Die irrende Justiz und ihre Sühne (Die Gartenlaube 1887/21)

Textdaten
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Autor: Friedrich Helbig
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Titel: Die irrende Justiz und ihre Sühne
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 345–348
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Die irrende Justiz und ihre Sühne.

In unserm ersten Artikel über „Die irrende Justiz und ihre Sühne“ (in Nr. 1 des Jahrgangs 1884 der „Gartenlaube“) ist eine Anzahl Fälle zusammengestellt, in denen das richterliche Schuldig über „Verbrecher“ gesprochen wurde, deren Nichtschuld sich später herausstellte. Diese Fälle sind noch keineswegs erschöpft; sie werden auch nie erschöpft werden; denn der urtheilende Mensch bleibt, wie es in jenem Artikel hieß, dem Irrthum unerbittlich unterworfen, so lange er noch unter den Geboten der Erde steht. „Keine Institution wird ihn verbannen, nicht der Fortschritt des Wissens, noch die Klärung des Gedankens, noch die Verfeinerung des Gefühls.“ Die sich daran knüpfende Frage der Entschädigung der unschuldig Verurtheilten ist inzwischen bis an den Reichstag gekommen und hat dort den Wunsch der gesetzlichen Regelung der Entschädigungspflicht zum Beschlusse gereift. Der Bundesrath hat [346] den Erlaß eines desfallsigen Gesetzes zwar abgelehnt, die Entschädigung aber doch als eine moralische Pflicht des Staates und so gewissermaßen im Princip anerkannt.

Unter den neueren dahin einschlagenden Fällen hat die Wiederaufhebung des gegen den Dienstknecht Karl Loth von Synderstedt früher erkannten, aber nicht vollzogenen Todesurteils durch das Schwurgericht in Gera eine ganz besondere Bedeutung erlangt. Diese Bedeutung ist namentlich darin begründet, daß Juristen, Mediciner und Laienrichter (Geschworene) bei der Urtheilsfällung gemeinsam betheiligt waren, daß die klärende Wiederaufnahme des Verfahrens nur dem wunderbaren Walten des Unfalls zu verdanken ist und dabei eine ganz eigentümliche Verwicklung der Umstände zu Tage tritt.

Wir halten dafür, daß eine kurze Darstellung des eigenthümlichen Verlaufs dieses Rechtsfalles auf ganz authentischer Grundlage auch den Leserkreis der „Gartenlaube“ interessiren wird.

In der Nacht vom 24. auf den 25. Januar 1885 wurde der Bürgermeister des vier Stunden von Weimar und eine Stunde von Blankenhain liegenden weimarischen Dorfes Obersynderstedt nach dem Gehöfte des Gutsbesitzers Konstantin Zorn gerufen, weil dort in der zweiten Morgenstnnde in der in dem oberen Stocke befindlichen Schlafkammer des Gutsherrn Schüsse gefallen waren. Als man in die Stube eintrat, lag der junge, kaum vierundzwanzigjährige Hausherr in einer am Rücken sich ausbreitenden Blutlache in halb sitzender Stellung todt vor seinem Bette. Die rechte Hand war abgeschossen, sie hing nur noch an der Haut. Außerdem befand sich eine Schußwunde auf der linken oberen Brustseite und eine weitere auf der Brust. Die Bettdecke lag am Boden, das Bett selbst machte den Eindruck, als ob Jemand ruhig darin geschlafen hätte. Auf dem Bette, die Mündung nach dem Kopfende zu, lag ein abgeschossenes doppelläufiges Jagdgewehr. Der von Blankenhain herbeigeholte Amtsphysikus glaubte aus dem Befund entnehmen zu können, daß hier ein Verbrechen begangen sei, und veranlaßte das Einschreiten des Gerichts. Die Untersuchung ergab zunächst Folgendes.

Auf dem Gute lebten außer den beiden Zorn'schen Eheleuten noch die Eltern der jungen Frau Zorn, die Eheleute Peter. Der alte greise Vater lebte still und theilnahmlos für sich, dagegen war dessen um zwanzig Jahre jüngere Frau, die früher bei dem Manne in dienender Stellung sich befunden und die er erst in späteren Jahren geheiratet hatte, der eigentlich herrschende Theil im Hause, obwohl das Gut gar nicht von den Peters stammte. Als der Dienstknecht Karl Amandus Loth ins Haus kam, erlangte derselbe gegenüber dem jungen unerfahrenen Dienstherrn in Folge seiner Kenntnisse und energischen Thätigkeit bald eine leitende Stellung in der Wirthschaftsführung. Ihm schloß sich die Frau Peter alsbald an. Beide führten jetzt gemeinsam das Regiment. Der junge Zorn sank immer mehr zu einer wirthschaftlichen Null herab. Er ging auf die Jagd, besuchte viel die Wirtshäuser und kümmerte sich immer weniger um die Wirthschaft. Auch im Verhältnisse zu seiner jungen Frau trat angeblich in Folge einer ihr zugefügten Rohheit eine theilweise Erkältung ein.

Im Dorfe hatte sich das Gerücht verbreitet, daß Loth, der Knecht, in näheren Beziehungen zu der jungen Frau stehe. Er war mit ihr allein zwei Tage lang auf einem Nachbardorfe zur Kirmse gewesen, und eine Magd wollte bemerkt haben, wie er die junge Frau beim Melken im Kuhstalle geküßt habe. Noch am Nachmittage vor der Mordnacht hatte zwischen ihm und seinem Herrn ein heftiges Zerwürfniß stattgefunden. Der Letztere war von einer Ausfahrt stark angetrunken nach Hause gekommen und hatte allerlei Excesse begangen. Loth war von den Frauen gerufen worden, ihn zur Ruhe zu bringen. Zorn stieß ihn fort; Loth packte ihn, warf ihn zu Boden und würgte ihn heftig am Halse. In Folge dessen hatte Zorn als Dienstherr dem Knechte sofort den Dienst gekündigt. Loth hatte sich auch bereit erklärt, andern Tags fortzugehen. Die Frauen aber, vor Allem Frau Peter, hatten der Entlassung widersprochen.

„Ich,“ hatte diese gesagt, „habe ihn gemietet, er darf nicht fort, schon der Wirthschaft wegen.“

Der Streit wurde durch den Bürgermeister geschlichtet. Loth wollte sich im Wirthshause mit Zorn versöhnen, dieser lehnte es ab und ging später allein dahin. Loth will dann, nachdem er zu Abend gegessen, in der im Parterregeschoß des Hauses liegenden Wohnstube geblieben sein und den Frauen beim Kartoffelreiben geholfen haben, während Zorn nach seiner Rückkehr aus dem Wirthshause sich in unruhigem Halbschlummer auf dem Sofa herumwälzte. Gegen neun Uhr ging Loth in den Pferdestall, welcher in dem Nebengebäude lag und wo er zu nächtigen pflegte. Dort hatte er die Pferde gefüttert und dann sein oben an der Wand befindliches Bett bestiegen

Im Hause war dann außer Zorn und dem alten Peter, der im oberen Stocke schlief, nur noch die Frau desselben geblieben. Die junge Frau hatte sich schon vorher zu dem Nachbar Müller begeben, um die Nacht dort zu verbringen, angeblich, weil ihr Mann Drohungen gegen sie ausgestoßen hatte und sie sich vor ihm fürchtete. Loth will dann fest eingeschlafen sein und von den Schüssen nichts gehört haben. Er ist erst wieder erwacht, als die Frau Peter in den Stall kam und rief: „Karl, Konstant hat sich erschossen in seiner Kammer!“

Für das, was in der Mordstunde geschah, lag nur ein einziges gemeinsames Zeugniß vor, das der in der Nachbarschaft wohnenden Schwarz’schen Eheleute. Der alte Peter, der noch mit im Hause war, lehnte das Zeugniß gegen Frau und Tochter ab, wozu er berechtigt war. Die Schwarz’schen Eheleute schliefen auf dem Heuboden, dort befand sich ein bis auf den Fußboden hinabgehendes Fenster, von welchem aus man in den Zorn’schen Hof sehen konnte. In der Nacht, früh gegen zwei Uhr, hörte der Mann zwei in der Nachbarschaft gefallene Schüsse. Er weckte die Frau mit der Mittheilung. Beide horchten, da fiel etwa acht bis zehn Minuten später ein dritter Schuß. Die Frau vernimmt hierauf innerhalb des Zorn’schen Hauses ein „Heulen“. Gleich darauf wird die Zorn’sche Hausthür geöffnet, und es erscheint ein Lichtschimmer. Da hält's die Frau nicht länger im Bette, sie springt heraus und kauert sich ans Fenster. Da steht sie die Peter auf der nach dem Hofe zu führenden Haustreppe stehen. Von dort geht sie in wimmerndem Tone über den Hof nach dem nahegelegenen Pferdestalle. Dort, in der Nähe des Pferdestalls, ruft sie zweimal: „Komm, Karl, komm!“

In den Pferdestall ist sie nach der Meinung der Zeugin nicht gegangen, da sonst das Licht, das sie trug, verschwunden wäre. Das geschah aber erst, als sie in den Durchgang eintrat, der nach der Straße führte. Von Loth selbst hat die Zeugin nichts bemerkt; auch im Hause keinen Hilferuf gehört. Dann hatte sie kurze Zeit darnach ein Pochen gehört. Das war das Pochen an der Thür des Bürgermeisters, wo, wie festgestellt worden war, die Frau Peter in Begleitung des Loth erschien.

Nach dem Gutachten der beiden Physikatspersonen waren die sämmtlichen drei Schüsse Zorn durch fremde Hand beigebracht. Der Mörder sollte vor dem Bette Zorn's, das eine Bein auf den Bettrand gestützt, gestanden und den ruhig Schlafenden, der gerade den rechten Arm über die Brust gelegt hatte, getroffen und zunächst ihm die Hand zerschossen, mit dem gleich darauf folgenden zweiten Schusse aber ihn in die Seite getroffen haben. Das Gewehr war doppelläufig, die Schüsse waren Schrotschüsse. Schon dieser zweite Schuß sei sofort tödlich gewesen, da er edle Theile getroffen hatte!

Alle Drei, Loth, die Frau Peter und die Wittwe des Gemordeten, standen unter der Anklage des gemeinschaftlich geplanten und verübten Mordes vor dem im Oktober 1885 abgehaltenen Schwurgerichte. Alle Drei stellten ihre Beteiligung an dem Morde in Abrede. Ihrer Ansicht nach hatte Zorn sich selbst getödtet. Nach dem Spruche der Geschworenen wurde hierauf der Knecht Loth des Mordes allein für schuldig erklärt und die Frau Peter nur der Beihilfe dazu. Obwohl im Vorzimmer auf der Diele die blutigen Abdrücke eines mit einem Strumpfe bekleideten Fußes von der ungefähren Größe desjenigen der Peter entdeckt worden waren, traute man ihr als Frau doch nicht zu, daß sie dreimal auf einen Mann geschossen haben könne, um so weniger, als das Gewehr beim Verschlusse einen Defekt hatte, der dessen Handhabung erschwerte. Loth wurde zum Tode, die Frau Peter zu zehnjährigem Zuchthause verurteilt. Auch die Frau Zorn ging nicht straffrei aus. Obwohl sie außer dem Hause geblieben war, nahm man doch an, daß ihr der Mordplan bekannt gewesen sei, und verurteilte sie wegen unterlassener Anzeige desselben zu einer vierjährigen Gefängnißstrafe.

Im Publikum war man mit dem Spruche der Geschworenen nicht ganz zufrieden. Man hielt allgemein die Frau Peter für die Hauptschuldige und konnte sich nicht damit befreunden, daß [347] dieselbe weit besser wegkam, als der ganz unter der Botmäßigkeit ihres Willens stehende Knecht. Die Frau Peter hatte bei der Verhandlung einen höchst ungünstigen Eindruck gemacht. Auf einen solchen Eindruck giebt man im Volk immer viel.

Die Todesstrafe wurde an Loth nicht vollstreckt. Der Großherzog von Weimar, der Landesherr Loth’s, machte von dem ihm zustehenden Rechte der Begnadigung Gebrauch, und Loth wanderte statt aufs Schaffot ins Zuchthaus.

Aber nun brachte das oft im Dienste einer höheren Gerechtigkeit stehende Walten des Zufalls die Wendung.

Zufällig war in der Schwurgerichtsverhandlung ein Geraer Arzt als Zuhörer anwesend, der Dr. med. Erwin Koch. Er hatte die gutachtliche Vernehmung der Physikatspersonen angehört und dabei die Ueberzeugung gewonnen, daß die von ihnen gezogenen Schlüsse wissenschaftlich nicht haltbar und mit dem Sachbefund nicht wohl vereinbar waren. Vielmehr deutete seiner Ueberzeugung nach der letztere darauf hin, daß wenigstens die beiden ersten der abgegebenen Schüsse Selbstmordschüsse waren und nicht von dritter Hand herrühren konnten. Diese Ansicht befestigte sich bei ihm immer mehr, und er suchte dieselbe auch in juristischen Kreisen und vor Allem bei dem Vertheidiger des Verurtheilten in Geltung zu bringen, um eine Wiederaufnahme des Processes herbeizuführen. Nach der Vorschrift des Gesetzes konnte aber eine solche nur eintreten, wenn neue Thatsachen oder Beweismittel beigebracht wurden, welche allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder eine geringere Bestrafung zu begründen geeignet sind. Die bloße gegentheilige Ansicht eines Sachverständigen konnte füglich weder als neue Thatsache, noch als neues Beweismittel gelten. Aber dem Dr. Koch ließ der Gedanke, daß hier ein schwerer Irrthum begangen worden sei, keine Ruhe. Er reiste auf eigene Faust an den Ort der That, um dort vielleicht neues Beweismaterial zu entdecken. Auch hier wurde der Zufall sein Gehilfe.

Schon auf der Fahrt von der Eisenbahnstation nach dem abgelegenen Dorfe erfuhr er von dem Geschirrführer, daß früher an der Decke des Mordgemachs sich ein bei der Untersuchung nicht beachteter, ziemlich großer Blutfleck abseits vom Bette befunden habe, bei welchem Sehnen und Flechsen fest angeklebt waren. Der Fleck war beim Weißen der Decke übertüncht, aber von den Tünchern bemerkt worden. Trotzdem waren die Spuren der Fleischtheile noch zu ermitteln. Es waren offenbar Theile der abgeschossenen Hand. Sie konnten nur durch die Gewalt eines nach der Decke zu gerichteten Schusses so fest an dieser ankleben. Jedenfalls war damit die Annahme zerstört, daß der Schuß gegen den im Bette liegenden Zorn gerichtet gewesen war. Von da aus konnten die Handtheile nicht an die Decke kommen. Dann gelang es auch noch, das blutige Hemd, das Zorn in der Nacht an hatte und das auf eigenthümliche Weise erhalten gebieben war, in Besitz zu bekommen. Man hatte unterlassen, es seiner Zeit mit in Beschlag zu nehmen, und nun ergab sich, daß auch die Schußlöcher im Hemde nicht mit den Annahmen der Sachverständigen stimmten.

Somit waren neue Thatsachen und Beweismittel gewonnen, und der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens konnte begründet werden. Die zuständige Strafkammer des Geraer Landgerichts veranlaßte eine weitere Prüfung des Koch’schen Gutachtens durch den Professor der Medicin und Physikatsarzt Dr. Gärtner in Jena, und diese fiel in der Hauptsache zu Gunsten des erstern aus. Auch der von Professor Gärtner weiter zugezogene Professor der Chirurgie Dr. Braun schloß sich der Ansicht im Wesentlichen an. Nunmehr wurde der ganze Proceß in der dreitägigen Verhandlung vor dem Schwurgerichte zu Gera, die unter dem Vorsitze des Landgerichtsdirektors Dr. Hagen am 31. März, 1. und 2. April stattfand, von Neuem verhandelt. Den Schwerpunkt der Verhandlung bildeten die Ausführungen der drei neuen Sachverständigen Koch, Gärtner und Braun, welche allein einen ganzen Vormittag ausfüllten. Die Untersuchungen in Jena waren mit jener Subtilität und gewissenhaften Vertiefung in das kleinste Detail gemacht worden, wie sie das gewohnte Kennzeichen des deutschen Gelehrtenthums sind. Leichen und Leichentheile waren als Versuchsobjekte benutzt worden, um die Richtungen der einzelnen Schüsse und ihre Wirkungen unter Berücksichtigung eines an Ort und Stelle neu aufgenommenen Befundes festzustellen. Auch lebende Objekte wurden, so weit es anging, zur Verdeutlichung der einzelnen Positionen benutzt.

Wir müssen es uns freilich versagen, näher auf die specielle Beweisführung in dieser Richtung einzugehen, müssen uns vielmehr auf die Wiedergabe der gezogenen Schlüsse beschränken. Danach wurde festgestellt, daß Zorn nicht von einer vor ihm stehenden Person im Bett erschossen worden sein konnte. Als der erste Schuß fiel, mußte er sich bereits in sitzender Stellung außerhalb des Bettes befunden haben. Er erhielt hier zunächst den Schuß in die Seite, der seiner Richtung nach auch nicht von einer fremden Person herrühren konnte, da der Mörder dabei eine geradezu undenkbare Lage hätte einnehmen müssen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war dieser Schuß ein Selbstmordschuß, welchen Zorn durch Anstemmen des Gewehres auf den Boden und Abdrücken des Hahnes mit dem bloßen Fuße gegen seine Brust gerichtet hatte, der aber beim Abdrücken eine mehr seitliche Richtung nahm. Der Schuß in die Hand war dann unmittelbar darauf, gefolgt als ein Produkt des Zufalls, wobei der Selbstmörder die Hand auf die Mündung des Gewehres gehalten haben mochte. Von ihm rührten die Blutspuren an der Wand und Decke her. Dagegen war der etwa acht bis zehn Minuten darauf abgegebene gerade ins Herz gerichtete Schuß ein von fremder Hand abgegebener Mordschuß. Hier stimmte das neue Gutachten mit dem alten überein. Mit der gänzlich zerschossenen rechten Hand konnte Zorn das Gewehr weder neu laden, noch sich erschießen. Der Schuß war auch auf eine stehende Person abgegeben in der Richtung von unten nach oben. Der erste selbstmörderische Schuß war nicht, wie man früher annahm, sofort tödlich. Der Verletzte konnte noch schreien, also auch noch um Hilfe rufen. Ein solcher Hilferuf war nicht vernommen worden. Der alte Peter, der in der neuen Verhandlung sein Zeugniß nicht mehr ablehnen konnte und dasselbe auch beschwor, hatte zwar die Schüsse, aber sonst nicht einen „Muks“ gehört. Der dritte Schuß war ein sorgfältig gezielter Herzschuß und als solcher sofort und unbedingt tödlich.

Der Selbstmordversuch Zorn’s erhielt auch seine psychologische Motivirung. Zorn hatte sich in der letzten Zeit schon immer mit Selbstmordgedanken getragen und denselben wiederholt anderen Personen gegenüber Ausdruck gegeben. Er hatte unter Anderem gesagt: es sei nicht gut, wenn man sich durch den Kopf schieße, das sähe nicht gut aus. Ein Schuß in die Brust thät’s auch. Noch an dem Abende vor seinem Tode hatte er zu einem Zeugen, mit dem er im Wirthshause saß, geäußert: „Komm, wir wollen eins trinken; wenn’s einmal alle wird, mach’ ich’s wie die Engländer, da erschieß’ ich mich.“ Als der Zeuge darauf entgegnete: das solle doch nicht sein, hatte er erwiedert: „Nun, was ist’s da weiter!“ Er hatte nicht unbedeutende Wirthshausschulden, die ihn drückten, und als er am Nachmittage von seiner Frau Geld verlangte und sie ihm dieses verweigerte, hatte er geäußert: „Erst erschieße ich Dich, dann mich.“ Und nun der Vorfall mit dem Knecht, der ihm die ganze Ohnmacht seiner Stellung im Hause vorspiegelte und ihn moralisch wohl tief niedergedrückt haben mochte.

Mit den neuen Gutachten der Sachverständigen verlor das frühere Urtheil seine Unterlage. Von einem vorher geplanten Morde konnte jetzt nicht mehr die Rede sein. Immerhin aber blieb noch der dritte Schuß, der einen verbrecherischen Charakter in jedem Falle in sich trug. Rührte er von Loth her? Dafür ergaben sich jetzt noch weniger Anhaltspunkte als sonst.

Die belastenden Momente der ersten Verhandlung schwächten sich immer mehr ab. Auch das angenommene, aber von den Betheiligten durchaus bestrittene Verhältniß zwischen Knecht und Dienstherrin verlor den Boden des Thatsächlichen. Selbst der angebliche Kuß im Kuhstalle nahm den Charakter einer bloßen Illusion an. So verdächtig auch der Ruf der Frau Peter: „Karl! komm!“ im Hofe war, der Beweis, daß Loth wirklich im Hause war, wurde auch jetzt nicht erbracht. Dagegen ließen auch nach Annahme der Sachverständigen alle Umstände darauf schließen, daß die Frau Peter den dritten Schuß abgab und zwar jedenfalls mit Zustimmung und auf nähere Anweisung des bereits tödlich verwundeten, aber noch zum Sprechen fähigen Zorn. Sie war jedenfalls nach den beiden ersten Schüssen aus dem Bette gesprungen und in Unterrock und Strümpfen in das obere Stock hinauf geeilt. Daß ihr der Tod Zorn’s ganz willkommen war, ging aus verschiedenen Aeußerungen hervor, welche sie in den [348] letzten Tagen zu dritten Personen gethan hatte. So hatte sie zu einer Nachbarfamilie gesagt: „Was nur mit unserem Konstant ist? Er will sich immer erschießen.“ Auf die Bemerkung, daß er das wohl nicht thun werde, hatte sie in ähnlicher Weise erwiedert: „Immerhin besser, er ist weg, als wir sind in Gefahr. Ich gebe ihm die Flinte und helfe ihm auch losschießen.“

Die Peter selbst war indeß der irdischen Gerechtigkeit entzogen; sie war noch vor Beginn des Aufnahmeverfahrens im Zuchthause gestorben. Auch ein eigenthümlicher Zufall! Sie hatte vor ihrem Tode wohl in der Annahme, daß Loth inzwischen enthauptet sein werde, eine Art von Geständniß gemacht, wonach Loth den Zorn erschossen haben sollte und sie nur dabei zugegen war. Die Sachverständigen erklärten die Angaben als höchst unwahrscheinlich.

Die Geschworenen verneinten diesmal die Schuldfrage; der Gerichtshof hob das frühere Urtheil wieder auf und sprach den Angeklagten frei. Loth begriff den ganzen Ernst der Situation. Er dankte andern Tags persönlich Allen, die zu seiner Rehabilitirung beigetragen hatten. Das Gefühl einer gewissen moralischen Mitschuld am Tode seines Herrn mochte ihm doch wohl nicht fremd sein. Er faßte die verbüßte Strafzeit unter dem Gesichtspunkt einer Buße und als mahnenden Wegweiser für sein ferneres Leben auf. Die Wittwe des Ermordeten ist vor Kurzem begnadigt und aus der Haft entlassen worden.

Es giebt in der Welt keine absolute Wahrheit; war aber der Verlauf der Sache so, wie ihn die letzte Verhandlung herausstellte, so war das Leben dieses armen Dienstknechts einer Tragik verfallen in der Verkettung eigenthümlicher Umstände, wie sie sonst nur die Phantasie des Dichters zu kombiniren vermag. Mehr als irgend ein anderer aber legt dieser Fall Zeugniß ab von der Ohnmacht des menschlichen Urtheils. Fr. Helbig.