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Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein

von Natur wilden Schwarm der Leidenschaften an, sich durch dauernde Übung unüberwindbar zu machen. 111 Der Geist ruft also diese Genossen und sagt: „wir wollen eine Stadt bauen“ (1 Mos. 11, 4), was soviel bedeutet als: wir wollen unsere Eigenart befestigen und stark verschanzen, damit wir nicht leicht von den Anstürmenden überwunden werden; wir wollen sämtliche Seelenkräfte gleichsam in Gemeinden und Gaue scheiden und einteilen, die einen dem vernünftigen, die anderen dem vernunftlosen Teile zuweisen. 112 Wir wollen Beamte wählen, die es verstehen, Reichtum, Ruhm, Ehre, Genuß von überall zu schaffen;[1] wir wollen Gesetze schreiben, die die Gerechtigkeit, die Ursache der Armut und Ruhmlosigkeit, beseitigen, und die die dem Besseren zukommende Begünstigung denjenigen sichern, die es immer vermögen, mehr als die anderen an sich zu reißen.[2] 113 „Ein Turm“ sei wie eine Zwingburg dem [422 M.] Tyrannen, der Untugend, als feste königliche Residenz errichtet, deren Grundlage die Erde berühre, die Spitze aber den Himmel erreiche, indem sie solche Höhe durch Großprahlerei erreicht.[3] 114 Denn in der Tat bleibt sie (die Untugend) nicht bei den Sünden gegen die Menschen allein stehen, vielmehr wagt sie sich auch an das Olympische,[4] Worte der Unfrömmigkeit und der Gottlosigkeit schleudernd, indem sie behauptet, daß die Gottheit nicht existiere, oder daß sie zwar existiere, jedoch sich nicht (um die Welt) kümmere, oder daß die Welt keinen Anfang ihres Entstehens habe,[5] oder daß sie zwar entstanden sei, aber nicht nach bestimmten Gesetzen, sondern wie es der Zufall mit sich bringt sich bewege, manchmal verkehrt, manchmal regelrecht, wie es sich mit Schiffen und Viergespannen verhält: 115 denn es kommt oft vor, daß auch ohne Wagenlenker und ohne Steuermann die Fahrt (des Schiffes) und der Lauf


  1. Zur Übersetzung vgl. Wendland, Rhein. Mus, 57, S. 24.
  2. Anspielung auf die namentlich aus Platos Gorgias bekannte Lehre vom Übermenschen.
  3. Vgl. Über die Nachkommen Kains § 53.
  4. „Olympisch“ bei Ph. im Sinne von: himmlisch, göttlich. So spricht auch Ph. von olympischer Liebe = Liebe zu Gott Über die Unveränderlichkeit Gottes § 138; vgl. Über die Landwirtschaft § 119, Über die Pflanzung Noahs § 71 nebst Anmerkung.
  5. Die Annahme, die Welt sei unerschaffen, bezeichnet Ph. (Über die Weltschöpfung § 9) als Gottlosigkeit, weil sie die Vorsehung aufhebt. Mit allen hier angeführten Ansichten setzt sich Philo in seiner Schrift über die Vorsehung auseinander, zu welcher Wendland alles quellenkritisch Wichtige bemerkt hat.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloConfGermanStein.djvu/032&oldid=- (Version vom 1.8.2018)