Sind wir Deutschen wirklich unverbesserlich?

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Titel: Sind wir Deutschen wirklich unverbesserlich
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 592
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[592] Sind wir Deutschen denn wirklich unverbesserlich? Der große Krieg hat mit all seiner Glorie nichts an dem alten deutschen Hang geändert, das Fremde allezeit dem Heimischen vorzuziehen. „Nicht weit her sein“ ist heute noch ein Tadel für Menschen und Dinge: nur von jenseits der deutschen Grenze muß Etwas kommen, um Anspruch auf sofortige Beachtung zu haben – und so gilt sogar ein Hülferuf, der von draußen kommt, mehr, als einer innerhalb unserer Grenzen, wo er eben „nicht weit her“ sein kann. Das ist ein schweres nationales Gebrechen. Gewiß stimmen wir von ganzem Herzen dem Ausspruche bei, daß die Hülfe sich nicht nach dem Heimathschein und dem Glaubensbekenntniß der Unglücklichen richten soll. Wenn aber zwei Hülferufe zugleich an unser Ohr dringen, der eine von draußen, der andere von innen, so weiß der rechte Mann, daß die erste Hülfe dem Landsmann gebührt. Bei uns beliebt man in der Regel das Umgekehrte. Als vor Kurzem von den Ufern der Theiß und der Oder zugleich die Hülferufe der von der Wassersnoth Bedrängten laut wurden, nahm das imposantere Unglück in der Fremde uns so vollständig in Anspruch, daß die armen deutschen Landsleute fast ganz darüber vergessen wurden. War denn aber nach Stillung der heimischen Noth nicht immer noch Zeit genug übrig, um sich um die „ungarische Dankbarkeit“ zu bewerben?

Ein doppeltes Unglück, diesmal durch Feuersbrunst, hat abermals die Gelegenheit gegeben, unsern Patriotismus zu erproben: im Osten von Deutschland liegt die Hauptstadt Bosniens in Asche, das jetzt in Oesterreich-Ungarn seine Sympathien zu suchen hat, und im Westen, innerhalb der neuen Reichsgrenzen, ist ein Marktflecken abgebrannt, der durch die Vernichtung seiner werthvollen Erwerbsquellen einen Verlust von zwei Millionen Franken erlitten hat und rascher Hülfe bedarf. Als das Elsaß noch französisch war, hieß der Ort Châtenois; jetzt ist er wieder in’s Deutsche übersetzt worden und heißt Kestenholz (Kastanienholz). In der Hauptstadt Frankreichs rufen die Zeitungen die „patriotische Wohlthätigkeit“ für das abgebrannte „Châtenois“ an. Wird man in Deutschland „Kestenholz“ vergessen, weil – es nicht mehr im Ausland liegt? Mehr als je zuvor ist der deutsche Patriotismus in diesem Falle zu ermahnen, erst seine Schuldigkeit zu thun, ehe der kosmopolitische Zug wieder in die Fremde schwärmt. Der Opferstock für das elsässische Kestenholz sollte in jedem Orte des Reichs aufgestellt werden: es ist noch viel Gutes nöthig, um dort mit der neuen Wandlung zu versöhnen. Hier gilt’s: praktische Liebe!