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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

im Jahre 1882, dann aber vier weitere in rascher Aufeinanderfolge innerhalb der zwei Jahre 1888 und 1889: ein Sohn Arthur, drei Monate alt, im Januar 1888; im November desselben Jahres eine Tochter Erna im Alter vom vier Jahren; endlich am 29. Januar 1889 der nur sechs Tage alte Georg und in der Nacht vom 19. auf den 20. April die schon neunjährige Tochter Else. Gleichzeitig mit ihr war auch die ältere Schwester Fanny erkrankt, aber wieder genesen.

Diese Häufung von Krankheits- und Todesfällen in derselben Familie erregte die öffentliche Aufmerksamkeit, und man schöpfte umsomehr Verdacht, als die äußeren Verhältnisse der Eheleute derart bescheidene waren, daß sie eine so großes Anzahl von Kindern wohl als eine schwerdrückende Last empfinden konnten.

Fanny und Else waren am 15. April 1889, dem Tag nach Palmsonntag, nach dem zu Hause eingenommenen gemeinsamen Mittagsmahl auf ein nahe bei Jena gelegenes Dorf zum Besuche einer befreundeten Wirthsfamlie gegangen und hatten dort Semmeln, Milch, Kuchen und Weißbier genossen. Schon auf dem abendlichen Heimgange war es dem einen der beiden Kinder übel geworden. Beim häuslichen Abendessen fehlte ihnen der Appetit und sie mußten sich erbrechen. Nach vier Tagen starb Else, während Fanny, wie erwähnt, wieder gesund wurde. Schon die während der Krankheit hervortretenden Anzeichen – Gelbsucht, Leberanschwellung, Herzschwäche – ließen für die behandelnden Aerzte die Möglichkeit einer Phosphorvergiftung zu. Es wurde Untersuchung gegen die Eltern eingeleitet, und man ließ die Leichen der Else und der drei letztgestorbenen Kinder wieder ausgraben, da ähnliche Erscheinungen auch die Krankheit der andern Kinder begleitet hatten. Der Befund legte für die Gerichtsärzte die Annahme nahe, daß der Tod der Kinder durch Einführung von Gift (Phosphor oder Arsenik) verursacht war. Beide Ehegatten wurden nunmehr verhaftet. Die chemische Untersuchung durch den Professor Dr. R. ergab für diesen, daß in dem Körper der zuletzt verstorbenen Else Phosphor in der Form von Phosphorsäure ziemlich reichlich vorhanden war, wenn auch nicht so viel, daß es zur Bestimmung der Menge des substantiellen Phosphors ausgereicht hätte. Auf dies hin gaben die Gerichtsärzte ihr Gutachten dahin ab, daß der Tod der Tochter Else der Einwirkung von Phosphor zuzuschreiben sei. Die Staatsanwaltschaft konnte sich indeß nach Abwägung der vorliegenden Verdachtsgründe nicht entschließen, förmliche Anklage gegen die Ottoschen Eheleute zu erheben. Sie gab vielmehr nach Schluß der Voruntersuchung das weitere der Strafkammer anheim, und diese beschloß, das Hauptverfahren gegen die Angeschuldigten zu eröffnen wegen dringenden Verdachts, daß sie ihre Tochter Else durch Phosphor vorsätzlich und mit Ueberlegung getödtet und in gleicher Weise die Tödtung der wiedergenesenen Fanny versucht hätten. Der hiernächst zur Begutachtung des Falls aufgeforderte Geheime Medizinalrath Liman in Berlin, ein bedeutender Fachgelehrter, erklärte, daß nach dem Leichenbefunde Erscheinungen, welche auf eine Vergiftung zu schließen berechtigten, nicht vorhanden gewesen seien und es überhaupt eine bedenkliche Sache sei, nach drei Monaten noch die Anwesenheit von Phosphor feststellen zu wollen, wenigstens mit dem Mitscherlichschen, von Professor R. angewandten Apparate. Es wurde infolgedessen auf Antrag der Vertheidigung noch der in gerichtlich-chemischen Untersuchungen hocherfahrene Chemiker Dr. Bischoff aus Berlin in der Hauptverhandlung vor dem Schwurgerichte vernommen. Derselbe erklärte, es sei die von Professor R. angewandte Prüfungsmethode (nach Mitscherlich), nicht einwandsfrei. In neuerer Zeit werde die Methode Dusart-Blondlot angewandt, welche allein zuverlässige Ergebnisse gewähre. Es rechtfertige sich daher keinesfalls der sichere Schluß, daß freier Phosphyr bei Lebzeiten der Else in deren Körper eingeführt worden sei, da die vorgefundene geringe Menge von Phosphor in Substanz wohl von den aus der Phosphorsäure gebildeten Krystallen herrühren könne. Phosphorsäure finde sich aber in normaler Weise im thierischen Körper, besonders in den Knochen. Inzwischen hatte man auch entdeckt, daß der unter der Tapete der Kinderstube befindliche, theilweise losgelöste und abgebröckelte Anstrich des Kalkputzes der Wände in hohem Grade arsenikhaltig war. Die Verbindung des Arseniks mit der feuchten Zimmerluft konnte aber nach Angabe der Sachverständigen Arsenwasserstoff, ein äußerst scharfes Gift, erzeugt haben, durch dessen Einschlucken und Einathmen chronische Arsenikvergiftung herheigeführt worden sein könne.

Diese neuen Gutachten vernichteten die ganze Unterlage, auf welcher die Anklage sich aufgebaut hatte. Es wurde sogar für unnöthig gehalten, noch weitere Beweise zu erheben, vielmehr erfolgte auf Antrag der Staatsanwaltschaft die alsbaldige Freisprechung der Angeklagten von der furchtbaren Beschuldigung, unter deren Druck sie fünf Monate, größtentheils im Gefängniß, gelebt hatten. Alle übrigen Beweismittel für ihre Schuld waren in der That so schwach, daß sie jetzt alle selbständige Bedeutung verloren. Mochte den Angeschuldigten auch die große Anzahl ihrer Kinder manche Sorge bereiten, so hatten sie doch deren Pflege nie wesentlich verabsäumt, namentlich es nie unterlassen, bei den zahlreichen Krankheiten derselben ärztliche Hilfe rechtzeitig zur Stelle zu rufen. Ein in der Behandlung von Kinderkrankheiten besonders erfahrener Arzt war ihr ständiger Berather. Verdächtig war nur die von ihnen nicht bestrittene einmalige Anschaffung von Phosphorbrei zur Vertilgung von Ratten, aber eine solche Verwendung hatte in der That stattgefunden. –

Auch die Frage, ob bei einem ungewöhnlichen Todesfalle Mord oder Selbstmord vorliege, unterliegt zunächst und in den meisten Fällen der Entscheidung des Arztes. Ihre Beantwortung ist nicht immer so leicht, wie man glauben möchte. So war in dem Rechtsfalle des Dienstknechtes Loth, den wir im Jahrgange 1887 der „Gartenlaube“, S. 345, näher geschildert haben, die Verurtheilung auf die Annahme der Gerichtsärzte gegründet, daß der todt aufgefundene Zorn von dritter Hand und zwar durch drei auf ihn abgegebene Schüsse getödtet worden sei, wogegen durch drei andere Aerzte in dem Wiederaufnahmeverfahren überzeugend festgestellt wurde, daß die beiden ersten Schüsse von Zorn selbst herrührten, während erst der dritte Schuß von fremder Hand abgefeuert war, durch welches Gutachten die ganze Sachlage verändert wurde.[1]

Ein ähnlich zugespitzter Fall war der folgende.

Der Maschinenbauer Carl Schmidt zeigte der Ortspolizei von N. an, daß sein Vater, der alte Auszügler Schmidt, sich in seiner Wohnstube erschossen habe. Bei der Besichtigung der Leiche fand sich eine Schußwunde an der rechten Schläfe, welche offenbar mit dem neben der Leiche liegenden Terzerol beigebracht worden war, die Annahme eines Selbstmordes schien also gerechtfertigt zu sein. Nun fand sich jedoch gleichzeitig eine Wunde am Hinterkopfe vor, welche dem Anscheine nach von einem scharfen Instrumente herrührte, das mit solcher Wucht geführt worden sein mußte, daß es die Hirnschale zertrümmert hatte. Diese ebenfalls tödliche Verwundung konnte sich Schmidt nicht selbst beigebracht haben. Dieselbe müßte also wohl von einem Dritten herrühren, und dieser Dritte, so konnte man weiter schließen, hatte, nachdem er den alten Mann vielleicht nicht mit Absicht und Ueberlegung, sondern im Streit und in der Erregung getödtet hatte, nunmehr den Todten oder Sterbenden mit einem Terzerol in die Schläfe geschossen und das Terzerol ihm dann nur in die Hand gedrückt, um den Anschein zu erwecken, als ob er sich selbst erschossen habe. Für diese Annahme sprach sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit insofern, als der Sohn des Gemordeten sich in einer lieblosen und schadenfrohen Weise über den Tod des ihm wegen seiner Arbeitsunfähigkeit lästigen Vaters ausgesprochen hatte. Carl Schmidt wurde deshalb verhaftet, und zwar gleichzeitig mit seiner Mutter, deren Verhältniß zu ihrem Manne ebenfalls kein freundliches gewesen war. Beide betheuerten ihre Unschuld. Im Laufe der Untersuchung fand nun eine nochmalige genauere Besichtigung der Oertlichkeit statt, an welcher der Tod erfolgt war. Da bemerkte man auf einer eisenbeschlagenen Truhe die Flecken von eingetrocknetem Blute und bei näherer Untersuchung mit dem Vergrößerungsglase einzelne mit dem Blute vermischte Haare, welche unter dem Mikroskope sich als Menschenhaare erwiesen und die gleiche Farbe trugen wie das Haar des Gemordeten. Nunmehr hellte sich die Sache in der Weise auf, daß der alte Schmidt, nachdem er sich in die Schläfe geschossen, beim Umfallen mit dem Hinkerkopfe auf die scharfkantige eisenbeschlagene Truhe gestürzt war und sich so die zweite schwere Verletzung, welche man ursprünglich für die erste gehalten, zugezogen hatte. Damit entgingen die Angeschuldigten der ihnen drohenden Verurtheilung.


  1. Der erst zum Tode verurtheilte und später freigesprochene Loth lebt jetzt als Wirthschaftsinspektor auf einem Gute bei Leipzig, hat eine Familie gegründet und genießt des besten Leumunds. Alljährlich am Tage seiner Freisprechung erstattet er seinem Retter, dem Dr. Koch in Gera, brieflich seinen Dank.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_330.jpg&oldid=- (Version vom 19.8.2023)