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Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein

[23] 107 Den Worten „wohlan, wir wollen uns eine Stadt bauen und einen Turm, dessen Spitze bis an den Himmel reicht“ (1 Mos. 11, 4)[1] liegt folgender Sinn zugrunde: unter Städten versteht der Gesetzgeber nicht nur die auf der Erde gegründeten, deren Baumaterial Stein und Holz bilden, sondern auch solche, die die Menschen in ihren Seelen errichten und herumtragen.[2] 108 Diese sind natürlich die Urbilder, da sie göttlicher gestaltet sind, jene aber sind die Nachahmungen, da sie aus vergänglichem Stoff bestehen. Zweierlei Städte aber gibt es, eine bessere und eine schlechtere Art; die bessere ist diejenige, die sich auf eine die Gleichheit achtende Volksherrschaft stützt, in der Recht und Gerechtigkeit die Herrschaft führen –,[3] denn diese (die Gerechtigkeit) ist die Begleiterin Gottes –;[4] die schlechtere aber, welche wie eine unecht geprägte Münze jene verfälscht,[5] ist die Pöbelherrschaft, in welcher die Ungleichheit bewundert wird, und Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit die herrschende Gewalt haben. 109 In die Liste des ersteren Staates[6] tragen sich die Edlen ein, dagegen steht jene schlechtere (Verfassung) der Menge der Gemeinen gut,[7] die die Unordnung mehr als die Ordnung, das Wirrsal mehr als die feststehende Staatseinrichtung liebt. 110 Da der Unvernünftige mit seiner eigenen Person sich nicht begnügt, hält er es für angemessen, Helfer zum Freveln heranzuziehen. Er ermahnt das Gesicht und das Gehör, er ruft die ganze Sinnlichkeit herbei, sich ihm unweigerlich anzuschließen und all das zu leisten, was zum Dienste eines jeden gehört. Ja, er treibt auch und eifert den anderen,


  1. Vgl. Über die Nachkommen Kains § 33,
  2. Die Umdeutung ist dadurch vorbereitet, daß der Grieche bei πόλις weniger an den geographischen Begriff der Stadt als an den politischen des Staates denkt und daß der Vergleich des Staates und seines Aufbaus mit der Seele seit Platon dem Griechen geläufig ist.
  3. Die Volksherrschaft (δημοκρατία) ist nach Philo die beste Staatsverfassung. Vgl. Über die Unveränderlichkeit Gottes § 176; Über die Landwirtschaft § 45; Über Abr. § 242; Über die Einzelges. 237; Über die Tugenden § 180.
  4. Nach Wendlands Konj. θεοῦ δὲ ὀπαδός; so bezeichnet Ph. öfters die Gerechtigkeit (Δίκη); vgl. § 118.
  5. Zu dem von Philo oft gebrauchten Bilde von der falschen Münze vgl. Anm. zu Über die Nachkommen Kains § 89; Über die Unveränderlichkeit Gottes § 105.
  6. Wörtlich: der ersteren (Verfassung) ...
  7. Das Bild von einem gutanliegenden Kleide ist bei Ph. häufig. Konjektur überflüssig.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 129. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloConfGermanStein.djvu/031&oldid=- (Version vom 1.8.2018)