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Friedrich von Bodenstedt: Die poetische Ukraine. Eine Sammlung kleinrussischer Volkslieder

Und das große Drama, wovon wir eben einige Züge angedeutet, ist in dem Zeitraum von fünfhundert Jahren gespielt! – Diese fünf Jahrhunderte sind wie ein einziger Augenblick dahingeschwunden; als Resultat ihrer Existenz ist uns ein Volk geblieben, das, obwohl nicht mehr, was es gewesen, doch sein eigenthümliches Gepräge und seine Nationalität bewahrt hat.

Die Sonne seines Ruhms ist untergegangen, aber Erinnerung steigt auf in seinen Liedern, gleich dem bleichen Monde in warmer Sommernacht: ein Nachglanz der Herrlichkeit des Tages, der gewesen.

Die Lieder des Volkes der Ukraine leben fort von Geschlecht zu Geschlecht, und erzählen den Kindern von den Thaten der Väter. Und in keinem Lande hat der Baum der Volkspoesie so herrliche Früchte getragen, nirgends hat sich der Geist des Volks so lebendig und wahr in seinen Liedern ausgeprägt, wie bei den Kleinrussen.

Welch ein ergreifender Geist der Wehmuth, welch tiefe, ächt menschliche Gefühle sprechen sich in den Liedern aus, die der Kosack in der Fremde singt. Welch eine Zartheit, mit männlicher Kraft gepaart, durchweht seine Gesänge der Liebe. Noch ist der Takt und die Züchtigkeit des Gefühles, das in allen vorherrscht, besonders hervorzuheben. Unter allen kleinrussischen Volksliedern – und es giebt ihrer tausende! – ist keines, vor welchem die jungfräulichste Wange zu erröthen brauchte.

Man muß in der That annehmen, daß ein Volk, welches solche Lieder singen und Geschmack daran finden

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Friedrich von Bodenstedt: Die poetische Ukraine. Eine Sammlung kleinrussischer Volkslieder. J. G. Cotta, Stuttgart u. Tübingen 1845, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_poetische_Ukraine_(1845).pdf/37&oldid=- (Version vom 19.12.2022)