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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

sie hierher zurückkehren“. Denn in dem genannten vierten Zeitraum[1] erweist sich die Seele, nachdem sie sich von der Sünde abgewendet hat, als die Erbin der Weisheit. 299 Der erste ist derjenige, in dem man keinen Begriff von dem Guten oder Bösen haben kann, da die Seele noch unausgeprägt ist; der zweite ist der, in dem wir dem Ansturm der Sünden ausgesetzt sind; der dritte ist der, in dem wir ärztliche Pflege genießen, das Krankhafte abstoßen und die Schärfe der Affekte schwächen; der vierte (Zeitraum) aber ist der, in dem wir vollkommener Gesundheit und Stärke teilhaft werden, sobald wir dem sittlich Schlechten den Rücken zukehren und uns mit dem sittlich Guten befassen; vorher ist es nicht möglich. [60] 300 Wie lange dies dauert, wird uns Moses selbst kundtun mit dem Satze: „Denn noch nicht sind die Sünden der Amorräer vollzählig“(1 Mos. 15, 16). Dieser Satz gibt den weniger Gefestigten[2] Veranlassung anzunehmen, daß Moses das „Schicksal“ und die „Notwendigkeit“ als die Ursachen aller Geschehnisse hinstellt. 301 Aber man muß wissen, daß er als Philosoph[3] und Prophet die Reihenfolge, die Verkettung und Verflechtung der Ursachen kennt, aber nicht jenen die Ursachen für alle Geschenisse zuschreibt. Er hat sich vielmehr ein anderes früheres Wesen vorgestellt, das über dem Weltall thront nach Art eines Wagenlenkers oder Steuermanns;[4] denn dieses steuert das gemeinsame Weltenschiff, in dem alles fährt, und lenkt den beflügelten Wagen, den ganzen Himmel, kraft seiner unabhängigen, unbeschränkten Herrschergewalt. 302 Wie sind aber nun jene Worte zu verstehen? Amorräer[5] bedeutet „Sprechende“; die Sprache aber, das wertvollste Gut, das dem Menschen von der Natur geschenkt wurde, verderben viele Empfänger, indem sie sich der Geberin gegenüber undankbar und treulos benehmen. Solche sind die Gaukler, die Schmeichler, die Erfinder geschickter Trugschlüsse,[6] [p. 517 M.] die es nur zu gut verstehen zu täuschen und zu betrügen, ohne sich um Wahrhaftigkeit

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Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/78&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
  1. Wörtlich: der vierten Zahl, nach pythagoreischer Voraussetzung wirken die Zahlen auf die Dinge.
  2. So ist wohl ἀσθενέστεροι gemeint; vgl. Über die Trunkenheit § 55.
  3. Die Stoiker teilten nicht den griechischen Volksglauben, nach dem selbst die Götter dem blinden Fatum unterworfen sind. Sie sahen im Fatum eine strenge kausale Fügung, s. v. Arnim, Die stoische Lehre von Fatum und Willensfreiheit, und Schmekel, Die Philosophie der mittleren Stoa S. 244ff.
  4. Vgl. oben § 228, Über d. Einzelges. I 14 u. ö.
  5. Von אמר‎ sprechen.
  6. Gemeint sind die sog. Sophisten.