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‘Mauer’ oder ‘gerade Richtung’.[1] Nun redet das Gewissen in der Seele und sagt zu ihr: „Woher kommst du und wohin gehst du“ (ebd. V. 8). So spricht es weniger zweifelnd und fragend als vielmehr zürnend und tadelnd; denn für einen Engel geziemt es sich, in allem über uns Bescheid zu wissen. 204 Beweis ist, daß er auch die Frucht ihres Leibes, die der Kreatur unbestimmbar ist, genau kennt, wie seine Worte zeigen. „Siehe, du trägst ein Kind in deinem Leib und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen“ (ebd. V. 11). Denn es liegt nicht im Bereich des menschlichen Vermögens, zu erkennen, daß die Leibesfrucht männlich ist, und ebensowenig, welchem Lebensberuf der noch nicht Geborene sich zuwenden wird, nämlich dem eines Bauern und nicht dem eines gebildeten Städters. 205 Die Worte: „Woher kommst du“ werden also gebraucht, um die Seele zu tadeln, die sich der besseren, ihr zur Herrin bestimmten Gesinnung durch die Flucht entzieht, während, wenn sie ihr nicht nur dem Namen nach, sondern in Wahrheit dienen wollt großer Ruhm ihrer wartet. „Und wohin gehst du?“ Du läufst dem Ungewissen nach und wirfst das allgemein Anerkannte von dir. 206 Wir können ihr aber das schöne Lob spenden, daß sie den Verweis dankbar aufnimmt; ihre dankbare Gesinnung gibt sie dadurch zu erkennen, daß sie ihre Herrin nicht anklagt, vielmehr die Schuld an der Flucht auf sich selbst nimmt, und daß sie auf die zweite Frage: „Wohin gehst du?“ nicht antwortet. Denn das ist ungewiß, und es ist sicher und notwendig [577 M.] über Ungewisses sein Urteil zurückzuhalten. 207 Der prüfende Engel nimmt nun ihren Gehorsam beifällig auf und sagt: „Kehre zurück zu deiner Herrin“; denn für die Lernende ist die Anleitung der Lehrerin, für die noch Unvollkommene der Dienst bei der Einsicht von Nutzen. Wenn du aber zurückgekehrt bist, so „demütige dich unter ihre Hand“ (ebd. V. 9) mit einer ehrenvollen Demütigung, die in der Austilgung eines unvernünftigen Hochmuts besteht. 208 Denn so wirst du unter sanften Geburtswehen, durch Anhören göttlicher Unterweisungen zur Besonnenheit gelangt, einen männlichen


  1. Im griechischen Text εὐθυσμός. Das sonst nicht belegte, von Wendland beanstandete Wort scheint im Zusammenhang der Stelle unverdächtig; wie Philo von dieser Übersetzung des hebr. שור‎ zur allegorischen Deutung „Heerstraße der Bildung“ gelangen konnte, lehrt Über den Landbau § 101, wo von der „geraden (εὐθυτενής) Heerstraße der Tugend“ die Rede ist. [שׁוּר‎ bedeutet 1 Mos. 49, 22 u. ö. „Mauer“: die zweite Deutung Philos durfte sich weniger aus שוּרה‎ „Zeile, Reihe“ als aus dem Anklang an יָשָׁר‎ „gerade“ erklären. I. H.]
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Philon: Über die Flucht und das Finden. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloFugGermanAdler.djvu/052&oldid=- (Version vom 21.5.2018)