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etwa magische und religiöse, auf denen sie beruhen, dürften von unberechenbarem Alter sein, nicht aber ihre anekdotisch-novellistische Gestaltung zu einer kurzen Erzählung, die stets deutlich verraten haben muss, dass sie die zugrunde liegende Vorstellung bereits dichterisch frei verwertet. Allein die selbständige frühe Existenz zahlreicher Motive in der Form sagenähnlicher kurzer Geschichten, die von den Märchendichtern aufgenommen, erweitert, umgeformt wurden, leugnet Aarne meines Erachtens zu Unrecht. Es sind nicht nur ‘einige Einzelzüge’ von alter Formung in die Märchen verarbeitet worden, sondern wahrscheinlich sehr viel mehr, als man heute weiss oder vermutet. Ist denn daran zu zweifeln, dass die Motive magisch-religiösen, sagenhaften und extrem heroischen Charakters nicht erst für das allem Geglaubten abholde, genrehafte und eher idyllische Märchen erfunden worden sind, sondern schon früher selbständig existierten? Wie gerieten sonst Motive hinein, wie die ‘Inkorporierung der Seele’, ‘Macht im Namen’, ‘Jephtas Tochter’, ‘Helden- und Drachenkämpfe’, ‘Streitende Riesen um Wunderdinge betrogen’, Frau-Holle-Motive und zahlreiche andere, an Riesen, Zwerge, Teufel, Geister und ähnliche aussermenschliche Gestalten geknüpfte Episoden?

Der Ausdruck ‘märchenhaft’, sagt Roediger mit vollem Recht, ist weit und vage, denn es gibt kaum irgendwelche Motive, die bloss im Roman, in der Heldensage, im Mythus oder bloss im Märchen vorkommen und nicht in mehreren Gattungen zugleich[1]. Was die Märchenforschung daher braucht, ist eine neue umfassende Motivforschung, wie sie in recht glücklichen, freilich noch tastenden Ansätzen bereits angebahnt wurde[2]. Eine Untersuchung der Gestaltung und Entwicklungsfolge der Motive ist notwendig, eine Feststellung ihrer literarischen Formen und ihrer Funktionen im Rahmen eines Märchens, ihrer Existenzmöglichkeit als selbständige kurze Erzählung, ihrer stofflichen Herkunft und Geschichte, ihrer vielfältigen Beziehungen zu anderen Gattungen[3] und der Bedingungen ihrer Entwicklung. Es müsste erkannt werden, wie durch Verlängerung, Steigerung, Auswahl und Gruppierung allmählich zusammengesetzte Erzählungen entstehn[4], wie andere durch Aufschwellung der Motive von innen heraus sich zu kurzen Geschichten ausweiten[5], und welchen äusseren und inneren Veränderungen sich die Motive beim Übergang in andere Gattungen aussetzen.


  1. Bethge, Ergebnisse und Fortschritte der germanist. Wissenschaft S. 605, vgl. Bethe, Hess. Blätter 4, 106.
  2. Vgl. v. der Leyens Neuordnung der Märchen der Brüder Grimm, Jena 1912; Fr. Ranke, Der Erlöser in der Wiege, München 1911; ders., Bayer. Hefte f. Volkskunde 1, 40–51.
  3. Die Aarne nur in bezug auf die Volksepen gelten lässt, s. Leitfaden S. 22.
  4. Vgl. Arfert, Grenzboten 66, 138 ff.; Petsch, Korresp.-Blatt d. Gesamtvereine 58, Sp. 179 f.
  5. Vgl. z. B. Grimm, KHM. 5. 28. 55. 94. 105. 109. 182 u. a.
Empfohlene Zitierweise:
Fritz Boehm (Hrsg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25. Jahrgang. Behrend & Co., Berlin 1915, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_des_Vereins_fuer_Volkskunde_25_157.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)