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alten Schmöker zerschneiden. Im Zimmer der Stallknecht endlich, nun – der kann eure Magd heiraten.“

Da sagte der älteste Schwager: „Gut gescholten! Schwägerin, du weißt zu reden. Wärst du ein Mann, du hättest längst den Doktor in der Tasche. Wir wollen zur Strafe unsere drei Gläser leeren.“


3. Wie einer aus Gier nach dem Kleinen das Grosse verliert

Es war einmal eine alte Frau, die hatte zwei Söhne. Ihr großer Sohn war ohne Kindesliebe und verließ Mutter und Bruder. Der jüngere aber diente ihr, so daß alle Leute von seiner Kindlichkeit erzählten.

Eines Tages wurde draußen vor dem Dorf Theater gespielt. Da trug er seine Mutter auf dem Rücken hin, damit sie zusehen könne. Vor dem Dorf aber war eine Schlucht. Dort glitt er aus und fiel mitten in die Schlucht hinein. Seine Mutter ward von dem Steingeröll totgeschlagen; ihr Blut und Fleisch war rings umhergespritzt. Der Sohn streichelte den Leichnam seiner Mutter und weinte bitterlich. Er wollte sich selbst töten, als er plötzlich einen Priester vor sich stehen sah.

Der sagte zu ihm: „Sei ohne Furcht, ich kann deine Mutter wieder lebendig machen.“

Mit diesen Worten bückte er sich, las Fleisch und Knochen zusammen und fügte sie alle richtig aneinander. Dann blies er sie an, und schon war die Mutter wieder lebendig. Da hatte der Sohn eine große Freude und dankte ihm auf den Knien. Er sah jedoch an einer Felskante noch ein ungefähr zollgroßes Stückchen Fleisch seiner Mutter hängen.

„Das darf man auch nicht liegen lassen“, sagte er und barg es an seinem Busen.

Empfohlene Zitierweise:
Richard Wilhelm: Chinesische Volksmärchen. Eugen Diederichs, Jena 1914, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_ChinVolksm_007.jpg&oldid=- (Version vom 29.5.2018)