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Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler

bezeichnen, als Mutter aber das Wissen des Erzeugers;[1] ihm hat Gott beigewohnt und die Schöpfung erzeugt, allerdings nicht nach Menschenart.[2] Sie aber hat Gottes Samen empfangen und den einzigen und geliebten wahrnehmbaren Sohn,[3] diese unsere Welt, als reife Frucht [362 M.] in Wehen geboren.[4] Demgemäß wird bei einem aus dem göttlichen Reigen die Weisheit mit folgendem Ausspruch über sich selbst eingeführt: „Gott hat mich als erstes seiner Werke erworben und vor aller Zeit hat er mich begründet“ (Sprüche 8, 22);[5] denn notwendigerweise muß alles, was zur Erschaffung kam, jünger sein, als die Mutter und Amme des Alls.[6] [9] 32 Das sind also unsere Eltern; wer wäre imstande, ihre Anklage auszuhalten? Ja, nicht einmal eine mäßige Drohung oder den leichtesten Vorwurf. Ist ja doch nicht einmal jemand imstande, die unzählige Fülle ihrer Geschenke zu fassen, vielleicht nicht einmal die Welt,[7] sondern wie ein kurzes Rinnsal wird sie, wenn mächtig die Quelle der Gnaden Gottes hinzuströmt, sehr bald so voll sein, daß das Wasser in die Höhe sprudelt und sich über die Ränder ergießt. Vermögen wir aber nicht die Wohltaten aufzunehmen, wie werden wir dann erst das Herannahen der strafenden Kräfte ertragen?[8] 33 Diese Eltern des Alls muß man freilich von


  1. Die ἐπιστήμη des Schöpfers ist mit der σοφία an anderen philonischen Stellen identisch (vgl. E. Bréhier, Les idées philosophiques et religieuses de Philon d’Alexandrie² S. 117, 4; 119). Diese Identität kann man auf Sokrates zurückführen, s. Plato, Theaet. 145 E und Xenophon Mem. IV 6, 7. Zu verstehen haben wir die Mutter des Kosmos als die μετάρσιος καὶ οὐράνιος σοφία, πολλοῖς ὀνόμασι πολυώνυμος οὖσα Alleg. Erkl. I 43 Anm.
  2. Die Bedeutung dieses Zusatzes, den ich gegen R. Reitzenstein, Poimandres, S. 41, 2 in den Wiener Studien XLIV S. 221 verteidigt habe, erhellt aus Über d. Cherubim § 50.
  3. „Die Attribute ,einziger‘ und ,geliebter‘ (μόνος, ἀγαπητός) treten in der mystisch-religiösen Literatur der Spätantike – der Heiden ebenso wie der Christen – bei Göttersöhnen oder deren Hypostasen auf.“ Leisegang zu Über d. Unveränderl. Gottes § 4.
  4. Auf die religionsgeschichtliche Bedeutung dieser Stelle hat R. Reitzenstein, Poimandres S. 41f. hingewiesen.
  5. Die LXX haben statt ἐκτήσατο die Lesart ἔκτισε. Auf den gleichen Bibelvers spielt Philo Über die Tugenden § 62 an.
  6. Zur Bezeichnung „Amme“ vgl. § 61.
  7. Diesen Gedanken variiert der Schriftsteller mit Vorliebe, z. B. De somn. I § 143. Über d. Nachkomm. Kains § 144, 145; allgemeiner gefaßt Alleg. Erkl. III 539.
  8. Die Urkräfte des göttlichen Wesens werden in die wohltätige Kraft (χαριστικὴ δύναμις) Gottes (θεοῦ) und in die ahndende Kraft (κολαστική) des Herrn (κυρίου) zerlegt, s. Der Erbe des Göttl. § 166. Erwähnung der κολαστικαὶ WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt δυνάμεις an anderen philonischen Stellen führt Leisegang zu Über d. Riesen § 47 an. Vgl. die Einleitung zum 1. Bd. S. 19.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Trunkenheit (De ebrietate) übersetzt von Maximilian Adler. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloEbrGermanAdler.djvu/018&oldid=- (Version vom 8.6.2018)