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Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein

recht ist es, das unfehlbare Auge vor dem täuschenden Ohre als Zeugen zuzulassen. 141 Deswegen ist auch in den bestgeordneten Staaten ein Gesetz verfaßt, [426 M.] daß man keine Zeugenschaft auf Grund des Gehöres ablege,[1] weil sein Urteil von Natur zur Bestechlichkeit neigt.[2] Auch Moses sagt es in den Verboten: „Du sollst kein leichtfertiges Gerücht aufnehmen“ (2 Mos. 23, 1),[3] wodurch nicht nur gesagt wird, daß man (keine) falsche oder törichte Rede mittels des Gehörs aufnehme, sondern auch, daß das Gehör überführt ist, in bezug auf die klare Erfassung der Wahrheit hinter dem Gesichtssinn weit zurückzubleiben, da es voller Leichtfertigkeit ist. [28] 142 Das ist unserer Meinung nach der Sinn der Erzählung: Gott sei herabgestiegen, um die Stadt und den Turm zu sehen. Nicht unwichtig ist auch der Zusatz „den die Söhne der Menschen gebaut hatten“ (1 Mos. 11, 5). Es wird vielleicht einer der Unfrommen spottend sagen: der Gesetzgeber lehrt uns etwas ganz Neues,[4] daß Türme und Städte keine anderen Wesen als die Söhne der Menschen bauen! Wer weiß denn nicht, auch von den ganz Verblödeten, was so klar und augenscheinlich ist? 143 Du darfst aber nicht (annehmen), daß in den heiligen Gottessprüchen diese oberflächliche und triviale (Lehre) aufgezeichnet sei, vielmehr (ist es) der verborgene Sinn, auf welchen die deutlichen Worte hinweisen. 144 Was ist also damit gemeint? Diejenigen, welche gleichsam viele Väter der Schöpfung anerkennen und eine große Göttermenge einführen, die Dinge von einer Vielheit und Mannigfaltigkeit der Prinzipien überfluten lassen und der Lust das höchste Lebensziel zuweisen, werden, um die Wahrheit zu sagen, Gründer der genannten Stadt und ihrer Burg, indem sie die Mittel zu diesem Ziel einem Bau gleich vergrößern. Sie unterscheiden sich meines Erachtens in nichten von der Brut der Dirne,[5] die das Gesetz von der göttlichen


  1. Vgl. die Anm. zu Über die Einzelges. IV § 61. Nach Cohn zur Ausg. dieser Stelle ist hier wohl ἀκοήν statt ἀκοῇ zu lesen.
  2. Zu dem bei Philo oft wiederkehrenden Gedanken, daß die Augen eine sicherere Erkenntnis gewähren als die Ohren vgl. Über die Geburt Abels § 34 nebst Anm. und des talmudische: אינה דומה שמיעה לראיה‎ (Hören gleicht nicht dem Sehen).
  3. Die LXX hat ἀκοή, was eigentlich Gehör bedeutet. Zur Übers. der LXX vgl. die Anm. zu Über die Einzelges. IV § 59.
  4. Statt der verdorbenen Worte ἅμα καινόν ist vielleicht ἀναγκαῖον (eine höchst notwendige Belehrung erteilt) zu lesen. I. H.
  5. Philo übersetzt also: Söhne vieler Menschen, d. h. solche, die nicht nur einen einzigen Vater anerkennen. Vgl. De mut. nom. § 205 und namentlich Über die Einzelges. I § 332ff. und Anm.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloConfGermanStein.djvu/039&oldid=- (Version vom 1.8.2018)