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Fredrika Bremer: Die Heimath in der neuen Welt, Erster Band

Abend, wo Channing seinen improvisirten Vortrag hielt, oben an. Es war für mich ein wahres geistiges Fest. Er stellte die Idee von einem persönlichen Gott, dem Gott des Christenthums, auf, im Gegensatz zu dem Ueberall und Nirgends des Pantheismus; er entwickelte die aus der göttlichen Persönlichkeit hervorgehende Pflichtenlehre, Gesellschaftslehre, Schönheitslehre, Unsterblichkeitslehre als für jeden Menschen und jede menschliche Gesellschaft geltend, und wies nach, wie blos auf diesem Grund christlicher Socialismus oder christliche Gesellschaftlichkeit Bestand haben und die Menschheit zu ihrem höchsten Ziel führen könne. Channing unterbrach sich nicht ein einzigesmal, wiederholte nicht ein einziges Wort bei diesem Vortrag, der von einer gleichmäßigen Eingebung getragen mit hinreißender Wärme ohne Uebertreibung, ohne Leidenschaft ausgeführt wurde, niemals gegen das Schönheitsgesetz verstieß und in seiner Polemik auch niemals das Gesetz der Gutherzigkeit verletzte. Nur einmal sagte er mit etwas schärferer Betonung: „Die Person, welche den Dualismus der Menschennatur nicht in sich gewahr geworden ist, die nicht mit einem niedrigeren Selbst gekämpft hat, steht entweder außer der Menschheit, oder ist sie tief zu beklagen.“

Der Saal war ganz voll von Leuten und die tiefste Aufmerksamkeit waltete vor. Nach dem Schluß der Rede schloß sich ein Kreis glückwünschender Freunde um Channing. Ich sah auch den Redner des früheren Abends M. H. James zu Channing gehen und freundlich die Hand auf seine Schulter legen, indem er sagte: „Sie haben mir Unrecht gethan, Sie haben mich mißverstanden.“ Er war blaß und schien aufgeregt zu sein, aber vollkommen gut. Ich war an diesem Abend mit Channing allein in einem kleinen Wagen von Brooklyn nach New-York gefahren, und hatte bemerkt, wie er dabei seine Gedanken zerstreuen und sie mit Gegenständen beschäftigen zu wollen schien, die dem Vortrag ganz fremd waren.

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Fredrika Bremer: Die Heimath in der neuen Welt, Erster Band. Franckh, Stuttgart 1854, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Heimath_in_der_neuen_Welt,_Erster_Band.djvu/131&oldid=- (Version vom 6.7.2019)