Seite:Handbuch der Politik Band 3.pdf/215

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

zwischen Strafe und Erziehungsmassregeln zu sichern, die Fürsorgeerziehung auszugestalten, die Aburteilung der Jugendlichen besonderen Gerichten (Jugendgerichten) zu übertragen, und das Verfahren gegen Jugendliche von dem gegen Erwachsene durch besondere Vorschriften (Ausschluss der Öffentlichkeit usw.) zu unterscheiden. Während in den Vereinigten Staaten die Jugendgerichte rasch weite Verbreitung fanden, ging England an eine zusammenfassende Jugendgesetzgebung, die ihren vorläufigen Abschluss in der Children act von 1908 fand. Aus den übrigen Ländern seien hervorgehoben: Das niederländische Gesetz von 1896, der österreichische Gesetzentwurf von 1907 und die ungarische Strafgesetznovelle von 1908. Der deutsche Entwurf einer Strafprozessordnung von 1908/9, der im Oktober 1911 scheiterte, hatte ein besonderes Strafverfahren gegen Jugendliche vorgesehen und dabei den modernen Forderungen im weitesten Umfang Rechnung getragen. Das gleiche gilt von dem gegenwärtig dem Reichstag vorliegenden Entwurf eines Gesetzes über das Verfahren gegen Jugendliche. Auch der Vorentwurf eines Reichsstrafgesetzbuches bringt die Erhöhung der unteren Altersgrenze auf vierzehn Jahre und die Berechtigung des Richters, statt oder neben der Strafe auf Erziehungsmassregeln zu erkennen. Auch hier darf also, trotz des vereinzelt noch auftauchenden Widerstandes (v. Birkmeyer), der Sieg der Reformbewegung als gesichert betrachtet werden.

3. Aber nicht nur darum handelt es sich im Sinne der modernen Auffassung der Strafe, den Verbrecher zu retten, so lange seine Rettung noch möglich ist; nicht nur darum, ihn an die Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens anzupassen, so lange die Anpassungsfähigkeit noch vorhanden ist: sondern auch darum, die Gesellschaft gegen unverbesserliche und gemeingefährliche Verbrecher zu sichern, und zwar durch die dauernde Ausscheidung der nicht mehr anpassungsfähigen Übeltäter aus der Gesellschaft. Die Durchführung dieses Gedankens verlangt eine tiefgreifende Umgestaltung des geltenden Rechts, vornehmlich nach drei Richtungen hin.

Zunächst drängt sich die Notwendigkeit auf, die wegen wiederholten und schweren Rückfalls gemeingefährlichen Personen auf ebensolange aus der Gesellschaft zu entfernen, als der Zustand der Gemeingefährlichkeit nicht beseitigt ist; also, wenn nötig, auf Lebenszeit. Hier hat auf dem europäischen Kontinent zuerst Frankreich durch das Gesetz von 1885 über die Relegation neue Bahnen eingeschlagen. Die wiederholt Rückfälligen werden nach verbüsster Strafe nach den französischen Kolonien Guyana und Neukaledonien verschickt. Die Ergebnisse der Relegation werden allerdings von der Mehrzahl der französischen Schriftsteller als wenig befriedigend bezeichnet. Für die Länder des englisch-amerikanischen Rechts wurde die Gesetzgebung Australiens gegen habitual criminals massgebend. Das gilt nicht nur für verschiedene Gebiete der Vereinigten Staaten Amerikas, sondern ganz besonders von der englischen Prevention of crime act 1908, nach der die Gewohnheitsverbrecher nach verbüsster Strafe auf unbestimmte Zeit (during His majestys pleasure) in „Präventivhaft“ genommen werden.

Das Reichsstrafgesetzbuch kennt eine Strafschärfung gegen Rückfällige um bei einigen Vermögensdelikten (Diebstahl, Raub, Hehlerei, Betrug); dagegen nicht bei Roheitsdelikten, wie Messerstecherei, oder bei Sittlichkeitsvergehen. Dem allgemeinen Verlangen nach einer zielbewussten und entschiedenen Bekämpfung des gewerbs- und gewohnheitsmässigen Verbrechertums stellten die Anhänger der Vergeltungsstrafe zunächst theoretische Bedenken entgegen. Nach ihrer Ansicht muss die Strafe nach Art und Mass der Schwere der begangenen Tat entsprechen; die Berücksichtigung der Gemeingefährlichkeit des Täters würde die Forderungen der Gerechtigkeit verletzen, eine Anhaltung auf unbestimmte Zeit dem innersten Wesen der Strafe widersprechen. Die allmähliche Klärung der Meinungen hat aber dazu geführt, dass auch von dieser Seite einer in der Dauer unbestimmten Anhaltung dieser Personen nach Verbüssung der Strafe zugestimmt wurde; nur soll es sich dabei nicht mehr um Strafe, sondern um eine „sichernde Massnahme“ handeln. So ist der Kampf um die Grundfragen des Strafrechts zu einem Streit um die Terminologie geworden. Der deutsche Vorentwurf hatte eine vermittelnde Stellung eingenommen und gegen diese Gruppe der Verbrecher eine langdauernde aber zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe vorgeschlagen. Dieser Vorschlag hat weder die Vertreter der alten, noch die der neuen Richtung befriedigt; die ersteren nicht, weil sie darin eine Entstellung des Strafbegriffs erblickten, die letzteren nicht, weil durch die

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 199. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/215&oldid=- (Version vom 4.12.2021)