Sevillaner Stickerinnen
[611] Sevillaner Stickerinnen. (Zu dem Bilde S. 605.)
„Wer Sevilla nicht gesehen, hat ein Wunder nicht
gesehen,“ sagt ein altes spanisches Sprichwort, und
wenn dies auch nur für den Spanier, der so wenig
von der Außenwelt kennt, seinem ganzen Inhalt nach
als richtig gelten kann, so ist es doch nicht zweifelhaft,
daß auch kein Ausländer, der sich noch Empfänglichkeit
sür den Reiz eigenartiger landschaftlicher und kultureller
Eindrücke bewahrt hat, sich dem Zauber entziehen kann,
den Sevilla ausübt. Es bietet jedem etwas, das ihn
anziehen muß. Der Geschichtskenner sieht sich überall
an die große Rolle erinnert, die Sevilla im Laufe
des zweitausendjährigen historischen Lebens von Spanien
gespielt hat. Der strenge Gläubige, ob er Katholik
oder Protestant sei, kann sich dem gewaltigen Eindruck
nicht verschließen, welchen die Kathedrale auf jeden
Besucher machen muß. Der Naturfreund, der Maler,
der Musiker, der Dichter, der Tourist finden die größte
Anregung. Wer aber könnte vollends unempfindlich
bleiben bei dem Anblick der eingebornen Sevillanerinnen?
Spanien ist reich an schönen Frauen und die
Eigenart des Landes sowie die ungewöhnlich starke
Völkermischung haben dazu beigetragen, eine außerordentliche
Fülle verschiedenartiger Typen zu schaffen,
die zum Teil sehr bedeutend voneinander abweichen.
Die junge Sevillanerin wird von vielen als die erste Vertreterin spanischer Frauenschönheit betrachtet; jedenfalls vereinigt sie in sich viele der Reize, die man bei den Frauen anderer Provinzen nur vereinzelt vorfindet. Das Feuer der dunkeln Augen, der Ausdruck der überwiegend ernsten Gesichtszüge, die zierlichen Gestalten, die kleinen Hände, die natürliche Anmut der gemessenen Bewegungen bilden die Faktoren der Anziehungskraft der Sevillanerin. Sie bedarf keiner künstlichen Mittel, keiner kostbaren Stoffe und Schmucksachen, um ihre Reize zu heben. Eine Rose, eine Nelke, einige Tuberosen oder andere Blumen
[612] sind die einzige und die schönste Zierde ihres schwarzen Haares. Ein Umschlagtuch, meist aus feinem Woll- oder Seidenstoff, mit langen Fransen versehen und schön gestickt, gehört gewissermaßen zur Kleidung und wird, wie wir es auf unserem Bilde sehen, selbst bei der Arbeit und im Hause nicht abgelegt. Daß es den Sevillanerinnen an Fleiß nicht fehlt, das sehen wir in der großen Cigarrenfabrik, in der 6000 Frauen beschäftigt sind, das sehen wir aber auch, wenn wir in die Häuser treten, und die Feinheit der berühmten Stickarbeiten beweist uns die Sorgfalt, mit der die Sevillanerin arbeiten kann – wenn sie will. Der Künstler zeigt uns auf seinem Bilde einige dieser Mädchen des Mittelstandes bei ihren Stickrahmen und in der Umgebung, welche, für den Fremden namentlich, auch so außerordentlich anziehend ist. Die in arabischem Stil verzierte Truhe, die mit den gemusterten maurischen Kacheln versehene Wand, das glaslose hölzerne Fenster erinnern hier an den Orient, an den mächtigen Einfluß der arabischen Kultur. G. Diercks.