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Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein

aufbaute? Denn „Enoch“ heißt: „dein Geschenk“.[1] 123 Ein jeder Gottlose glaubt nämlich, daß sein eigener Geist ihm die Vorstellungen und Gedanken gewähre; die Augen aber das Sehen, die Ohren das Hören, die Nasenlöcher das Riechen, sowie die anderen Sinneswerkzeuge, was ihnen zukommt, sodann das Sprachorgan das Sprechen; dagegen Gott entweder überhaupt nicht, oder nicht als der Urgrund (dies gewähre). 124 Und darum speichert er die Erstlinge seiner Landwirtschaft selbst auf, wie es auch heißt, daß er nur nach einer gewissen Zeit Gott Früchte opferte,[2] wiewohl er ein gutes Beispiel vor sich hatte. Denn sein Bruder opfert das Erstgeborene, nicht aber die zweite Frucht der Herde,[3] da er einsieht, daß die ersten Ursachen im allerersten Urheber enthalten seien. 125 Der Gottlose aber ist der entgegengesetzten Ansicht: der Geist sei selbständig in seinen Erwägungen und die Sinnlichkeit selbständig in ihrer Wahrnehmung; denn ihr Urteil – sowohl dieser über die Körper, als auch jenes über alles – sei untrüglich und einwandfrei. 126 Gibt es aber etwas, [424 M.] was größeren Tadel verdient oder von der Wahrheit stärker widerlegt wird? Oder wird nicht der Geist oft in vielen Dingen als wahnwitzig überführt, und werden nicht sämtliche Wahrnehmungen des falschen Zeugnisses schuldig befunden, nicht vor unvernünftigen Richtern, die sich freilich irren können, sondern vor dem Richterstuhl der Natur selbst, der die Bestechlichkeit fremd ist? 127 Und da eben die Erkenntnismittel des Geistes wie der Sinnlichkeit, soweit es auf uns selbst ankommt, versagen, muß man folgerichtig zugeben, daß Gott jenem die Gedanken und dieser die Vorstellungen zuströmen läßt,[4] und daß das Gewordene kein Geschenk unserer Organe, sondern, daß alles eine Gabe dessen sei, durch den auch wir erschaffen sind. [26] 128 Da die Söhne vom Vater die Selbstgefälligkeit geerbt haben, streben sie danach, diese bis in den Himmel emporwachsen zu lassen; endlich erscheint die Gerechtigkeit, die Freundin der Tugend und


  1. Etymologie: חן‎, Suffix ךְ‎. Vgl. Über die Nachkommen Kains § 36; Über Abraham § 17.
  2. „Und es geschah nach Tagen, daß Kain von den Früchten des Ackers Gott ein Opfer brachte“ (1 Mos. 4, 3). Daraus wird ihm der zweifache Vorwurf gemacht, daß er saumselig war, und daß er nicht die Erstlinge opferte. Siehe Über die Geburt Abels § 52f.
  3. 1 Mos. 4, 4.
  4. Eigentlich: zuregnen, durch den Regen zusenden. Zum Ausdruck vgl. Alleg. Erkl. I § 29.
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Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloConfGermanStein.djvu/035&oldid=- (Version vom 1.8.2018)