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noch nicht, beim Verstorbenen nicht mehr vorhanden ist. Daraus ergibt sich, daß ein Vergleich des Todes etwa mit dem Schlaf höchst irreführend ist, viel besser läßt sich der Tod mit einem eben neugeborenen Kinde vergleichen –, noch besser aber mit dem eben empfangenen Kinde im Mutterleibe. Ehe das Kind empfangen wurde, bestand es bereits im Reiche des Möglichen. In der Empfängnis verläßt es dieses Reich u. tritt ins Reich der Wirklichkeit ein. Wenn nun, was nicht zu bestreiten ist, alle Wirklichkeit eine Verkümmerung des Möglichen ist, so ergibt sich, daß ein Kind mit fortschreitendem Bewußtsein sich immer mehr vom nur Möglichen entfernt, d.h. immer mehr verkümmert. Diese Verkümmerung ist der furchtbare Preis, der für das allmähliche Begreifen dieser Welt u. für das Wachsen des Bewußtseins bezahlt werden muß. Daher kommt es, daß ein alter Mensch wie ich die Fragwürdigkeit dieses Begreifens immer mehr einsieht u. sich infolgedessen nach dem Tode sehnt. Der Tod ist eine Rückkehr in das große u. freie Reich der Möglichkeiten, aus dem wir gekommen sind u. das wir verließen, um diese Wirklichkeit zu be=greifen. – Freilich ist im Zustande des Todes eben garkein Bewußtsein mehr –, es gibt dort nicht das von Goethe gepriesene Glück der Erdenkinder, die Persönlichkeit. Dennoch muß notwendig irgend ein Unterschied sein zwischen jener Möglichkeit, aus der das Kind mit der Geburt heraustritt, und jener anderen Möglichkeit, in die man im Tode wieder eintritt. Wäre da kein Unterschied, dann wäre das Ganze absolut sinnlos u. das ist schlechterdings nicht zu denken. Alles hat einen Zweck, auch das Leben u. das Be=greifen des Wirklichen. Es wäre allerdings auch denkbar, daß dieser Zweck nur auf der Seite des Wirklichen liegen könnte, indem das menschliche Leben ja tatsächlich diese Wirklichkeit sehr verändert, vergeistigt. Dann wäre freilich das Leben im Reiche der Möglichkeiten gewissermaßen die große, zentrale Energie, die Kraftguelle, die den langsamen Vergeistigungsprozeß, der Materie bewirkt. Diese Energiezentrale wäre dann selbst, ein Zweck. Geburt u. Leben hätten dann den Zweck der langsamen Vergeistigung, der Materie u. das Leben in der Möglichkeit brauchte selbst nicht eine Veränderung zu erfahren, es wäre nur das Mittel durch welches die Vergeistigung bewirkt wird. So ähnlich könnte man von der Sonne sagen, daß sie nur den Zweck hätte, auf der Erde Leben hervorzurufen, wodurch sie selbst aber für sich garnichts profitiert. Nun hat aber die Sonne außer dem Zweck, Lebenspenderin auf der Erde zu sein, doch noch sehr viel andere Zwecke, die wahrscheinlich sehr viel bedeutender sind als das Wachstum auf der Erde zu fördern. Sie hat

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Hans Brass: TBHB 1953-03-03. , 1953, Seite 002. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1953-03-03_002.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2024)