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Tacitus, und das wäre zu verwundern, wenn es nicht durch die Person des Lehrers, Herrn Rectors Roth, erklärlich würde. Rector Roth lebte in Tacitus, er wußte ihn nicht blos zu übersetzen und zu erklären, sondern sein Angethansein von dem Schriftsteller, seine zu demselben passende Persönlichkeit eröffnete mir das Verständnis. Und dann war, was in Tacitus vorlag, Geschichte und zwar näher liegende, als die bei Livius. Hätte ich freilich für die andern Schriftsteller, so könnte man sagen, dieselben tüchtigen Lehrer gehabt, so etc. Aber ich las ja mit Roth auch Homer, Virgil, Horaz, Euripides, Sophokles etc. und doch blieb mir das alles viel fremder. Mit all’ dem will ich natürlich nicht sagen, daß ich vom Lesen der Classiker keinen Nutzen hatte, ich verstand sie nur nicht. Ebenso gieng es mir mit der Mythologie. Die Betrachtung des liederlichen Lebens der Götter erweckte mir böses Gewissen; daß ich sie dennoch fortsetzte, befleckte meine Seele. Ich bin nicht für castrierte Ausgaben des Ovid etc.; aber wenn ich eine höhere Betrachtungsweise gehabt hätte, wenn die Lehrer aus christlichem Standpunkte ein Gericht über die Götterlehre hätten ergehen lassen und die Herrlichkeit des Gottes hätten zeigen können, der an allen Götzen Hohn übt, so würde ich nicht für meine Seele aus dergleichen Dingen Gift gesogen haben. Im rechten Lichte kann man alles ansehen; aber dies Licht können wenige Lehrer geben.

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 Den größten Dank bin ich meinem Lehrer, Herrn Rector Roth, schuldig. Ich habe nie einen Lehrer gehabt wie diesen. Sein Ton war eine vorherrschende Strenge, ganz wie man sie an einem Schulrector sich denkt. Aber innerhalb dieser allen gleichen Strenge wußte er jede Individualität zu unterscheiden und auf angemessene Weise zu behandeln. Man merkte, daß seinem Benehmen ein Studium der Individualitäten zu Grunde