkeit leuchtet ein, wenn man bedenkt, daß hauptsächlich Mangel an Communicationsmitteln die reichsten Strecken auf Hunderte von Meilen in traurige Wüsten verwandelte.

Wir haben angedeutet, daß diese Eisenbahnen „hinten weit in der Türkei“ auch dem „Haben“ in unsern Contobüchern zu Gute kommen werden, ohne daß wir Actien nehmen. Bei der allseitigen und flüssigen, schnellen Verbindung aller Weltmärkte kann sich Jeder in jedem Winkel der Erde freuen, wenn irgendwo etwas Gescheidtes zur Erleichterung des Austausches der Producte und Fabrikate der Erde, von Waaren oder Ideen gethan wird, denn in irgend einer Weise kommt es uns immer zu Gute, wo wir auch stecken und was wir auch thun und treiben.

Das ist das Wesen und die Macht, der Segen und Reiz des sogenannten Kosmopolitismus, der nicht in Worten und Hirngespinnsten besteht, sondern die Welt wirklich in allen Fugen und Poren, in allen Muskeln und Nerven bewegt, und den wir uns nur etwas klar zu machen, zu Herzen zu nehmen brauchen, um über Elend und Misere des Tages und localer Scheerereien hinweg getragen zu werden und auf dem großen Erdenrund zu finden, was wir in unserer nächsten Umgebung oft vergebens suchen.