Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/76

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn

liebenden, d. h. von der mit den Sinnen wahrnehmbaren Schöpfung zu der vom Geiste erfaßbaren schöpferischen Ursache, – sie erzeugen Seelenruhe und Festigkeit. 290 Diesem, der solchen Frieden hatte, verspricht Gott ein schönes Greisenalter, nicht etwa ein zeitlich langes, sondern ein einsichtsvolles Leben. Denn gleichwie selbst ein kürzeres Licht besser ist als ewige Finsternis, so ist ein Leben glücklicher Tage besser als das vieler Jahre. Hat doch ein Prophet gesagt, er wolle lieber einen Tag in Tugendhaftigkeit leben als unzählige viele im Schatten des Todes (Ps. 84, 11), wo er mit „Tod“ auf das Leben der Bösen hindeutet.[1] 291 Dasselbe erklärt Moses hier mehr durch Tatsachen als durch Worte; denn den, der nach seiner Darstellung ein schönes Alter haben soll, schildert er doch als den Kurzlebigsten von fast allen seinen Vorfahren, um uns überzeugend zu lehren, wer wirklich ein schönes Greisenalter hat, damit wir nicht etwa den großen, schmachvollen, tadelnswerten Stolz auf äußere Vorzüge des Körpers loben, sondern im Hinblick auf die Einsicht und Charakterfestigkeit der Seele das schöne Greisenalter als den Bruder und Namensvetter der Ehrenhaftigkeit[2] bezeichnen und rühmen. 292 Zu deiner Belehrung vernimm also, daß nach unserem Gesetzgeber der Weise allein ein schönes Greisenalter und langes Leben hat, ein kurzes dagegen der Schlechte, da er sich fortwährend im Sterben übt, oder vielmehr dem tugendhaften Leben bereits abgestorben ist.[3]

[59] 293 Weiter heißt es (1 Mos. 15, 16): „Aber im vierten Zeitalter werden sie hierher zurückkehren“, nicht nur um die Zeit anzugeben, wo sie das heilige Land besiedeln würden, sondern um auch auf die vollständige Wiederherstellung der Seele hinzuweisen. Diese erfolgt ungefähr im vierten Zeitalter; in welcher Weise – das lohnt sich zu untersuchen. 294 Ein neugeborenes Kind hat bis zum vollendeten siebenten Jahre – also im Kindesalter – eine reine, weichem Wachs[4] ähnliche Seele, der noch nicht die Eindrücke des Guten

Empfohlene Zitierweise:
Philon: Der Erbe des Göttlichen (Quis rerum divinarum heres sit) übersetzt von Joseph Cohn. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloHerGermanCohn.djvu/76&oldid=- (Version vom 4.8.2020)
  1. Dieser Vers scheint gemeint zu sein, aber im Texte steht nichts von „Todesschatten“, wohl aber vom „Wohnen in den Zelten der Ruchlosigkeit“.
  2. Anspielung auf den Gleichklang von γῆρας (Greisenalter) und γέρας (Ehrenhaftigkeit).
  3. Vgl. oben § 53, Über d. Riesen § 14 und das bekannte Wort des Talmud רשעים בחייהם קרויים מתים‎ b. Berach. 18b und Jerus. das. 4d.
  4. Vgl. Über die Weltsch. § 166, Über die Einzelges. § 106, Über die Unveränderlichkeit Gottes § 43.