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W. Wien: Über die Wandlung des Raum- und Zeitbegriffs in der Physik.

Die Analyse der Axiome unserer Erkenntnis insbesondere der Grundlagen der Geometrie ist seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Aufgabe, welche die bedeutendsten Mathematiker beschäftigt. Gauss, Lobatschefski, Riemann, Helmholtz, Lie, Hilbert haben tiefgehende Untersuchungen über die Voraussetzungen gemacht, die zum Aufbau des logischen Gebäudes der Geometrie gemacht werden müssen. Diese Arbeiten haben die neue Erkenntnis gebracht, dass die Eigenschaften der sogenannten Euklidischen Geometrie, auf der bisher ausschliesslich sämtliche geometrische Anwendungen auf die Naturwissenschaft beruhten, keineswegs die einzige mit unseren Denkgesetzen und Anschauungsvermögen vereinbare Mannigfaltigkeit von drei Dimensionen sei, sondern dass sie vielmehr spezielle Eigenschaften des Raumes voraussetzt, bei deren Fallenlassen man eine unendliche Menge anderer Geometrien in völliger Konsequenz aufbauen kann. Man konnte allerdings diese Untersuchungen als rein mathematische ansehen, da eine Prüfung an der Erfahrung und die Möglichkeit etwa auf experimentellem Wege die Euklidische Geometrie zu widerlegen völlig ausgeschlossen schien.

Es ist nun merkwürdig, dass im Gegensatz zu diesen auf rein spekulativem Wege gewonnenen Erkenntnissen sich induktiv aus der experimentellen Physik heraus die Möglichkeit einer neuen Raum- und Zeitanschauung langsam Bahn gebrochen hat. Allerdings hat

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Wilhelm Wien: Über die Wandlung des Raum- und Zeitbegriffs in der Physik. Sitzungsberichte der physikalisch-medizinischen Gesellschaft zu Würzburg, Würzburg 1909, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:WienRaumZeit.djvu/1&oldid=- (Version vom 1.8.2018)