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Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein

Sprache der Hebräer Senaar, der Hellenen aber Erschütterung.[1] 69 Denn erregt, getrübt und erschüttert ist das ganze Leben der Schlechten, ist immer in Aufruhr und Verwirrung und enthält keine Spur des wahrhaft Guten in sich. Denn ebenso wie es bei den Dingen, die eine Erschütterung erfahren haben, der Fall ist, daß alles was nicht durch Vereinigung zusammengehalten wird,[2] auseinanderfällt, scheint mir die Seele dessen, der dem Unrechttun beipflichtet, erschüttert zu sein. Denn er legt jede Form der Tugend ab, sodaß weder ihr Schatten noch ihr Abbild in irgendwelcher Weise in Erscheinung tritt.“ [16] 70 Das den Leib liebende Volk der Ägypter[3] ist es eben; von dem gesagt wird, daß es nicht vom Wasser, sondern „unter das Wasser“,[4] d. h.: unter den Strom der Leidenschaften flieht; und als es unter die (Macht der) Leidenschaften sich geflüchtet hat, gerät es in Erschütterung und Aufruhr, indem es das Gleichgewicht und die Ruhe der Tugend verwirft und das Wirrnis der Schlechtigkeit an sich zieht. Denn es heißt: „er erschütterte[5] die Ägypter in der Mitte des Meeres, die unter das Wasser flohen“ (2 Mos. 14, 27). 71 Das sind jene, die nicht einmal den Joseph, den bunten Dünkel des Lebens kennen,[6] sondern verüben die Laster öffentlich und bewahren keine Spur, keinen Schatten, keinen Anschein der Rechtschaffenheit. 72 „Es kam auf“ – heißt es nämlich –, „ein anderer König über Ägypten“, der nicht einmal das letzte und jüngste[7] sinnliche Gut „den Joseph kannte“ (2 Mos. 1, 8);[8] dieser wollte nicht nur die Vollkommenheit, sondern auch den Fortschritt, und nicht nur die Klarheit (der unmittelbaren Erkenntnis), welche durch das Schauen, sondern auch das Lernen, das durch das


  1. שנער‎ = שנוער‎ was abschüttelt, erschüttert.
  2. Nach einer stoischen (zuletzt von Reinhardt, Kosmos und Sympathie 34ff. behandelten) Einteilung können Einheiten gebildet werden aus Getrenntem (z. B. ein Heer), aus Zusammenhängendem (eine Kette) oder Einheitlichem (ein Tier). Die beiden ersten Gruppen, meint Philo, können bei Erschütterung zerfallen.
  3. Vgl. oben § 30 und Anm.
  4. Die LXX hat für לקראתוin 2 Mos. 14, 27 ὑπὸ τὸ ὕδωρ.
  5. Gemeint ist: „er stürzte in das Meer“; doch s. das Vorherg.
  6. Das bunte Gewand Josephs (1 Mos. 37, 3) ist bei Ph. ein Sinnbild der bunten und schillernden, daher weltlichen Ansichten. Vgl. Über die Nachstellungen § 28; deshalb liebt auch Joseph die Außengüter und den Luxus (De somn. II § 47).
  7. In νεώτατον liegt eine Anspielung an 1 Mos. 37, 2 ὢν νέος. Ebenso heißt es von Joseph Alleg. Erkl. III § 242 νέος τε γάρ ἐστι.
  8. Der König von Ägypten als Symbol des der Sinnlichkeit verfallenen Geistes wird Balak = Unvernunft (ob. § 65) gleichgestellt.
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Verwirrung der Sprachen (De confusione linguarum) übersetzt von Edmund Stein. H. & M. Marcus, Breslau 1929, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloConfGermanStein.djvu/022&oldid=- (Version vom 1.8.2018)