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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Sie glauben also, daß eine Verbringung nach dem Krankenhaus –“

„Rein unmöglich ist! – Ja, das glaube ich allerdings!“ ergänzte der Arzt mit eigenthümlich scharfer und nachdrücklicher Betonung. „Sie werden sich eben mit dem Gedanken befreunden müssen, mein Herr, die junge Dame noch weiter in Ihrer Wohnung zu behalten. Ich für meine Person müßte sonst jede weitere Behandlung und jede Verantwortung für die wahrscheinlichen Folgen einer Wegschaffung ablehnen.“

„Nichts liegt mir so fern als ein derartiger Gedanke, nachdem Sie mir gesagt haben, daß derselbe unausführbar sei. Aber Sie begreifen, daß es nicht leicht ist – und daß Rücksichten verschiedener Art –“

Er stockte und fand nicht gleich die rechten Worte für das, was er sagen wollte. Die kalten, durchdringenden Augen des Arztes verwirrten ihn. Er fühlte, daß alle diese Leute ihn mit Mißtrauen, wenn nicht gar mit einer Art von Verachtung behandelten, und er sah sich außer stande, den häßlichen Verdacht, welchen sie gegen ihn hegen mochten, zu entkräften. Aber bald machte seine Verlegenheit einer Empfindung trotzigen Selbstbewußtseins Platz. Er erhob den Kopf und erwiderte den Blick des Sanitätsraths fest und ruhig.

„Doch was kann es helfen, darüber zu sprechen!“ fuhr er fort. „Da Sie sagen, es gebe keine andere Möglichkeit, so muß es eben sein. Ich trete der Kranken mein Schlafzimmer ab und werde mich selbst bis auf weiteres in einem Gasthofe einquartieren. Was aber die Pflegerin anbetrifft, so darf ich darin vielleicht auf Ihre Vermittlung rechnen, Herr Sanitätsrath.“

Der Arzt zuckte die Achseln.

„Nicht mehr für diese Nacht,“ sagte er. „Morgen im Verlauf des Tages würde ich Ihnen erst eine Diakonissin senden können. Bis dahin müssen Sie sich zu helfen suchen, so gut Sie vermögen. Diese junge Dame wird doch wohl irgend eine Verwandte oder Freundin haben, welche es übernimmt, während einer einzigen Nacht bei ihr zu wachen.“

Ein glücklicher Gedanke durchblitzte Gerhards Gehirn. Wie war es nur möglich, daß er ihm nicht schon früher gekommen war! Hatte ihm Rita denn nicht versprochen, seiner Pflegeschwester eine Freundin zu sein? Und mußte die kleine Verstimmung, welche sie vielleicht gegen Astrid empfand, nicht sofort verschwinden angesichts einer so zwingenden Fügung der Umstände?

Glücklicherweise wußte er, wo er die Sängerin in dieser späten Stunde finden würde. Sie war in der Oper beschäftigt, und wenn er keine Zeit mehr verlor, mußte er sie noch beim Verlassen des Theaters treffen können. Er ersuchte Frau Runge, bis zu seiner Rückkehr bei der Kranken zu bleiben, und verließ zusammen mit dem Sanitätsrath das Haus.

Auf der Treppe richtete er an den Arzt noch einmal die zögernde Frage, ob er an das Vorhandensein einer unmittelbaren Gefahr glaube, und die Antwort, welche er empfing, war nicht eben von sehr tröstlicher Art.

„Das entzieht sich zwar vor der Hand noch jeder Voraussagung,“ meinte er; „aber wenn die Patientin Angehörige hat, die um ihr Schicksal besorgt sein könnten, so dürfte es geboten sein, dieselben unverzüglich zu benachrichtigen.“

Als sie schon vor der Thür standen, fühlte Gerhard das Bedürfniß, noch ein Wort der Aufklärung zu sprechen.

„Was die Umstände betrifft, unter welchen Sie die Dame da in meiner Wohnung fanden, so hoffe ich, Sie werden mir glauben –“

Aber der andere machte eine höflich abwehrende Handbewegung.

„Es steht mir nicht zu, Erklärungen darüber entgegen zu nehmen,“ erwiderte er, „und mein Interesse daran geht nicht weiter als die Pflicht meines ärztlichen Berufes. Ich bin beruhigt, wenn ich die Gewißheit erlangt habe, daß sie gut verpflegt werden wird, und es wird mir nicht in den Sinn kommen, mich um etwas anderes zu kümmern.“

Er bestieg mit stummem Abschiedsgruß seinen Wagen, und Gerhard, der sich vergebens nach einer Droschke umgesehen hatte, beeilte sich, zu Fuß den nicht allzu weiten Weg nach dem Opernhause zurückzulegen.

Die Vorstellung war eben zu Ende, und schon, als er am Palais des Kaisers vorübereilte, stürmten ihm die Zuschauer, welche das Theater verließen, in hellen Scharen entgegen. Athemlos und trotz des rauhen Wintersturmes mit schweißbedeckter Stirn langte er an dem kleinen Pförtchen an, durch welches die Bühnenmitglieder nach beendigter Aufführung ihren Weg nehmen, und es fiel ihm wie eine schwere Last vom Herzen, als er dort noch den Wagen stehen sah, welchen Rita zu benutzen pflegte.

(Fortsetzung folgt.)


Die Volksheime in Dresden.

Während der Staat alle Hebel ansetzt, soweit es in seiner Macht und Befugniß steht, die Lebenslage seiner ärmeren und ärmsten Bürger zu heben, die Schatten zu lichten, welche Krankheit, Verstümmelung, Altersschwäche und Tod auf den Weg des kleinen Mannes werfen, entfaltet sich gleichzeitig an vielen Punkten eine rege Thätigkeit von privater Seite, welche darauf ausgeht, den sozialen Nothständen mit freiwillig dargebotenen Kräften und Mitteln entgegenzuwirken, den Verdienst des Arbeiters nicht gegen äußere Schicksalsschläge, sondern gegen die Schwächen der menschlichen Natur selbst zu schützen. Mit Schmerz gewahrt der Volksfreund, wie der eben verdiente Wochenlohn statt in die Kasse des Haushalts oder in die Sparbüchse zu fließen, häufig durch unmäßiges Trinken vergeudet wie Noth und Elend dadurch über sonst vielleicht auskömmlich gestellte Familien gebracht, während in den jungen Leuten von früh an der Sinn für bescheidenes häusliches Leben und wirthschaftliche Sparsamkeit ertödtet wird. Er gewahrt aber auch, daß in vielen Fällen, besonders soweit es sich um die Unverheiratheten handelt, es an einer Gelegenheit fehlt, wo der zum Sparen und zur Mäßigkeit Willige seine Bedürfnisse an Speise und Trank und Erholung befriedigen kann, ohne zu größeren Geldausgaben, als sie die unumgängliche Befriedigung dieser Bedürfnisse verlangt, genöthigt zu sein.

In der Erkenntniß dieses Mangels hat man in dem letzten Jahrzehnt fast in allen hervorragenden, aber auch in manchen kleineren Städten Volkskaffeehäuser geschaffen und hie und da mit denselben auch Erfolge erzielt. Viel umfassender und großartiger sind die „Volksheime,“ mit denen das in gemeinnützigen Dingen so rührige Dresden auf den Plan getreten ist.

Der Gründer dieser Volksheime ist Geheimrath Dr. Victor Böhmert, der in Dresden als Direktor des Kgl. Statistischen Bureaus und Professor am Polytechnikum wirkt und nicht nur als Volkswirth, sondern auch als Volksfreund weit über Deutschland hinaus einen Namen hat. An der Besprechung aller sozialen Fragen hat Böhmert ist mancherlei Schriften seit Jahrzehnten regen Antheil genommen, und wenn man ihn heute fragen würde nach dem Schlußergebniß seiner Forschungen, würde er antworten, daß die Hebung der Volkswohlfahrt, besonders der Arbeiterwohlfahrt, am sichersten zu erreichen sei durch Hebung des Volkscharakters, durch Verbreitung von Sparsamkeit, Mäßigkeit, Sittlichkeit, häuslichem und wirthschaftlichem Sinn und durch eine Vereinigung der jetzt getrennt und mißtrauisch einander gegenüber stehenden Volksklassen nicht nur zu gemeinsamer Arbeit, sondern auch zu gemeinsamer Geselligkeit.

Zur Verwirklichung dieser Ziele sollten die „Volksunterhaltungsabende“ beitragen, die Böhmert vor einigen Jahren begründete (vergl. „Gartenlaube“ 1887, S. 896), und die seitdem in Bremen, Kiel, Lübeck und anderwärts Nachahmung gefunden haben. An diesen Volksunterhaltungsabenden, die von Armen und Reichen gleich herzlich begrüßt und sehr stark besucht werden, steht an erster Stelle ein kurzer Vortrag gemeinnützigen Inhalts, außerdem werden sorgfältig ausgewählte Deklamationen, Gesänge und andere musikalische Leistungen meist von unbezahlten Vortragenden geboten. Aber solche Abende ließen sich nur im Winter und aus Mangel an Sälen und Kräften durchschnittlich nur einmal im Monat einrichten. Deshalb faßte Böhmert einen neuen Fortschritt ins Auge; er verlangte nach Stätten, wo im Sommer wie im Winter, an Werktagen wie an

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 762. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_762.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)