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Autor: Franz von Liszt
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Titel: Strafrechtsreform
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aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Sechzehntes Hauptstück: Polizei und Sicherheitsreformen, 90. Abschnitt, S. 195−202
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[195]
90. Abschnitt.


Strafrechtsreform.
Von
Geh. Justizrat Dr. Franz von Liszt,
o. Professor der Rechte an der Universität Berlin.


Eine Übersicht über die allmählige Entwicklung der Reformideen geben die fast dreissig Jahre umfassenden Abhandlungen in v. Liszt, Strafrechtliche Aufsatze und Reden, zwei Bände, 1905.
Vergleiche dazu die Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung seit 1889;
ferner Goldschmidt, Abschnitt „Strafen“ in der Vergleichenden Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts Allgemeiner Teil Band IV S. 81–470 (mit reichhaltigen Angaben über Gesetzgebung und Literatur des Auslands für die meisten einschlagenden Fragen),
v. Liszt, Lehrbuch des Strafrechts 20. Auflage 1913 §§ 13, 15, 16, 17 (mit Literatur).
Lenz, Die anglo-amerikanische Reformbewegung im Strafrecht 1908. –
Für die Vorgeschichte der Bewegung:
Wahlberg, Das Prinzip der Individualisierung in der Strafrechtspflege 1869
(dazu Tschubinsky in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft XXIII, S. 64).
Mittelstädt, Gegen die Freiheitsstrafen 1879.
Kräpelin, Die Abschaffung des Strafmasses 1880. –
Im Einzelnen:
v. Liszt, „Bedingte Verurteilung und bedingte Begnadigung“ in der Vergleichenden Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts Allgemeiner Teil III S. 1 bis 91. –
v. Lilienthal „Jugendliches Alter“ ebenda V S. 103 bis 161.
Kahl, „Geminderte Zurechnungsfähigkeit“ ebenda (I) S. 1 bis78. –
Aschaffenburg „Geisteskranke und Gewohnheitsverbrecher“ ebend I S. 79 bis 133. –
Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch mit Begründung 1909 Dazu:
Aschrott und v. Liszt, Die Reform des Strafgesetzbuchs 2 Bände 1910
Regierungsentwurf zu einem österreichischen Strafgesetzbuch mit erläuternden Bemerkungen 1912.
Vorentwurf zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch (April 1908).
Gegenentwurf zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuches aufgestellt von Kahl, v. Lilienthal, v. Liszt, Goldschmidt mit Begründung 1911. –
Für die (freilich voneinander weitabweichenden) Ansichten der Gegner vgl. die von v. Birkmeyer und Nagler herausgegebenen „Kritischen Beiträge zur Strafrechtsreform“ 1908f.

I. Rechtsstaat und Verwaltungsstaat.

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Die Strafgesetzgebung des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts weist zwei grosse Schöpfungen auf, die den folgenden Jahrzehnten die Bahn gewiesen haben: Den aus dem Ringen der französischen Revolution hervorgegangenen Napoleon’schen code pénal von 1810 und das bayerische Strafgesetzbuch von 1813, das weit über die Grenzen der deutschen Staaten hinaus Feuerbach’s legislatorischer Meisterschaft vorbildliche Bedeutung sicherte. Was weiter kam, war die Arbeit mehr oder weniger glücklicher Epigonen, die bald dort bald da den Anschluss suchten. In Preussen [196] siegte mit dem Strafgesetzbuch von 1851 der französische Geist über den deutschen. Und als im Jahre 1868 der damalige Geheime Oberjustizrat und spätere Justizminister Dr. Friedberg, der mit der Aufstellung des ersten Entwurfs eines Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund beauftragt war, seinen Vorschlägen das preussische Strafgesetzbuch zugrundelegte, da war es entschieden, dass auch das neue Deutsche Reich die von Napoleon I. dem Gesetzgeber vorgezeichneten Richtlinien nicht verlassen werde.

Unser Strafgesetzbuch für das neue Deutsche Reich vom 15. Mai 1871 war an dem Tage völlig veraltet, als es ins Leben trat. Und mit jedem neuen Jahre musste sich dem Rechtsbewusstsein des Deutschen Volkes deutlicher die Überzeugung aufdrängen, dass eine gründliche Umgestaltung notwendig sei, um die Strafgesetzgebung mit unseren deutschen rechtlich-sittlichen Anschauungen und mit den Bedürfnissen unseres heutigen Rechtslebens in Einklang zu bringen.

Den Gesetzbüchern aus dem Ende des achtzehnten und dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war die grosse Aufgabe zugefallen, die geschichtlichen Ideen der Aufklärungszeit durchzuführen und auf den Trümmern des gemeinen Strafrechts ein neues System aufzubauen. Politisch bedeuteten sie die Überwindung des absolutistischen Polizeistaates durch die konstitutionelle, von dem beherrschenden Einfluss kirchlich-religiöser Ideen befreite, Monarchie. Daher das für diese Periode kennzeichnende Streben, die Freiheit des Staatsbürgers gegen die Willkür des beamteten Strafrichters zu schützen. Sorgfältig wurden die Tatbestände von einander abgegrenzt, an die die strafrechtliche Reaktion des Staats anknüpfen sollte; sorgfältig die Strafrahmen festgelegt, innerhalb deren diese Reaktion sich bewegen durfte. Nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege: Das ist der Grundgedanke des Rechtsstaates, übertragen auf das Gebiet des Strafrechts.

Dieser Grundgedanke wird nicht wieder verloren gehen, so lange der Rechtsstaat besteht. Aber die Aufgabe des modernen Staates wird durch diese eine Forderung nicht erschöpft. Der Rechtsstaat der Gegenwart ist Kulturstaat, und als solcher Verwaltungsstaat. Auf der festen Grundlage und innerhalb der Schranken des Rechts verwaltet, schützt und mehrt er die Kulturgüter des Volkes.

Damit hat sich aber die Auffassung von den Aufgaben des Strafrechts geändert. Nach wie vor soll das Strafgesetzbuch die magna charta des Verbrechers sein; aber innerhalb der so der Staatsgewalt gesteckten Grenzen fällt der Strafe der weitere Aufgabe zu, die Kulturgüter des Volkes, wie sie durch die Rechtsordnung anerkannt sind, gegen die Angriffe des Verbrechers zu schützen. Das vielgebrauchte Schlagwort „Bekämpfung des Verbrechens“ bringt diesen Gedanken zum scharfen Ausdruck. Es proklamiert den Bruch mit dem Prinzip des „laissez faire, laissez aller“, das die ältere konstitutionelle Theorie auf allen Lebensgebieten der menschlichen Gesellschaft, auch auf dem der Strafgesetzgebung, beherrschte.

In diesem Zusammenhang erklärt und rechtfertigt sich die geänderte Problemstellung; in ihm gewinnt aber auch der Kampf der strafrechtlichen Schulen, der heute bereits die unmittelbare Bedeutung eingebüsst hat, seine geschichtliche Stellung: Es ist der Kampf zwischen den Vertretern des altliberalen „Nichts- als -Rechtsstaates“ und den Vorkämpfern des von sozialpolitischen Forderungen erfüllten und bewegten Verwaltungsstaates.

Das Problem, das dem Strafgesetzgeber gestellt wird, erschöpft sich nicht mehr in der sorgfältigen Paralellisierung von Verbrechen und Strafe. Zwei neue, untereinander auf das engste zusammenhängende Aufgaben treten hinzu. Erfolgreicher Kampf gegen das Verbrechen setzt zunächst die Kenntnis der Ursachen voraus, aus denen das Verbrechen erwächst; er verlangt aber weiter, dass die Mittel zur Bekämpfung des Verbrechens diesem ihren Zweck entsprechend ausgestaltet werden, um das Verbrechen in seinen Wurzeln zu treffen. So entsteht die Forderung nach zwei neuen Wissenschaften, die neben und über dem Strafrecht stehen und dem Gesetzgeber das unentbehrliche Rüstzeug liefern sollen: Kriminalätiologie und Kriminalpolitik.

II. Der Kampf um die Reform der Strafgesetzgebung.

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Die beiden Betrachtungsweisen, die kausale Betrachtung des Verbrechens wie die teleologische Betrachtung der Strafe, finden sich bereits bei den Schriftstellern der Aufklärungszeit. Statt aller anderen sei auf Montesquieu’s „Geist der Gesetze“ (1748) hingewiesen. Wissenschaftlich befestigte [197] Ergebnisse konnten jene Erörterungen jedoch nicht zutage fördern, da es dem achtzehnten Jahrhundert an den auch hier unentbehrlichen sicheren Methoden fehlte. Diese hat erst das neunzehnte Jahrhundert geschaffen. Zuerst durch die Anwendung der systematischen Massenbeobachtung auf das Gebiet der Kriminalität, also durch die Schaffung einer zuverlässigen Kriminalstatistik. Ihre Entwicklung wird durch die Namen Quetelet († 1874), Alexander von Oettingen († 1905) und Georg von Mayr (Professor in München) gekennzeichnet. Dann aber durch die naturwissenschaftliche Untersuchung des einzelnen Verbrechers, also durch Ausbildung einer Kriminalanthropologie. Diese knüpft, wenn wir von zahlreichen deutschen und ausserdeutschen Vorläufern absehen, insbesondere an den Namen Lombroso’s († 1909) an, dessen Hauptwerk, der „nomo delinquente“, in den siebziger Jahren der Öffentlichkeit übergeben wurde. Durch die Zusammenfassung dieser beiden gleich wichtigen Zweige der Kriminalätiologie, wie sie zuerst in der neueren deutschen Strafrechtswissenschaft vollzogen worden ist, wurde erst die Aufstellung eines Systems der Kriminal-Politik möglich gemacht. Für diese ergab sich von allem Anfang an nach zwei Richtungen hin eine wesentliche veränderte Auffassung der Strafe. Einmal drängte sich unabweislich die Erkenntnis auf, dass die letzten Wurzeln des Verbrechens, mögen sie in den gesellschaftlichen Verhältnissen, mögen sie in der körperlich-geistlichen Eigenart des Verbrechers überwiegend liegen, durch die Strafe überhaupt nicht getroffen werden, dass mithin die Strafe nicht das einzige Mittel zur Bekämpfung des Verbrechens, sondern nur eines dieser Mittel, und lange nicht das wichtigste ist. Dann aber machte sich die Forderung geltend, dass die Strafe, wie sie im geltenden Recht angedroht und vollstreckt wird, einer durchgehenden Umgestaltung bedürfe, wenn sie ihren Zweck, der Bekämpfung des Verbrechens auf dem ihr auch für die Zukunft eigenen Gebiete zu dienen, auch wirklich erreichen wolle.

Die deutschen Wissenschaft ist stets bereit gewesen, die Anregungen dankbar anzuerkennen, die sie durch ausserdeutsche Forscher empfangen hat. Sie hat aber auch das Recht wie die Pflicht, die ihr gebührenden Verdienste für sich in Anspruch zu nehmen. Es ist eine gröbliche Entstellung geschichtlich feststehender Tatsachen, wenn, wie das von Gretener behauptet und von anderen nachgesprochen worden ist, die deutsche Reformbewegung auf den Einfluss der Italiener zurückgeführt wird. Ich sehe hier ganz davon ab, dass die italienische Kriminalanthropologen, mit ihnen auch der erst seit den achtziger Jahren literarisch tätige Enrico Ferri, anfänglich einseitig den individuellen Faktor des Verbrechens in den Vordergrund gestellt und erst allmählich dem gesellschaftlichen Faktor die volle Gleichberechtigung zugestanden haben. Entscheidend ist vielmehr, dass, lang ehe in Italien die kriminalanthropologische Richtung entstanden war, deutsche Schriftsteller die Grundlage für das System der Kriminalpolitik gelegt hatten. Ich nenne von ihnen an dieser Stelle nur Franz von Holtzendorff († 1889) und meinen Lehrer, den (1901 verstorbenen) Wiener Professor Wilhelm Wahlberg, dessen Hauptwerk schon im Jahre 1869 erschienen ist. An Wahlbergs Unterscheidung von Gewohnheits- und Gelegenheitsverbrechern knüpft meine Einteilung der Verbrecher und damit mein ganzes kriminalpolitisches System an; nicht aber, soviel ich ihnen auch zu danken habe, an die Lehren Lombroso’s oder Ferri’s. Es sei weiter hingewiesen auf Rudolf v. Ihering († 1892), dessen „Zweck im Recht“ (1877) auf mich, wie auf gar manchen unter den Jüngeren der damaligen Kriminalisten, von bestimmendem Einfluss geworden ist.

Der Kampf gegen die bestehende Strafgesetzgebung war in Deutschland bereits 1879 auf der ganzen Linie entbrannt. Der Reichsgerichtsrat Mittelstädt hatte in flammenden Worten das herrschende System angegriffen; der damals vierundzwanzigjährige Psychiater Kräpelin schon 1880 die Abschaffung des Strafmasses und damit den Neubau der Kriminalpolitik in rücksichtsloser Folgerichtigkeit gefordert. Ende 1880 wure von A. Dochow († 1881) und mir die „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft“ ins Leben gerufen, die schon durch ihren Titel die Notwendigkeit betonte, über die bloss logisch-juristische Betrachtung von Verbrechen und Strafe hinauszukommen. 1882 erschien mein Marburger Programm „Der Zweckgedanke im Strafrecht“, das die sofort und unbedingt zu erfüllenden Forderungen in dem Satz zusammenfasste: „Unschädlichmachung der Unverbesserlichen, Besserung der Besserungsfähigen.“ Von da an brachte jedes Jahr eine unerwartet rasche Ausbreitung der Reformbewegung; und zwar in Deutschland wie in den übrigen Ländern.

[198] Um alle Freunde der neuen Richtung zu sammeln, wurde von Prins in Brüssel, van Hamel in Amsterdam und mir die Union internationale de droit pénal (I. K. V.) gegründet, die am 1. Januar 1889 mit 99 Mitgliedern ihre öffentliche Tätigkeit begann. Die Grundgedanken, die uns zusammengeführt hatten, sind von mir in einer Reihe von Abhandlungen, deren erste im neunten Band unserer Zeitschrift (1889) erschien, klargelegt und in ihren Folgen entwickelt worden.

Von den Landesgruppen der I. K. V. entfaltetete besonders die deutsche eine sehr lebhafte Tätigkeit. Im März 1890 fand die erste deutsche Landesversammlung in Halle (Saale) statt. Die Verhandlungen führten zu einem glänzenden Sieg unserer populärsten Forderung, der „bedingten Verurteilung“. Aber schon in den nächsten Wochen und Monaten sollte es sich zeigen, dass mit diesem Sieg der Feldzug noch lange nicht entschieden war. Die Gegner der bedingten Verurteilung, Wach und Binding an der Spitze, meldeten sich, einer nach dem anderen, zum Wort. Darunter auch das preussische Justizministerium mit einer Veröffentlichung im nichtamtlichen Teil des Justiz-Ministerialblattes vom 13. Juni 1890, die zu den interessantesten Urkunden jener, heute soweit hinter uns zurückliegenden Tage gehört.

Es ist hier nicht der Ort, die Einzelheiten dieses an Wechselfällen reichen Kampfes zu schildern. Erst mit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte die Reformbewegung auf der ganzen Linie sich durchgesetzt. Um diese Behauptung zu rechtfertigen, ist es notwendig, den wichtigsten Punkten unseres legislativen Programms eine kurze Betrachtung zu widmen.

III. Die Zielpunkte der Bewegung.

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1. Die grundlegende Veränderung in der Auffassung des Strafzweckes, wie sie in den Verhandlungen der I. K. V. und der au diese sich anschliessenden Literatur der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts zum Ausdruck kam, trat in der immer entschiedener sich geltendmachenden Forderung nach Einführung der sogenannten bedingten Verurteilung wohl am volkstümlichsten hervor. In all seinen verschiedenen Ausgestaltungen beruht das Institut der bedingten Verurteilung oder des bedingten Straferlasses auf dem Gedanken, dass die Vollstreckung, vielleicht auch schon die Verhängung der Strafe von dem weiteren Vorhalten des strafbar gewordenen Täters abhängig gemacht, und dieser durch die Aussicht auf endgiltigen Erlass der Strafe zu rechtgemässer Lebensführung bestimmt werden soll. In den Gebieten des englisch-amerikanischen Rechts hat dieser Grundgedanke zur Ausbildung des conditional release und des Probationssystems geführt (besonders wichtig die englischen Gesetze von 1887 und 1907): Der Schuldige wird, unter Aussetzung der Verurteilung oder der Vollstreckung, unter die Aufsicht einer vom Richter bezeichneten Person, des „probation officer“, gestellt; durch gute Führung wird die weitere Verfolgung ausgeschlossen, bei schlechter Führung kommt es zur Strafvollstreckung. Auf dem europäischen Kontinent gingen Belgien durch ein Gesetz von 1888 und Frankreich durch die loi Bérenger von 1891 in der Einführung der condamnation conditionnelle voran; Stellung unter Aufsicht (probation) findet nach diesen Gesetzen nicht statt. Heute ist der bedingte Straferlass in nahezu sämtlichen Kulturstaaten, meist nach dem belgisch-französischem Vorbild, geltendes Recht. In den deutschen Einzelstaaten entschied man sich seit 1895 dafür, statt der bedingten Verurteilung die „bedingte Begnadigung“ auf dem Verordnungswege einzuführen, so dass die Entscheidung über den endgiltigen Erlass oder die Vollstreckung der Strafe scheinbar dem Träger des Begnadigungsrechts, in Wirklichkeit der Staatsanwaltschaft, vorbehalten bleibt. Die für die einheitliche Durchführung der bedingten Begnadigung massgebenden Grundsätze sind im Bundesrat vereinbart worden und am 1. Januar 1903 ins Leben getreten. Dagegen hat der deutsche Vorentwurf in den §§ 38 bis 41 die „bedingte Strafaussetzung“, den Forderungen der I. K. V. entsprechend, in die Hand des Gerichtes gelegt und den automatischen Eintritt des endgiltigen Straferlasses vorgesehen.

2. Auf keinem anderen Gebiet hatte sich die Verkehrtheit der „Vergeltungsstrafe“ so unverkennbar allen unbefangenen Beobachtern aufgedrängt, wie auf dem des Jugendstrafrechts. Daher gelang es gerade auf diesem Gebiet sehr bald, für bestimmte legislative Vorschläge eine überwiegende Mehrheit zu finden. Die wichtigsten Forderungen gingen dahin, die Altersgrenze der Strafunmündigkeit von dem vollendeten zwölften auf das vollendete vierzehnte Lebensjahr hinaufzusetzen, für die Altersklasse vom vierzehnten bis achtzehnten Lebensjahr dem Richter die freie Wahl [199] zwischen Strafe und Erziehungsmassregeln zu sichern, die Fürsorgeerziehung auszugestalten, die Aburteilung der Jugendlichen besonderen Gerichten (Jugendgerichten) zu übertragen, und das Verfahren gegen Jugendliche von dem gegen Erwachsene durch besondere Vorschriften (Ausschluss der Öffentlichkeit usw.) zu unterscheiden. Während in den Vereinigten Staaten die Jugendgerichte rasch weite Verbreitung fanden, ging England an eine zusammenfassende Jugendgesetzgebung, die ihren vorläufigen Abschluss in der Children act von 1908 fand. Aus den übrigen Ländern seien hervorgehoben: Das niederländische Gesetz von 1896, der österreichische Gesetzentwurf von 1907 und die ungarische Strafgesetznovelle von 1908. Der deutsche Entwurf einer Strafprozessordnung von 1908/9, der im Oktober 1911 scheiterte, hatte ein besonderes Strafverfahren gegen Jugendliche vorgesehen und dabei den modernen Forderungen im weitesten Umfang Rechnung getragen. Das gleiche gilt von dem gegenwärtig dem Reichstag vorliegenden Entwurf eines Gesetzes über das Verfahren gegen Jugendliche. Auch der Vorentwurf eines Reichsstrafgesetzbuches bringt die Erhöhung der unteren Altersgrenze auf vierzehn Jahre und die Berechtigung des Richters, statt oder neben der Strafe auf Erziehungsmassregeln zu erkennen. Auch hier darf also, trotz des vereinzelt noch auftauchenden Widerstandes (v. Birkmeyer), der Sieg der Reformbewegung als gesichert betrachtet werden.

3. Aber nicht nur darum handelt es sich im Sinne der modernen Auffassung der Strafe, den Verbrecher zu retten, so lange seine Rettung noch möglich ist; nicht nur darum, ihn an die Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens anzupassen, so lange die Anpassungsfähigkeit noch vorhanden ist: sondern auch darum, die Gesellschaft gegen unverbesserliche und gemeingefährliche Verbrecher zu sichern, und zwar durch die dauernde Ausscheidung der nicht mehr anpassungsfähigen Übeltäter aus der Gesellschaft. Die Durchführung dieses Gedankens verlangt eine tiefgreifende Umgestaltung des geltenden Rechts, vornehmlich nach drei Richtungen hin.

Zunächst drängt sich die Notwendigkeit auf, die wegen wiederholten und schweren Rückfalls gemeingefährlichen Personen auf ebensolange aus der Gesellschaft zu entfernen, als der Zustand der Gemeingefährlichkeit nicht beseitigt ist; also, wenn nötig, auf Lebenszeit. Hier hat auf dem europäischen Kontinent zuerst Frankreich durch das Gesetz von 1885 über die Relegation neue Bahnen eingeschlagen. Die wiederholt Rückfälligen werden nach verbüsster Strafe nach den französischen Kolonien Guyana und Neukaledonien verschickt. Die Ergebnisse der Relegation werden allerdings von der Mehrzahl der französischen Schriftsteller als wenig befriedigend bezeichnet. Für die Länder des englisch-amerikanischen Rechts wurde die Gesetzgebung Australiens gegen habitual criminals massgebend. Das gilt nicht nur für verschiedene Gebiete der Vereinigten Staaten Amerikas, sondern ganz besonders von der englischen Prevention of crime act 1908, nach der die Gewohnheitsverbrecher nach verbüsster Strafe auf unbestimmte Zeit (during His majestys pleasure) in „Präventivhaft“ genommen werden.

Das Reichsstrafgesetzbuch kennt eine Strafschärfung gegen Rückfällige um bei einigen Vermögensdelikten (Diebstahl, Raub, Hehlerei, Betrug); dagegen nicht bei Roheitsdelikten, wie Messerstecherei, oder bei Sittlichkeitsvergehen. Dem allgemeinen Verlangen nach einer zielbewussten und entschiedenen Bekämpfung des gewerbs- und gewohnheitsmässigen Verbrechertums stellten die Anhänger der Vergeltungsstrafe zunächst theoretische Bedenken entgegen. Nach ihrer Ansicht muss die Strafe nach Art und Mass der Schwere der begangenen Tat entsprechen; die Berücksichtigung der Gemeingefährlichkeit des Täters würde die Forderungen der Gerechtigkeit verletzen, eine Anhaltung auf unbestimmte Zeit dem innersten Wesen der Strafe widersprechen. Die allmähliche Klärung der Meinungen hat aber dazu geführt, dass auch von dieser Seite einer in der Dauer unbestimmten Anhaltung dieser Personen nach Verbüssung der Strafe zugestimmt wurde; nur soll es sich dabei nicht mehr um Strafe, sondern um eine „sichernde Massnahme“ handeln. So ist der Kampf um die Grundfragen des Strafrechts zu einem Streit um die Terminologie geworden. Der deutsche Vorentwurf hatte eine vermittelnde Stellung eingenommen und gegen diese Gruppe der Verbrecher eine langdauernde aber zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe vorgeschlagen. Dieser Vorschlag hat weder die Vertreter der alten, noch die der neuen Richtung befriedigt; die ersteren nicht, weil sie darin eine Entstellung des Strafbegriffs erblickten, die letzteren nicht, weil durch die [200] zeitliche Beschränkung der Zweck der Massnahme vereitelt wird. So ist die Strafrechtskommission des Reichsjustizamtes dazu gekommen, eine auf unbestimmte Zeit angeordnete Sicherungsnachhaft nach verbüsster Strafe an die Stelle jener Verwahrungsstrafe zu setzen.

Aber auch einer anderen Gruppe von verbrecherisch gewordenen und gemeingefährlichen Personen gegenüber versagt das geltende Recht vollständig: Das sind die Geisteskranken, die nach § 51 Strafgesetzbuch wegen mangelnder Zurechnungsfähigkeit freigesprochen werden müssen, ohne dass irgend welche Massregeln zum Schutze der Gesellschaft getroffen werden können. Hier hat bereits das italienische Strafgesetzbuch von 1889 die Verwahrung in einem der manicomi criminali vorgesehen. Wie die Entwürfe Österreichs und der Schweiz, hat auch der deutsche Vorentwurf § 65 diese Bahn betreten. Das Gericht, das den Geisteskranken freispricht oder ausser Verfolgung setzt, hat, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt anzuordnen. In dieser verbleibt der Geisteskranke, so lange seine Gemeingefährlichkeit die Verwahrung notwendig macht.

Dieselbe Massregel ist endlich auch gegenüber den gemeingefährlichen vermindert zurechnungsfähigen Personen im deutschen Vorentwurf vorgesehen. Gerade hier weist das geltende Recht im Gegensatz zu der Mehrzahl der deutschen Partikularstrafgesetzbücher eine empfindliche Lücke auf. Es kennt den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit nicht. Die Folge davon ist, dass alle Minderwertigen, die in steigender Anzahl vor den Strafrichter kommen, nach Verbüssung der gegen sie erkannten, meist gemilderten Freiheitsstrafe, trotz ihrer fortdauernden Gemeingefährlichkeit, auf die menschliche Gesellschaft losgelassen werden müssen. Der deutsche Vorentwurf sieht in diesem Fall zwar Strafmilderung vor, weist aber den Richter an, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert, anzuordnen, dass der Verurteilte nach verbüsster Freiheitsstrafe in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt verwahrt wird.

4. Eine Sonderstellung nehmen die verbrecherisch gewordenen Alkoholiker ein. Soweit diese nicht als zurechnungsunfähig oder als gemindert zurechnungsfähig anzusehen und daher, wenn gemeingefährlich, in dauernde Verwahrung zu nehmen sind, kann nur ihre Heilung in Frage kommen. Die deutsche Gesetzgebung hat sich wiederholt mit der Frage beschäftigt, ohne zum Ziel zu gelangen; die Regierungsentwürfe von 1881 und 1892 sind nicht Gesetz geworden. Nach § 43 des deutschen Vorentwurfs kann das Gericht, wenn Trunksucht des Täters festgestellt ist, anordnen, dass der Verurteilte bis zu seiner Heilung, jedoch höchstens auf die Dauer von zwei Jahren, in einer Trinkerheilanstalt untergebracht wird; vorausgesetzt, dass diese Massregel erforderlich erscheint, um den Verurteilten wieder an ein gesetzmässiges und geordnetes Leben zu gewöhnen.

5. Am wenigsten geklärt ist die Frage nach der Behandlung der sogenannten kleinen Kriminalität, also des grossen Heeres der Bettler, der Landstreicher und der Arbeitsscheuen. In der Gesetzgebung fast sämtlicher Kulturstaaten fehlt es nicht an teilweise weit zurückreichenden Versuchen, dieser Landplage Herr zu werden; es ist aber bisher nicht gelungen, eine befriedigende Lösung des Problems zu finden. Das Arbeitshaus, das diesen Personen gegenüber, und zwar meist nach verbüsster kurzer Freiheitsstrafe zur Anwendung gebracht wird, ist seiner geschichtlichen Entwicklung nach als Besserungsanstalt gedacht. So lässt auch der deutsche Vorentwurf bei gewissen strafbaren Handlungen die Einweisung in das Arbeitshaus auf die Dauer von sechs Monaten bis zu drei Jahren unter der Voraussetzung zu, dass „diese Massregel erforderlich erscheint, um den Verurteilten wieder an ein gesetzmässiges und arbeitsames Leben zu gewöhnen.“ Es ist aber zum mindesten zweifelhaft, ob die Arbeitshäuser bei ihrer heutigen Einrichtung überhaupt geeignet sind, die ihnen gestellte Aufgabe der bürgerlichen Besserung zu erfüllen. Dazu tritt die weitere Erwägung, dass auch dieser Gruppe gegenüber, soweit Unverbesserlichkeit angenommen werden muss, nicht Besserungsmassregeln, sondern dauernde Sicherungsverwahrung erforderlich erscheint. Anhaltung im Arbeitshaus bis zur Höchstdauer von drei Jahren ist aber zweifellos ausserstande, dieser Forderung zu genügen. Es wird also auch hier an die Stelle der einheitlichen Schablone eine differenzierende Behandlung treten müssen.

IV. Die legislative Durchführung der Reformgedanken.

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In den meisten Ländern hat man sich, sei es schon in den letzten beiden Jahrzehnten des neunzehnten, sei es seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, damit begnügt, durch einzelne [201] mehr oder weniger umfangreiche Gesetze diese oder jene Forderung der Reformbewegung durchzuführen, während man im übrigen an dem festen Gefüge der Strafgesetzbücher zu rütteln den Mut oder die Kraft nicht fand. So die romanischen Länder wie das grosse Gebiet des englisch-amerikanischen Rechts. Es ist begreiflich, dass diese Teilreformen, gerade weil sie vielfach tief in die Grundlagen der Strafgesetzgebung eingreifen, nicht überall die erhofften Wirkungen zeigen konnten. Das gilt besonders von der bedingten Verurteilung in Belgien und Frankreich, die das neue Reis auf den altersschwach gewordenen Baum des code pénal aufzupfropfen versucht hatten. Am besten eignete sich für eine gesonderte Behandlung noch das Gebiet des Jugendstrafrechts, namentlich dort, wo man es, wie in England, mit dem Jugendschutzrecht zu einer organischen Einheit zusammenzufassen bemüht war.

In anderen Staaten ging man mit kräftiger Entschlossenheit an den Neubau des ganzen Systems. Am schnellsten haben diese Bemühungen in Norwegen zum Ziele geführt. Das neue Strafgesetzbuch von 1902 ist das Werk zweier, mit der deutschen Wissenschaft in engster Fühlung stehender Männer: Des Oberstaatsanwalts Getz († 1901) und des damaligen Professors an der Universität Christiania Franzis Hagerup. Hier sind zum ersten Mal die Grundgedanken der Reformbewegung zur klaren und folgerichtigen Durchführung gelangt.

In der schweizerischen Eidgenossenschaft reichen die Vorarbeiten zu einem einheitlichen Strafgesetzbuch, das den modernen Forderungen im vollsten Umfang Rechnung tragen sollte, bis in das Jahr 1890 zurück. Sie lagen in der Hand des jetzigen Wiener Professors Karl Stooss. Die Aufstellung, Beratung und Durchführung des Zivilgesetzbuches, das lange Jahre hindurch das öffentliche Interesse fast ausschliesslich für sich in Anspruch nahm, hat den endgültigen Abschluss der Neugestaltung des Strafgesetzbuches bis zum heutigen Tage verzögert. Mit dem Entwurf von 1908 wurde aber auch das Zustandekommen des schweizerischen Strafgesetzbuches in greifbare Nähe gerückt; gegenwärtig arbeitet eine Kommission an der Aufstellung des Regierungsentwurfs. Auch Österreich, das von 1874 bis 1891 eine ganze Reihe von Entwürfen ausgearbeitet hatte, die alle auf dem Boden des längst veralteten deutschen Strafgesetzbuches standen, hat seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in neue Bahnen eingelenkt; der Entwurf von 1909, im wesentlichen das Werk des Prager Professors Graf Gleispach, hat, wenn auch mit einer gewissen Zurückhaltung, den kriminalpolitischen Reformgedanken in weitem Umfang Rechnung getragen. Der Regierungsentwurf von 1912, der gegenüber dem Entwurf von 1909 nur wenige Änderung bringt, ist bereits den gesetzgebenden Körperschaften vorgelegt.

Ganz eigenartig vollzog sich die legislative Entwicklung im Deutschen Reich. Eine in der Deutschen Juristenzeitung vom 1. Juli 1902 veröffentlichte Erklärung von Kahl und mir stellte fest, dass führende Vertreter der beiden Richtungen innerhalb der Strafrechtswissenschaft bereit seien, unter Zurückstellung des Schulenstreites gemeinsam an der grossen Aufgabe der Schaffung eines neuen Reichsstrafgesetzbuches mitzuarbeiten. Nunmehr trat auch der Staatssekretär des Reichsjustizamtes, Dr. Nieberding, dem Gedanken näher. Auf seine Anregung begann im November 1902 ein freies wissenschaftliches Komitee, aus Vertretern der verschiedenen Richtungen gebildet, seine redaktionelle Tätigkeit, um als Grundlage für die Aufstellung eines deutschen Strafgesetzentwurfes eine „Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts“ herauszugeben. Im Jahre 1909 lag das Werk in sechzehn stattlichen Bänden vor; ein Werk, wie es kein anderes Volk auf irgend einem Gebiete der Gesetzgebung aufzuweisen vermag.

Inzwischen war bereits seit dem Mai 1906 eine aus fünf praktischen Juristen zusammengesetzte Kommission an der Arbeit, einen Vorentwurf aufzustellen. Im Herbst 1909 hatte sie ihre Arbeit vollendet, die nunmehr der Öffentlichkeit übergeben werden konnte. Auch der deutsche Vorentwurf hat den Forderungen der Reformbewegung, wie oben bereits gezeigt worden ist, in allen wesentlichen Punkten Rechnung getragen; er hält in dieser Beziehung etwa die Mitte zwischen dem schweizerischen und dem österreichischen Entwurf. Schon heute kann es, trotz der Bemühungen einzelner Anhänger der Vergeltungstheorie, als sicher angesehen werden, dass gerade diese von dem Vorentwurf vorgeschlagenen Neuerungen allem Ansturm der Kritik standhalten werden.

Vom Herbst 1910 bis zum Herbst 1913 war eine neue grosse Kommission im Reichsjustizamt an der Arbeit, auf Grund des Vorentwurfs und der dazu erschienenen Kritiken den amtlichen [202] Entwurf des Reichsjustizamts festzustellen; er dürfte im Sommer 1914 veröffentlicht werden. Um diese Arbeit zu fördern, haben die Professoren Goldschmidt, Kahl, v. Lilienthal und v. Liszt im Laufe des Jahres 1911 einen „Gegenentwurf“ veröffentlicht, der sich im allgemeinen an den Vorentwurf anschliesst, diesen aber nach verschiedenen Richtungen hin ergänzt und verbessert.

Somit stehen die Schweiz, Österreich und das Deutsche Reich vor einer tiefgreifenden Umgestaltung ihrer Strafgesetzgebung. Und trotz aller Abweichungen im einzelnen tragen die drei Vorentwürfe dieselben Grundzüge. Indem sie die Erfüllung der krimmalpolitischen Hauptforderungen bringen, stehen sie an dem Beginn einer neuen Epoche der Strafgesetzgebung, wie der code pénal von 1810 und das bayerische Strafgesetzbuch von 1813.

V. Strafvollzug und Gefängniswesen.

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Eine wirkliche Reform der Strafgesetzgebung schliesst die gesetzliche Regelung des Strafvollzuges, in erster Linie des Vollzugs der Freiheitsstrafe, aber auch der „sichernden Massnahmen“, notwendig in sich. Wie auch der Gesetzgeber die Freiheitsstrafen gliedern und von einander scheiden mag: Seine Bestimmungen werden des lebendigen Inhalts entbehren, so lange er sich nicht entschliessen kann, ihre Vollstreckung zu regeln. Erst im Strafvollzug gewinnt die Freiheitsstrafe ihren Inhalt. Heute entbehrt das Deutsche Reich eines einheitlichen Strafvollzuges. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe ist den Landesjustizverwaltungen überlassen, wenn auch durch Vereinbarung der einzelstaatlichen Regierungen seit 1897 gewisse, freilich sehr unbestimmt gehaltene „Grundsätze“ festgelegt sind. Die gegen Ausgang der siebziger Jahre gemachten Versuche, zu einem Reichsgesetz über den Strafvollzug zu gelangen, sind gescheitert. So besteht heute auf diesem so überaus wichtigen Gebiete die grösstmögliche Zerfahrenheit. Hier Zellengefängnisse mit dauernder Trennung der Gefangenen voneinander, selbst in der Kirche, der Schule und auf dem Spaziergang, dort gemeinschaftliche Anhaltung bei der Tagesarbeit und während der nächtlichen Ruhe; hier unveränderte Gleichförmigkeit des Strafvollzuges vom ersten Tage bis zur Stunde der Entlassung, dort ein progressiv gestaltetes System, das mit Einzelhaft beginnt und den allmählichen Übergang zum Leben in der Freiheit ins Auge fasst.

Für die Regelung der Frage bietet sich ein doppelter Weg: Entweder die Einarbeitung der auf den Strafvollzug sich beziehenden Bestimmungen ins Gesetzbuch selbst, wie das der Gegenentwurf versucht hat, oder aber die gleichzeitige Aufstellung des Entwurfes eines Strafvollzugesgesetzes, der mit dem Strafgesetzentwurf gemeinsam beraten und beschlossen werden müsste. Es scheint, dass man an massgebender Stelle den letzteren Weg einschlagen will. Dagegen ist nichts zu sagen. Unbedingt notwendig ist es aber, dass dem Strafzweck bei Ausgestaltung des Strafvollzuges die ausschlaggebende Bedeutung eingeräumt wird; dass ein und derselbe Grundgedanke die Auswahl der Strafartel wie ihre Vollstreckung bestimmt.

VI. Das Strafverfahren.

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Aufgabe des Strafprozesses ist es, das materielle Strafrecht im Einzelfall zur Anwendung zu bringen. Die Strafprozessordnung ist daher in ihrem gesamten Aufbau bedingt und bestimmt durch das Strafgesetzbuch. Es war daher ein schwerer Fehler, dass die Reichsregierung allen Warnungen zum Trotz den Versuch unternommen hat, zuerst die Neugestaltung des Strafverfahrens durchsetzen zu wollen, ehe die Reform des Strafgesetzbuches, mit Einschluss des Strafvollzugsgesetzes, feststand. Der Fehler hat sich gerächt: Der Entwurf einer Novelle zum Gerichtsverfassungsgesetz und einer neuen Strafprozessordnung ist in letzter Stunde von dem Arbeitsprogramm des letzten Reichstages abgesetzt worden. Langjährige Arbeit hat sich somit, zunächst wenigstens, als vergeblich erwiesen. Dennoch kann dieser Ausgang nicht beklagt werden. Denn nun ist die Bahn frei zu einer grosszügigen Reform, die, von dem Strafgesetzbuch ausgehend, das Strafvollzugsgesetz organisch angliedert und in dem Neubau der Gerichtsverfassung und des Strafverfahrens gipfelt. Mit der Durchführung dieser Reform wird der Gedanke des Verwaltungsstaates auch auf diesem Gebiete gesellschaftlicher Lebensbedingungen den unfruchtbaren Doktrinarismus des blossen Rechtsstaates siegreich überwunden haben.