St. Ottilien (Badisches Sagen-Buch)
In eurem Schatten ist mir wieder leicht,
Ihr meiner Kindheit schon vertrauten Bäume!
Frisch leb’ ich auf und manche Sorge weicht,
Betret’ ich wieder diese stillen Räume;
Vor mir die Schale Milch zum Morgentrank,
Und meinem innern Blick vorüber gleiten
Des träumerischen Knaben schönste Zeiten.
Das Glöcklein läutet aus der Waldkapell’
Und nieder steig’ ich zu dem Wunderquell
In des umgitterten Gewölbes Kühle;
Da wird die alte Zeit mir offenbar,
Ich wasche mir die Augen wieder klar,
Lebendig wird mir dieser Berge Sage.
Fort ist jedwede Spur von Menschenhand;
Das Kirchlein ist, die Quelle mir verschwunden,
Nichts seh’ ich mehr, als eine Felsenwand,
Ich höre keinen Laut, als nur ganz weit
Den Schlag der Drossel durch die Einsamkeit,
Sonst überall ein feierliches Schweigen, –
Da rauschts und knisterts plötzlich in den Zweigen;
Scheu wie ein Reh und bleich wie eine Lilie,
Und knieend schreit zum Himmel sie empor:
„O Mutter Gottes, rett’, o rett’ Ottilie!
Dicht hinter mir sind die Verfolger her,
O rette mich vor dem verhaßten Freier
Und hülle gnädig mich in deinen Schleier!“
So ruft sie kaum, als aus des Waldes Grund
Wildjubelnd Ritter mit Gefolge dringen;
„Das scheue Bräutchen kann nicht mehr entspringen!“
Und fassen will sie schon der wilde Hauf,
Ein Donnerschlag – da springt die Felswand auf,
Ottilie fliegt hinein, und wie zum Spotte
Und an dem Orte, wo die Wand sich schloß,
Entspringt dem Felsen murmelnd eine Quelle;
Die Männer schrei’n: „Des Herren Macht ist groß!“
Und fallen betend nieder an der Stelle.
Und fühlt sich umgewandelt wunderbar;
Bald ist der Quell gefaßt, der Platz gelichtet,
Und ein Altar der Heiligen errichtet. –
So zog vorbei die alte Zeit an mir
Wohl mancher Pilger wusch die Augen hier,
Und heilte sich damit von seiner Blindheit;[1]
Dem echten Glauben wird der Blick erhellt,
Er sieht das Licht in dunkler Sagenwelt
Dem morgenrothen Gipfel froh entgegen.
- ↑ Dieser Quelle wird eine augenheilende Kraft zugeschrieben.