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Fredrika Bremer: Die Heimath in der neuen Welt, Erster Band

Unitarier, von der dürftigsten Sorte. Abends fuhren wir nach New-York, um Channing zu hören. Es ist immer ein solches Gedränge und eine solche Rührigkeit auf der New-Yorker Seite des „East River,“ daß es mir zu Muthe ist, als müßte man für Leib und Leben kämpfen. Gleichwohl soll höchst selten ein Unglück vorkommen. Ich freute mich ungemein Channing[WS 1] hören zu dürfen, dessen ungewöhnliches Talent als Stegreifredner ich so sehr preisen hörte. Der Saal, wo der Vortrag gehalten werden sollte, mochte ungefähr 500 Personen fassen und war ganz voll. Er war wie ein Amphitheater gebaut in schmalem Halbkreis. Channing kam herein und begann damit, daß er sich in einem Gebet sammelte, obwohl stehend und gegen die Gemeinde gewandt. Sodann sprach er zu ihr, aber mit gesenkten Blicken und in einer abgerissenen, beinahe leblosen Art. Das Thema, das er die Versammlung mit ihm zu überlegen bat, war die Gemeinschaft der Heiligen; einige schöne Andeutungen kamen vor, aber das Ganze war so ohne tieferen Zusammenhang, ohne Entwicklung, und würde so ohne Leben und Wärme vorgetragen, daß ich mich höchlich verwunderte. Ist das, dachte ich, amerikanische Beredsamkeit? Ist das der geniale Redner, den ich so oft preisen hörte? Und diese gesenkten Blicke, diese Unbeweglichkeit, woher kommt das? Aber jetzt hörte ich Rebekka ihrem Manne zuflüstern: „Was ist doch an Channing? Sollte er unwohl sein? Er gleicht sich gar nicht.“ Das tröstete mich, denn ich vernahm, daß dieser Zustand bei Channing etwas Ungewöhnliches war. Er war sich wirklich nicht gleich. Der begeisterte Ausdruck, den ich so oft bei ihm gesehen hatte, war verschwunden. Ein paarmal hielt er an, und schien sich sammeln zu wollen, aber die Rede wollte dennoch keinen Fortgang nehmen. Es war peinlich dies anzusehen. Endlich schloß Channing seinen Vortrag. Und jetzt trat er mit einer feinen, beinahe hektischen Röthe auf seinen Wangen ein paar Schritte vor und

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  1. Vorlage: Canning
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Fredrika Bremer: Die Heimath in der neuen Welt, Erster Band. Franckh, Stuttgart 1854, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Heimath_in_der_neuen_Welt,_Erster_Band.djvu/113&oldid=- (Version vom 6.7.2019)