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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Um alle Freunde der neuen Richtung zu sammeln, wurde von Prins in Brüssel, van Hamel in Amsterdam und mir die Union internationale de droit pénal (I. K. V.) gegründet, die am 1. Januar 1889 mit 99 Mitgliedern ihre öffentliche Tätigkeit begann. Die Grundgedanken, die uns zusammengeführt hatten, sind von mir in einer Reihe von Abhandlungen, deren erste im neunten Band unserer Zeitschrift (1889) erschien, klargelegt und in ihren Folgen entwickelt worden.

Von den Landesgruppen der I. K. V. entfaltetete besonders die deutsche eine sehr lebhafte Tätigkeit. Im März 1890 fand die erste deutsche Landesversammlung in Halle (Saale) statt. Die Verhandlungen führten zu einem glänzenden Sieg unserer populärsten Forderung, der „bedingten Verurteilung“. Aber schon in den nächsten Wochen und Monaten sollte es sich zeigen, dass mit diesem Sieg der Feldzug noch lange nicht entschieden war. Die Gegner der bedingten Verurteilung, Wach und Binding an der Spitze, meldeten sich, einer nach dem anderen, zum Wort. Darunter auch das preussische Justizministerium mit einer Veröffentlichung im nichtamtlichen Teil des Justiz-Ministerialblattes vom 13. Juni 1890, die zu den interessantesten Urkunden jener, heute soweit hinter uns zurückliegenden Tage gehört.

Es ist hier nicht der Ort, die Einzelheiten dieses an Wechselfällen reichen Kampfes zu schildern. Erst mit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte die Reformbewegung auf der ganzen Linie sich durchgesetzt. Um diese Behauptung zu rechtfertigen, ist es notwendig, den wichtigsten Punkten unseres legislativen Programms eine kurze Betrachtung zu widmen.

III. Die Zielpunkte der Bewegung.

1. Die grundlegende Veränderung in der Auffassung des Strafzweckes, wie sie in den Verhandlungen der I. K. V. und der au diese sich anschliessenden Literatur der neunziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts zum Ausdruck kam, trat in der immer entschiedener sich geltendmachenden Forderung nach Einführung der sogenannten bedingten Verurteilung wohl am volkstümlichsten hervor. In all seinen verschiedenen Ausgestaltungen beruht das Institut der bedingten Verurteilung oder des bedingten Straferlasses auf dem Gedanken, dass die Vollstreckung, vielleicht auch schon die Verhängung der Strafe von dem weiteren Vorhalten des strafbar gewordenen Täters abhängig gemacht, und dieser durch die Aussicht auf endgiltigen Erlass der Strafe zu rechtgemässer Lebensführung bestimmt werden soll. In den Gebieten des englisch-amerikanischen Rechts hat dieser Grundgedanke zur Ausbildung des conditional release und des Probationssystems geführt (besonders wichtig die englischen Gesetze von 1887 und 1907): Der Schuldige wird, unter Aussetzung der Verurteilung oder der Vollstreckung, unter die Aufsicht einer vom Richter bezeichneten Person, des „probation officer“, gestellt; durch gute Führung wird die weitere Verfolgung ausgeschlossen, bei schlechter Führung kommt es zur Strafvollstreckung. Auf dem europäischen Kontinent gingen Belgien durch ein Gesetz von 1888 und Frankreich durch die loi Bérenger von 1891 in der Einführung der condamnation conditionnelle voran; Stellung unter Aufsicht (probation) findet nach diesen Gesetzen nicht statt. Heute ist der bedingte Straferlass in nahezu sämtlichen Kulturstaaten, meist nach dem belgisch-französischem Vorbild, geltendes Recht. In den deutschen Einzelstaaten entschied man sich seit 1895 dafür, statt der bedingten Verurteilung die „bedingte Begnadigung“ auf dem Verordnungswege einzuführen, so dass die Entscheidung über den endgiltigen Erlass oder die Vollstreckung der Strafe scheinbar dem Träger des Begnadigungsrechts, in Wirklichkeit der Staatsanwaltschaft, vorbehalten bleibt. Die für die einheitliche Durchführung der bedingten Begnadigung massgebenden Grundsätze sind im Bundesrat vereinbart worden und am 1. Januar 1903 ins Leben getreten. Dagegen hat der deutsche Vorentwurf in den §§ 38 bis 41 die „bedingte Strafaussetzung“, den Forderungen der I. K. V. entsprechend, in die Hand des Gerichtes gelegt und den automatischen Eintritt des endgiltigen Straferlasses vorgesehen.

2. Auf keinem anderen Gebiet hatte sich die Verkehrtheit der „Vergeltungsstrafe“ so unverkennbar allen unbefangenen Beobachtern aufgedrängt, wie auf dem des Jugendstrafrechts. Daher gelang es gerade auf diesem Gebiet sehr bald, für bestimmte legislative Vorschläge eine überwiegende Mehrheit zu finden. Die wichtigsten Forderungen gingen dahin, die Altersgrenze der Strafunmündigkeit von dem vollendeten zwölften auf das vollendete vierzehnte Lebensjahr hinaufzusetzen, für die Altersklasse vom vierzehnten bis achtzehnten Lebensjahr dem Richter die freie Wahl

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/214&oldid=- (Version vom 4.12.2021)