Textdaten
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Autor: Oskar Justinus
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Titel: Böse Zungen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 343–344
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[340]

Böse Zungen.
Nach dem Oelgemälde von Claus Meyer.

[343]
Böse Zungen.
(Mit Illustration S. 340 u. 341.)

Böse Zungen – giebt es deren in der That und ist es insbesondere glaublich, daß der Frau, dieser Krone der Schöpfung, etwas eigen sein sollte, was „böse“ wäre?

Könnte die Zunge, die so viel Süßes zu sagen weiß und so glücklich zu machen versteht, auch Wunden schlagen und zwar so gefährliche, als wäre sie mit Widerhaken versehen oder als hätte sie ein Tröpfchen Gift hineingleiten lassen?

Jedenfalls – davon bin ich überzeugt – nicht mit Absicht. Mit so wenig Absicht, wie das Zünglein der Wage, welches die öffentliche Meinung zur Beurtheilung seiner Nebenmenschen in Händen hält. Es schwankt nach der guten und schwankt nach der bösen Seite, erst scheinbar gleich weit über den Balken hinaus, dann immer ein Bischen mehr nach der bösen, bis endlich das Zünglein ganz hinüberschlägt und den Mann in der Wagschale hoch wie leere Spreu in die Luft hebt. Kann das Wagezünglein dafür, daß hier ein Mensch gerichtet wird?

Oder wie das Zünglein des Flämmchens, das unter der Dielritze in Folge eines fortgeworfenen brennenden Spähnchens geboren wird. Es ist so unschuldig, so harmlos; ein Hauch kann es ersticken. Bei Tageslicht ist es gar nicht zu bemerken. Achtlos wirft man Papier und Kleider darüber hin. Aber kaum sieht das Zünglein sich unbeobachtet, so wächst es lustig in die Höhe, leckt und züngelt als verzehrende Flamme an Allem hinauf, was es erreichen kann, und ruht nicht eher, bis Alles der Erde gleich ist. Ist das Zünglein schuld gewesen an der großen Vernichtung?

Diesen Zünglein ähneln jene „bösen Zungen“ oder ähnelten – denn heute wird man sie vergeblich suchen. Unsere Schönen begeistern sich lieber für die großen Fragen der Zeit oder zerbrechen sich ihre Köpfchen über einem sinnreichen Problem der akademischen Zuschneidekunst oder ärgern sich über den unerwarteten Schluß eines Romans, als daß sie sich an die eben so wenig lohnende wie uninteressante Arbeit machen, ihre liebe Nachbarin zu viviseciren. Dazu haben sie gar keine Zeit vor Lyceum, Gesellschaft, Musik und Wirthschaft – dafür haben sie gar keinen Sinn. Der Künstler hat das auch sehr gut gefühlt und uns darum ein solches böse züngelndes Kleeblatt aus dem finstersten Mittelalter zum Besten gegeben.

Mein Gott, was hatten denn damals drei einzelstehende alte Damen Besseres zu thun, als das Bischen Klatschen! Vergnügungslokale wurden nur bei festlichen Gelegenheiten besucht; Bücher gab es wenig, und – ich muß es zur Schande der Damen einräumen – wären welche dagewesen, sie hätten sie nicht lesen können. Und Zeitungen? Nun, die Zeitungen waren sie selbst. Der Raum, in dem sie ohne Zweifel oft und immer hübsch lange zusammen kommen, ist das Redaktionslokal, wo Alles, was in der Stadt vorgeht, hübsch ausgeputzt und sensationell aufgebauscht wird, der Herd, von dem aus es von Zunge zu Zunge „erbaulich weiter klingt“. Hier wird ein Stückchen öffentliche Meinung gemacht, und zwar die Kolportagemeinung, welche die Hintertreppen hinaufschleicht, sich an die Köchin heran macht, von der Köchin zur Zofe, von der Zofe zur Frau, von der Frau zum Herrn und von dem Herrn zum Zunftbruder in der Trinkstube und von der Trinkstube wieder daheim auf die Frauen überspringt, bis es die Sperlinge auf den Dächern pfeifen. Das ist in der That ein Kleeblatt der Nornen; denn hier wird das Schicksal der Nachbarn berathen und bestimmt. Es gleicht dem Hexentrio des Macbeth, welches

„Schwitzend Gift in kalten Stein
In den Topf zuerst hinein“

mischt: wenn es auch nicht hexen kann, so übt es doch auf Manchen eine geheimnißvolle Gewalt aus, gegen die er nicht anzukämpfen vermag, weil er sie nicht sieht. Sie haben auch etwas mit den dunkelen Göttinnen der Griechen, den Parzen, gemein, von denen die eine den Lebensfaden knüpft, die andere ihn fortspinnt, die dritte ihn abschneidet. Sie knüpfen in ihrer regen Phantasie Verhältnisse zwischen Menschen an, die sich fern stehen. Sie spinnen in ihrer Geschwätzigkeit Legenden fort, an denen [344] vielleicht ein Körnchen Wahres ist, wo aber das Meiste ihren beweglichen Zünglein das Dasein dankt. Und sie schneiden unbesorgt – die Ehre ab Denen, die ihnen zwischen die Mahlsteine gerathen.

Die Mahlsteine müssen sich drehen, und die Zünglein müssen züngeln – sonst haben sie ihren Beruf verfehlt, und jemand auf der Welt muß einmal dazu herhalten. Wer ist näher bei der Hand, als der Herr Nachbar und die Frau Nachbarin – warum wohnen sie so, daß man ihnen in die Fenster gucken kann, was sie heut zu Mittag kochen, daß man an die Wand gelehnt hören muß, wenn sich das junge Ehepaar in den Haaren liegt? Gutes zu erzählen von seinen Nebenmenschen – wem liegt daran, das zu hören? Etwas Schlimmes aber findet stets aufmerksame Zuhörer. Ein Bischen Neid und Mißgunst spielt ja doch immerhin eine Rolle, und wer in der Lage ist, etwas von dem glücklicher situirten Nebenan zu wissen, der fühlt sich gewissermaßen entschädigt.

Doch versetzen wir uns – mittels eines Aktes freiwilliger Seelenwanderung in das Mutterkätzchen, welches uns seine Rückseite zuwendet und, während es scheinbar nach den beiden Jungen sieht, welche soeben das Frühstück bekommen haben, die Ohren spitzt, damit ihm kein Wort von dem interessanten Trio entgehe. Aber pardon – das Trio ist noch nicht vollzählig. Frau Martha, eine wohlhabende Jungfrau, die in den schön geschnitzten Truhen manch schönes Stück Linnen und niederländisch Tuch und manchen blanken Thaler liegen hat, sitzt, nachdem sie Tags zuvor zum fünfzehnten Male den Beschluß gefaßt, keinem Liebhaber mehr die Thür zu öffnen (denn sie meinten es alle schlecht und sahen es nur auf ihr Vermögen ab), in ihrem Gemach allein. Sie ist unglücklich und verbittert und wartet voll nervöser Ungeduld zweier älteren Frauen aus der Nachbarschaft, die sich allabendlich mit der Regelmäßigkeit der Sonnenuhr einzustellen pflegen.

„Darf ich?“ heißt es jetzt von der eben geöffneten Thür her.

„Immer herein, Base Ursula – es ist heut später als sonst. Setzt Euch!“

„Hat seine Gründe, Jungferchen,“ entgegnet die Kommende mit dem ergebenen Wesen und den stets gefalteten Händen – die Bettelursel heißt sie in der Stadt – und schiebt sich auf den Kasten. „Hat doch der große Kaufherr und Rathmann Melchior Hochstetter seinem Namenstag zu Ehren großen Freitisch gegeben, alle Armen waren durch Herolde mit großen Trompeten geladen – aber du meine Zeit!“

„Habt Ihr mir etwas vom Schmause mitgebracht?“

„Einen leeren Magen, denn ich bin durch die Sache um meine tägliche Klostersuppe gekommen. Der Knicker! Für ein paar Schnapphähne und Bärenhäuter wurde aufgetragen. Was die rechtschaffenen Stadtbettler sind – nicht ein Bissen! Der Prahlhans – ist gar nicht weit her mit dem Handelshaus und will der Welt nur Sand in die Augen streuen, weil seine Tochter Iditha den jungen reichen Paumgartner aus Augsburg heirathen soll –“

„Der in Geschäften hier ist,“ fiel hier Frau Dorothea ein, die an der Thür die letzten Worte vernommen hatte und nun schnell ihren Platz auf einem Sessel nahm. Sie kam in der ganzen Stadt herum, unterhielt in allen Gesindestuben ihre Verbindungen und hatte stets etwas Frisches, Prickelndes zu erzählen, so daß sie eigentlich die Seele des Klatschtrios war. „Das ist längst vorbei, längst vorbei. Herr Hochstetter glaubte den jungen Menschen ja schon im Sacke zu haben. Denn er hatte ihm für sein liederliches Leben, hinter dem Rücken seines Vaters, zweitausend Dukaten aufs Buch vertraut, wenn nicht –“

„Wenn nicht –“

„Wenn es nicht herausgekommen wäre, was herauskommen mußte.“

„Was – was?“ fragen die beiden Andern und beugen sich vor.

„Erinnert Ihr Euch noch des jungen Tommaso, des hübschen schwarzäugigen Malers aus Siena, der das Altarbild arbeitete, welches der Kaufherr Hochstetter in die Nikolaikirche gestiftet hat?“

„Was ist’s mit dem?“ fragen weiter die Beiden, wie aus einem Munde.

„Ihr wißt – rechts knien er und die Frau, links die Kinder. Alle vortrefflich getroffen. Er hat sie alle einzeln im Hause aufgemalt. Man sagt nun – das heißt – ich weiß es von Gertrud, die damals bei Hochstetter’s Flachs gesponnen hat und zufällig in das Gemach trat, als Jungfräulein Iditha und –“

Die drei Frauen steckten ihre Köpfe zusammen. Wir können nichts mehr hören – wir haben auch genug davon. Wir athmen auf, freuen uns, daß „wir doch bessere Menschen“ sind, und danken dem Himmel, daß wir drei Jahrhunderte später zur Welt gekommen sind: denn so etwas kommt bei uns nicht mehr vor. Oskar Justinus.