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Fredrika Bremer: Die Heimath in der neuen Welt, Erster Band

wahres Genie und entzückte mich. Welche Wärme und welche Originalität, welcher Reichthum an neuen Wendungen, an poetischen Gemälden! Er muß wahrhaftig geistig Todte erwecken können. Einmal, just als er von dem bösen und lasterhaften Mann in seinem Zustand sprach, unterbrach er sich und begann einen Frühlingsmorgen auf dem Lande zu beschreiben, die Schönheit der Gegend, die Ruhe, den Duft, den Thau auf Gras und Laub, den Aufgang der Sonne; und dann kam er zu dem bösen Mann zurück und stellte ihm diese Naturherrlichkeit vor; aber „der Unglückselige! er kann sie nicht genießen!“ Ein andermal, so erzählte man mir, kam er in seine Kirche mit einem Ausdruck tiefer Bekümmerniß, mit niedergebeugtem Haupte und ohne wie gewöhnlich nach rechts und links zu sehen, (notabene, er muß durch die Kirche gehen, um auf die Kanzel zu gelangen), und, wie er zu thun pflegte, seinen Freunden und Bekannten freundlich zuzunicken. Und Alle wunderten sich, was an Vater Taylor sein möchte. Er trat auf die Kanzel, und da beugte er sich nieder, indem er im Tone tiefster Betrübniß aufrief: „Der Herr erbarme sich über uns, denn wir sind eine Wittwe.“ Und er zeigte auf einen Sarg, den er unter der Kanzel auf den Gang hatte stellen lassen. Einer der Matrosen aus der Gemeinde war vor Kurzem gestorben und hatte sein Weib nebst mehreren kleinen Kindern ohne alle Versorgungsmittel hinterlassen. Vater Taylor erklärte sich und die Versammlung jetzt als eins mit der Wittwe und schilderte ihren Kummer und Zustand, ihre traurigen Aussichten so ergreifend, daß die Gemeinde nach der Versammlung wie ein Mann aufstand und der Wittwe Geschenke brachte, die ihr auf einmal aus der Noth halfen. Wahrhaftig, unsere ihr Concept ablesende und kalt moralisirende Geistliche sollten von Vater Taylor lernen, wie man die Seele rühren und hinreißen muß. Nach der Predigt wurde

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Fredrika Bremer: Die Heimath in der neuen Welt, Erster Band. Franckh, Stuttgart 1854, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Heimath_in_der_neuen_Welt,_Erster_Band.djvu/256&oldid=- (Version vom 9.9.2019)