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Sonntag, d. 22. Apr. 1945.     

     Heute schreibe ich zum ersten Male nicht mehr an Fritz, denn es hat keinen Zweck mehr. Heute früh um 4 Uhr hörte ich, daß die Russen unmittelbar vor Berlin stehen, u. zwar im Osten + im Süden. Es wird bereits in den Vororten gekämpft. Es heißt, daß bewaffnete Arbeiter in der Gegend Warschauer Brücke zum Aufruhr übergegangen seien. Polizeitruppen sind dagegen eingesetzt worden, doch sollen diese dann wieder zurückgezogen worden sein, wahrscheinlich, weil sie, wie ich annehme, sich geweigert haben werden, zu schießen. In Berlin u. überhaupt an der Ostfront sollen zahlreiche deutsche Offiziere, die sich bisher in russ. Kriegsgefangenschaft befanden, mit Fallschirm abgesetzt worden sein. Sie tragen ihre deutschen Uniformen u. organisieren den Widerstand gegen die Regierung. Weiter nördlich, besonders im Raume östl. Dresden sind die Russen ebenfalls mit starken Kräften vorgestoßen u. stehen dicht vor Dresden sodaß eine Vereinigung mit den Amerikanern jetzt stündlich zu erwarten ist. Damit ist praktisch die Verbindung zwischen Nord + Süd unterbrochen. Für uns hier oben ist besonders wichtig, daß die Russen südl. Stettin die Oder überschritten haben. Man kann nun Wetten abschließen, wer zuerst hier bei uns sein wird, die Russen oder die Engländer. Die Engländer + Amerikaner müssen wohl erst ihren Nachschub organisieren, der schwierig sein muß, weil das Ruhrbecken die Hauptstraßen u. Eisenbahnen blockiert hat. Aber dieses Becken ist nun liquidiert. Im Süden sind die Amerikaner weiter vorgestoßen in den Schwarzwald hinein. Sie werden dort alles abschneiden, was noch am Oberrhein steht, also auch Fritz. Möge Gott ihn schützen. Eine Landung im Norden ist immer noch nicht erfolgt. –

     Gestern hat Kapitänlt. Dr. Krappmann seine Frau u. seine Kinder u. seine ganzen Habseligkeiten mit einem Lastauto von Bachmann abtransportieren lassen, irgendohin zwischen Kiel u. Lübeck. Er selbst ist gestern angeblich dienstlich nach Dänemark gefahren. Frl. Regina Treffer, die Nachrichten-Helferin, die heute wie meist in der Andacht war, erzählte, daß alle Helferinnen entlassen werden sollen; da aber alle ausgebombt sind u. ihre Familien irgendwo als Flüchtlinge leben, wissen sie nicht, wohin sie sollen. Von den Vorgesetzten sagte sie: „die reißen ja alle nach Dänemark aus“. Das ist der Eindruck, den die Leute haben, wenn ihre Offiziere jetzt plötzlich dienstlich in Dänemark zu tun haben. Immerhin wäre es ganz gut so, denn wenn die Soldaten führerlos sind, werden sie nicht kämpfen u. das wäre das Beste.

     Man kommt sich vor wie in einer Irrenanstalt, wenn man angesichts dieser Lage ausgerechnet gestern im Rost. Anzeiger die Rede von Dr. Goebbels zum Geburtstage des Führers liest u. die Wirkung beobachtet, die diese Rede auf einen Teil der Volksgenossen gemacht hat. Anstatt in schallendes Gelächter auszubrechen oder in empörte Wut, laufen die Weiber herum mit glänzenden Augen u. schwärmen wie brünstige Backfische von unserem Führer. „Die Frau des Bürger= u. Malermeisters“ Emil Gräff tut sich darin am lautesten hervor. Ich habe seit 1933 gelernt, daß dieses Volk wirklich unerlaubt dumm ist, aber wie dumm es ist, das sieht man erst heute.

     Gestern Nachmittag erschien ein etwas merkwürdiger,

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Hans Brass: TBHB 1945-04-22. , 1945, Seite 001. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:HansBrassTagebuch_1945-04-22_001.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2024)