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mußten und keinen Mann im Hause haben, hörte der Verkehr mit der Familie auf. Ihr, mein Neffe, seid so groß geworden, daß ich Euch gar nicht wiedererkannt habe.“ Er erwiderte: „Ich bin jetzt gerade wegen der Tante gekommen und habe in der Eile den Namen vergessen.“ – „Ich heiße Tsin“, so sagte sie, „und habe keine Kinder. Nur ein kleines Mädchen ist noch da, das von der Nebenfrau geboren wurde. Ihre Mutter hat sich nun wieder vermählt und hat sie mir zum Aufziehen gelassen. Sie ist durchaus nicht dumm; nur hat sie wenig Unterricht genossen und kennt den Ernst des Lebens nicht. Wart ein wenig, und ich will sie holen, daß sie dich begrüßt.“ Da kam die Dienerin und richtete das Mahl. Er aß, dann rief die Alte nach dem Mädchen. Lange Zeit verging, dann hörte man von draußen unterdrücktes Kichern. Die Alte rief: „Ying Ning, es ist dein Vetter da, hörst du nicht auf mit deinem Lachen draußen!“ Die Dienerin schob sie herein. Sie hielt sich ihren Mund zu, konnte aber nicht im Lachen innehalten. Die Alte machte strenge Augen: „Ein Gast ist da, und du lachst immerzu. Was soll das heißen!“ Da brach das Lachen ab; das Mädchen richtete sich auf, und Wang verneigte sich vor ihr. Die Alte sprach: „Das ist dein Vetter. Man gehört zur gleichen Familie und kennt sich noch nicht. Das ist eine Schande!“ Der Jüngling fragte: „Wie alt ist denn die Base?“ Die Alte hörte nicht; da lachte Ying Ning wieder so, daß sie nicht schauen konnte. Da sprach die Alte: „Nun siehst du, daß sie nichts gelernt hat! Sie ist schon sechzehn Jahre alt, und sie benimmt sich närrisch wie ein Kind!“ – „So ist sie eben ein Jahr jünger, als ich bin“, erwiderte der Jüngling. „Dann bist du ja schon siebzehn“, sprach die Alte. „Wer ist deine Frau?“ Er sagte ihr, daß er noch keine habe, worauf sie meinte: „Wie ist denn das möglich, daß du bei deinen Talenten und deinem Aussehen nicht verlobt bist? Auch Ying Ning hat keinen Mann, ihr würdet recht gut zueinander passen. Schade, daß das Hindernis der nahen

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Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 311. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_311.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)