Textdaten
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Autor: Friedrich Rückert
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Titel: Ottilie
Untertitel:
aus: Badisches Sagen-Buch I, S. 391–393
Herausgeber: August Schnezler
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1846
Verlag: Creuzbauer und Kasper
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Erscheinungsort: Karlsruhe
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons und Google
Kurzbeschreibung:
siehe auch St. Ottilien bei Freiburg
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[391]
Ottilie.
(Andere Version.)

Im Elsaß wohnt ein Grafe, von Hohenburg genannt,
Durch Macht und großen Reichthum im ganzen Land bekannt;
Er hatte, was er mochte, Schlösser, Wälder, Knappen und Roß,
Auch eine schöne Hausfrau hat er auf seinem Schloß.

5
Er hätte selbst nichts wünschen mögen zu seinem Glück,

Es fehlte zu dem Allem ihm nur ein einzig Stück,
Doch daß kein Kind er hatte, deß war sein Kummer groß;
Wem sollt’ er hinterlassen seinen Reichthum und sein Schloß?

Und als um Ehesegen er nun zehn lange Jahr

10
Dem Himmel angelegen, wollt’ er verzweifeln gar;

Da ward ihm nachgeboren im eilften Jahr ein Kind;
Die Lust war halb verloren, denn von Geburt war’s blind.

Es wuchs und wurde größer, so konnt’ es leider nicht
Des Vaters Burgen und Schlösser sehn mit dem Augenlicht.

15
Es ward nach des Vaters Willen genannt Ottilie,

Da erwuchs es fromm im Stillen, wie eine Lilie.

Wie eine blühende Lilie, die Jeden, der sie schaut,
Erfreut und ihm gemahnet wie eine Gottesbraut,
Die mit ihren blinden Augen des Himmels reinstes Licht

20
Doch wohl in sich kann saugen, daß ihr kein Glück gebricht.


Da hatte doch der Vater nur diesen Wunsch allein,
Daß sehend möchte werden sein blindes Mägdelein;
Wenn sie das Licht des Tages mit Augen sollte sehn,
Er dachte, daß er zufrieden dann wollt’ zu Grabe gehn.

25
Da ward zuletzt von Wünschen des Kindes Herz geschwellt,

Daß sie mit ihren Augen sehn dürfe diese Welt,
Von der all’ ihre Lieben bei Tag und auch bei Nacht
So wundervoll beschrieben alle die sichtbare Pracht.

Und als das Kind Ottilie ward vierzehn Jahre alt

30
Und kam zur tollen Blüthe jüngfräulicher Gestalt,

Ward ihr der Wunsch erfüllet, das Wunderwerk geschah,
Daß sie vor sich enthüllet das Licht des Tages sah.

[392]

Sie sahe mit den Augen nun diese schöne Welt,
Die man der Blinden hatte so reizend vorgestellt;

35
Sie sah auch ihren Vater, seinen Reichthum und sein Schloß;

Seine Freude darüber war über die Maßen groß.

Doch ihre eigne Freude war an dem Allen klein;
Sie kehrte ihre Blicke erst recht in sich hinein,

40
Oder kehrte sie aufwerts zu des Himmels Zelt,

Sie ließ nicht einen haften an aller dieser schönen Welt.

Der Vater aber machte nun seine Plane gleich;
All auf und nieder dachte er hin durchs ganze Reich,
Wen er sollt’ als Eidam führen in sein Haus;

45
Den Allerreichsten und Edelsten sucht’ er dazu sich aus.


Und als sie eines Abends von ihrem Gebete kam,
Sprach er zu ihr: „Erlesen ist dir ein Bräutigam.
Du sollst, ihn zu empfangen, dich rüsten und schicken sein;
Denn morgen mit dem Frühesten soll deine Hochzeit seyn.“

50
Wie sehr erschrack die Jungfrau, da sie das Wort vernahm!

Sie sprach bestürzt: „Ich habe schon einen Bräutigam,
Und will, bei meinem Heile! stets haben diesen nur.“
Da that der zürnende Vater einen unerhörten Schwur.

Anblickt’ er seine Tochter mit Augen voller Zorn;

55
Da stach so recht die Sanfte durchs Herz ein scharfer Dorn.

Sie wünschte, daß sie doch lieber geblieben wäre blind
Als daß so seinen Vater sollte zürnen sehn ein Kind.

Sie floh in ihre Kammer vor ihres Vaters Zorn,
Und weinte aus den Augen von Thränen einen Born,

60
Sie sprach: „O weh des Wunsches, daß ihn mir Gott verlieh’;

So lang ich blind gewesen, hab’ ich geweinet nie.“

Die Sterne Gottes schauten mild in der Jungfrau Jammer,
Es war, als ob sie riefen: Komm aus der dunklen Kammer! –
Sie schritt in tiefem Schweigen der Nacht aus den Gemach,

65
Sie wußte nicht, wohin sie ging, sie ging nur den Sternen nach.


Und als der helle Morgen auf Hohenburg nun kam,
Die Braut war fern geborgen vorm neuen Bräutigam.

[393]

Er kam auf hohem Rosse geritten im Morgenlicht;
Da war im ganzen Schlosse die Jungfrau zu finden nicht.

70
Dem Vater und dem Bräutigam wards allen Beiden jach;

Sie ritten mit klirrenden Sporen der entwichenen Jungfrau nach.
Hinzu nach der Stadt Freiburg in Breisgau den Weg sie nahmen;
Sie fanden sie da nirgends, wo sie vorüber kamen.

Und als der Tag sich neigte, wollten sie, um zu sehn,

75
Noch einen Berg aufreiten, und dann zur Herberg gehn.

Da sahen sie auf dem Berge, hoch oben im Sonnenlicht,
Stehn die Jungfrau Ottilie mit verklärtem Angesicht.

Sie hielten eine Weile und wagten nicht zu nahn;
Dann sprengten sie die Steile des Berges rasch hinan.

80
Die Jungfrau Ottilie sah sie herreiten nicht;

Ob ihr die Augen blendete das Abendsonnenlicht?

Oder ob es thaten die Thränen, die ihr flossen?
Sie merkt’ es nicht, bis sie nahten mit ihren lauten Rossen.
Da erkannte sie plötzlich, wie nah die Gefahr ihr sei,

85
Und that empor zum Himmel einen hülferufenden Schrei.


Der Himmel kam zu Hülfe seiner erwählten Braut;
Vom Vater und vom Bräutigam ward das Wunder geschaut.
Sie schreckten auf ihren Rossen rückwärts um einen Schritt,
Als sich aufthat der Boden und sie sanft hinunter glitt.

90
Die Erde, da sie also hatt’ in ein schützend Grab

Die Jungfrau da geborgen, sich wieder zusammen gab,
Daß auf derselbigen Stelle blieb keine weitere Spur,
Als eine klare Quelle floß aus einer Spalte nur.

Die Quelle fließt noch heute, und ist im Lande bekannt;

95
Es ist auch der Ottilienberg derselbige Ort genannt.

Es soll für schwache Augen Stärkung die Quell’ ertheilen;
Man sagt, sie solle taugen, die Blindheit gar zu heilen.

Es stammt die Quell’ aus Thränen solch einer Jungfrau ja,
Die selber blind gewesen, und dann das Tagslicht sah.

100
Zu ihrem eignen Glücke hat sie es nicht gesehn;

Wir wünschen, daß es Andern möge zum Glück geschehn.

Friedrich Rückert.