Der Volkspalast im Ostend von London

Textdaten
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Autor: Wilhelm Ferdinand Brand
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Titel: Der Volkspalast im Ostend von London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 345
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Volkspalast im Ostend von London.

Bereits im Jahre 1840 setzte Barber Beaumont, ein bekannter Philantrop in London, eine Summe von nahezu 400 000 Mark für Errichtung und Erhaltung der „Philosophical Institution“ im Ostend von London aus, einer Bildungsstätte, welche den elenden und verkommenen Einwohnern jenes verrufenen Stadttheils eine Reihe von Jahren neben Bibliothek und Lesezimmer auch populäre Vorträge, Koncerte und andere Unterhaltungen unentgeltlich gewährte. Wenn auch dieses Institut in seiner verhältnismäßig begrenzten Sphäre noch so segensreich wirkte, gerieth es doch im Laufe der Zeit mehr und mehr in Verfall. Da erschien im Jahre 1882 Walter Besant’s viel Aufsehen erregender vortrefflicher Roman „All Sorts and Conditions of Men“, der ein treffendes Bild von dem Leben und Treiben im Ostend von London entwirft und zugleich einige werthvolle Fingerzeige enthält, wie dem dort herrschenden Elend abzuhelfen sei.

„Wenn diese junge Erbin ein gutes Werk thun wollte,“ heißt es da in einem Zwiegespräch zwischen dem Helden und der Heldin des Buches, „so sollte sie einen Vergnügungspalast hier errichten.“

Diese Idee wird dann in dem Roman weiter ausgeführt, wo wir lesen: „Der Palast sollte viele Räume enthalten: einer derselben sollte für Koncerte dienen und eine Orgel darin ausgestellt sein; ein anderer für Theater mit einer ordentlichen Bühne darin; ein Raum sollte ein Tanzsaal werden; eine Rollschuhbahn, ein Saal für Vorträge und Deklamationen, eine Gemälde-Ausstellung“: alles das sollte in diesem Palast den in Armuth und Elend lebenden Bewohnern des Ostends unentgeltlich geboten werden.

Die Ausführung von derartigen Entwürfen mag uns auf den ersten Blick als lediglich in den Rahmen eines Phantasiewerkes gehörig erscheinen, wo der Aufbau eines solchen Palastes mit Worten viel billiger zu stehen kommt, als im wirklichen Leben aus Steinen und was sonst an Material dazu gehört. Allein wie dem Verfasser des Romans ohne Zweifel von dem Beaumont’schen Institut die Anregung zu seinen idealen Plänen gekommen war, so waren nun auch ihrerseits wieder die Administratoren der Beaumont’schen Hinterlassenschaft von den erweiternden Ausführungen der ursprünglichen Idee eingenommen und mit ihnen ganz England, das den Roman gelesen hatte. Es währte denn auch nicht lange, so tagte im Mansion House, dem officiellen Wohnsitz des Lord Mayor, unter persönlichem Vorsitz Seiner Lordschaft eine Kommission, an deren Berathungen auch Männer wie Professor Huxley und Dr. Göschen, der gegenwärtige Finanzminister, auf das Lebhafteste sich betheiligten und welche die in dem Besant’schen Roman gemachten Vorschläge mit geringen Aenderungen acceptirten. Sie verbanden aber zugleich mit dem Angenehmen das Nützliche und erweiterten das Projekt dahin, daß in dem Palast Kunst- und Gewerbeschulen errichtet, eine Turnhalle und auch einige große Schwimmhallen für beiderlei Geschlechter, Parkanlagen und Spielplätze angelegt werden sollten.

Uns Deutschen dürfte es zur besonderen Genugthuung gereichen, daß in dem von der Kommission aufgesetzten Entwürfe hervorgehoben wird, ein wünschenswerthes Zubehör zu dem Palast würde auch ein Koncertgarten bilden „in der Art eines deutschen Koncertgartens, wie der Palmengarten in Frankfurt am Main,“ und hinsichtlich der Turnvorrichtungen wird wieder empfohlen: „ein Gymnasium, wie eine deutsche Turnhalle erster Art“.

Indem man so den Palast mit allen möglichen Annehmlichkeiten, mit allen möglichen Mitteln unschuldiger, wohlthätiger Zerstreuung und Unterhaltung ausstatten wollte, rechnete man wohl nicht mit Unrecht darauf, daß die verwahrlosten Bewohner des Ostends zu Tausenden aus ihren schmutzigen, ungesunden Schlupfwinkeln hervorkommen und einen Sonnenstrahl reiner Freuden in der dunklen Nacht ihres Elends genießen würden. Der Aufenthalt an solcher Stätte kann aber nicht verfehlen, selbst auf Diejenigen, die nur um der Unterhaltung willen sich einstellen, einen civilisirenden Einfluß auszuüben, der gerade hier um so wünschenswerther ist, als der Schulunterricht in England überhaupt und in dieser Gegend von London insbesondere noch recht viel zu wünschen übrig läßt und doch auch nur der aufwachsenden Generation zugute kommt. Unterricht soll ja überdies auch gerade im People’s Palace geboten werden, Unterricht insonderheit in allem, was das praktische Leben angeht, Unterricht und die angemessenste Gelegenheit zur Selbstbildung. Und das Alles wird auf die bequemste Weise geboten, ohne jedweden Zwang, an einer Vergnügungsstätte, in einem Klub, einem – Palast, wie das Ganze, vielleicht ein wenig phantastisch und doch auch wieder höchst bezeichnender Weise, genannt worden ist.

Traum, ein ideales Werk, das freilich auch materielle Mittel in erheblichem Maße erheischte, um zur Verwirklichung zu gelangen! Aber „die nüchternen Engländer“ schreckten davor nicht zurück.

Die 19 500 Pfund Sterling, die von dem ursprünglichen Begründer des „Philosophischen Instituts“ ausgesetzt waren, reichten allerdings nicht weit. Man rechnete bald aus, daß man wenigstens das Fünffache dieser Summe, zwei Millionen Mark gebrauche, um das Unternehmen in würdiger Weise durchzuführen. Das Interesse für das Unternehmen war aber mittlerweile so rege geworden, daß nun auch freiwillige Subskriptionen von allen Seiten zuflossen. Eine der alten, reichen City-Gilden, The Drapers’ Company, sicherte 20 000 Pfund Sterling behufs Errichtung der Handwerkerschulen zu; Lord Rosebery gab 2500 Pfund Sterling zur Herstellung der Schwimmhallen, und so sind in diesem Augenblicke schon mehr als drei Viertel des erforderlichen Kapitals geliefert.

Bereits am 28. Juni vorigen Jahres wurde daher vom Prinzen und der Prinzessin von Wales der Grundstein zu der großen Queen’s Halle gelegt, die nunmehr vollendet ist und als deren Eröffnungstermin der 14. Mai in Aussicht genommen wurde. Der prächtige Bau kann 4000 Personen fassen und soll zur Abhaltung größerer Koncerte, für gewöhnlich aber als Lesehalle benutzt werden. Unsere Vignette stellt den Palast dar, wie er aussehen wird, wenn das Ganze fertig geworden, oder doch wie derselbe ursprünglich werden sollte; denn der weitere Ausbau wird theilweise noch von der Höhe des Betrags der noch einlaufenden Gelder bedingt.

Zwei höchst wesentliche Punkte in Bezug auf die Leitung des Palastes haben dem für denselben sich interessirenden Publikum Monate lang zu heftigem Streit Anlaß gegeben. Von der weit verbreiteten „Blauband-Armee“ des Enthaltsamkeitsvereins wurde das Verlangen gestellt, es solle von vornherein festgesetzt werden, daß keinerlei Spirituosen jemals im Palast zum Ausschank gelangen sollten. Da nun jener Verein, im Falle diese Bedingung angenommen würde, dem Unternehmen eine wesentliche Unterstützung zusagte und da überdies England reich ist an jenen Leuten, die zwar selbst Port und Porter, Whisky und Champagner vollauf genießen, aber der fürsorglichen Meinung sind, anderen Leuten könnten derlei Getränke, und sei es auch nur ein Glas Bier, leicht schädlich werden, so hat das Komité nach einigem Widerstreben dem Drängen jener Leute leider nachgegeben und in den Kelch ungetrübter Freuden den Wermuthstropfen von Limonaden- und Zuckerwasser-Monopol sich träufeln lassen.

Andererseits verlangte „die Gesellschaft zur Heilighaltung des Sonntags“, der Palast solle am Sonntag geschlossen werden! Was ein solches Unternehmen wohl nützen sollte, wenn das Gebäude gerade an dem Tage, wo die Arbeiterklassen Zeit haben, ihnen nicht offen stände! Das hieße doch geradezu den Palast für Faullenzer und Strolche allein reserviren. Das Komité hatte dieser Gesellschaft gegenüber einen schweren Stand, aber es wurde schließlich der Beschluß gefaßt, der Palast sollte am Sonntag nur „während gewisser Stunden“ geöffnet sein.

Das Ganze ist zunächst nur ein Experiment, ebenso interessant wie es großartig ist. Stellt es sich aber als so erfolgreich heraus, wie sich erwarten läßt, so wird es an Nachahmungen in anderen Stadttheilen von London und anderen Städten Englands nicht fehlen. Wilh. F. Brand.