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wahre Sterben des Märchens vollzieht sich auf ganz andere Weise und nur allmählich: es ist ein Hinsiechen unter dem Druck der Kulturbedingungen unserer Zeit, die dem Genügen an einer anspruchslosen, naiven Unterhaltung feindlich sind.

Mit voller Berechtigung legt die vergleichende Forschung grossen Wert auf die Feststellung, dass das junge volkstümliche Märchen sich häufig als ursprünglicher erweist, als selbst die älteste Buchvariante, und mag sie auch aus der Heimat des betreffenden Märchens stammen. Diese Tatsache, die für den Philologen nichts Überraschendes hat, darf jedoch nicht ohne Weiteres verallgemeinert werden zu dem Satz, das volkstümliche Märchen stelle gewöhnlich die ältere Märchenform gegenüber den literarischen Bearbeitungen dar[1]. Hier scheint die Fehlerquelle darin zu liegen, dass man die nur aus mündlichen Varianten rekonstruierte Urform den literarischen Bearbeitungen gegenüberzustellen pflegte und nun begreiflicherweise sehr schwerwiegende Abweichungen fand. So gelangte wohl Aarne zu einer Unterschätzung der schriftlich überlieferten Varianten, die er lediglich als Beweismittel zweiter Ordnung gelten lassen will[2]. Offenbar ist es jedoch unrichtig, die ältere Literatur so gering zu werten. Oben war bereits die Rede davon, dass selbst Entstellungen einzelner Züge Beweise für Ursprünglichkeit sein können, und im Positiven weist K. Krohn in seiner Besprechung von Aarnes Vergleichenden Untersuchungen mehrfach nach[3], dass die literarischen Varianten für die Rekonstruktion der Urform von weit grösserer Bedeutung sind, als Aarne es zugibt. Gewiss ist es nicht oft die vollständige Erzählung, die den ursprünglichen Zustand besser bewahrt als das mündlich fortgepflanzte Märchen. Das liegt sicherlich an der mehr oder weniger starken literarischen Verarbeitung, an den Zwecken, die sie verfolgt. Einzelzüge jedoch sind hier sehr häufig treuer bewahrt, als in der jüngeren mündlichen Tradition, die sich schon deshalb stark wandeln musste, weil sie unter den Einfluss neuer Kulturverhältnisse geriet und sich anders gearteten geistigen Bedürfnissen anzupassen hatte. Schliesslich geht doch die schriftliche Überlieferung unmittelbar auf sehr alte Quellen zurück, sollte also schon deswegen Ursprüngliches bieten können.

Aarnes Urformen tragen diesem Umstande nicht genügend Rechnung. Sie bauen sich auf einer ungeheuren Überzahl europäischer Varianten auf und kranken daran, dass die volkstümliche orientalische Tradition nur zu einem sehr geringen Teile bekannt ist. Dadurch verschiebt sich leicht das mutmasslich wahre Verhältnis. Das eigentümlich Orientalische kommt


  1. Aarne, Leitfaden S. 9.
  2. Ebenda S. 49. Erst in seiner Untersuchung über den tiersprachenkundigen Mann zieht Aarne, und zwar mit bestem Erfolg, die Buchvarianten gleichzeitig mit den volkstümlichen heran.
  3. Finn.-Ugr.-Forsch. 9, Anzeiger.
Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_164.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)