Ottilie
Im Elsaß wohnt ein Grafe, von Hohenburg genannt,
Durch Macht und großen Reichthum im ganzen Land bekannt;
Er hatte, was er mochte, Schlösser, Wälder, Knappen und Roß,
Auch eine schöne Hausfrau hat er auf seinem Schloß.
Es fehlte zu dem Allem ihm nur ein einzig Stück,
Doch daß kein Kind er hatte, deß war sein Kummer groß;
Wem sollt’ er hinterlassen seinen Reichthum und sein Schloß?
Und als um Ehesegen er nun zehn lange Jahr
Da ward ihm nachgeboren im eilften Jahr ein Kind;
Die Lust war halb verloren, denn von Geburt war’s blind.
Es wuchs und wurde größer, so konnt’ es leider nicht
Des Vaters Burgen und Schlösser sehn mit dem Augenlicht.
Da erwuchs es fromm im Stillen, wie eine Lilie.
Wie eine blühende Lilie, die Jeden, der sie schaut,
Erfreut und ihm gemahnet wie eine Gottesbraut,
Die mit ihren blinden Augen des Himmels reinstes Licht
Da hatte doch der Vater nur diesen Wunsch allein,
Daß sehend möchte werden sein blindes Mägdelein;
Wenn sie das Licht des Tages mit Augen sollte sehn,
Er dachte, daß er zufrieden dann wollt’ zu Grabe gehn.
Daß sie mit ihren Augen sehn dürfe diese Welt,
Von der all’ ihre Lieben bei Tag und auch bei Nacht
So wundervoll beschrieben alle die sichtbare Pracht.
Und als das Kind Ottilie ward vierzehn Jahre alt
Ward ihr der Wunsch erfüllet, das Wunderwerk geschah,
Daß sie vor sich enthüllet das Licht des Tages sah.
Sie sahe mit den Augen nun diese schöne Welt,
Die man der Blinden hatte so reizend vorgestellt;
Seine Freude darüber war über die Maßen groß.
Doch ihre eigne Freude war an dem Allen klein;
Sie kehrte ihre Blicke erst recht in sich hinein,
Sie ließ nicht einen haften an aller dieser schönen Welt.
Der Vater aber machte nun seine Plane gleich;
All auf und nieder dachte er hin durchs ganze Reich,
Wen er sollt’ als Eidam führen in sein Haus;
Und als sie eines Abends von ihrem Gebete kam,
Sprach er zu ihr: „Erlesen ist dir ein Bräutigam.
Du sollst, ihn zu empfangen, dich rüsten und schicken sein;
Denn morgen mit dem Frühesten soll deine Hochzeit seyn.“
Sie sprach bestürzt: „Ich habe schon einen Bräutigam,
Und will, bei meinem Heile! stets haben diesen nur.“
Da that der zürnende Vater einen unerhörten Schwur.
Anblickt’ er seine Tochter mit Augen voller Zorn;
Sie wünschte, daß sie doch lieber geblieben wäre blind
Als daß so seinen Vater sollte zürnen sehn ein Kind.
Sie floh in ihre Kammer vor ihres Vaters Zorn,
Und weinte aus den Augen von Thränen einen Born,
So lang ich blind gewesen, hab’ ich geweinet nie.“
Die Sterne Gottes schauten mild in der Jungfrau Jammer,
Es war, als ob sie riefen: Komm aus der dunklen Kammer! –
Sie schritt in tiefem Schweigen der Nacht aus den Gemach,
Und als der helle Morgen auf Hohenburg nun kam,
Die Braut war fern geborgen vorm neuen Bräutigam.
Er kam auf hohem Rosse geritten im Morgenlicht;
Da war im ganzen Schlosse die Jungfrau zu finden nicht.
Sie ritten mit klirrenden Sporen der entwichenen Jungfrau nach.
Hinzu nach der Stadt Freiburg in Breisgau den Weg sie nahmen;
Sie fanden sie da nirgends, wo sie vorüber kamen.
Und als der Tag sich neigte, wollten sie, um zu sehn,
Da sahen sie auf dem Berge, hoch oben im Sonnenlicht,
Stehn die Jungfrau Ottilie mit verklärtem Angesicht.
Sie hielten eine Weile und wagten nicht zu nahn;
Dann sprengten sie die Steile des Berges rasch hinan.
Ob ihr die Augen blendete das Abendsonnenlicht?
Oder ob es thaten die Thränen, die ihr flossen?
Sie merkt’ es nicht, bis sie nahten mit ihren lauten Rossen.
Da erkannte sie plötzlich, wie nah die Gefahr ihr sei,
Der Himmel kam zu Hülfe seiner erwählten Braut;
Vom Vater und vom Bräutigam ward das Wunder geschaut.
Sie schreckten auf ihren Rossen rückwärts um einen Schritt,
Als sich aufthat der Boden und sie sanft hinunter glitt.
Die Jungfrau da geborgen, sich wieder zusammen gab,
Daß auf derselbigen Stelle blieb keine weitere Spur,
Als eine klare Quelle floß aus einer Spalte nur.
Die Quelle fließt noch heute, und ist im Lande bekannt;
Es soll für schwache Augen Stärkung die Quell’ ertheilen;
Man sagt, sie solle taugen, die Blindheit gar zu heilen.
Es stammt die Quell’ aus Thränen solch einer Jungfrau ja,
Die selber blind gewesen, und dann das Tagslicht sah.
Wir wünschen, daß es Andern möge zum Glück geschehn.