Seite:Die Gartenlaube (1879) 309.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

jedoch, welche weder Politik noch Philosophie berühren, sollte man meinen, daß sie überall in gleichem Sinne gelöst werden müßten, und daß eine nennenswerthe Differenz nicht auftreten könnte.

So scheint für den ersten Augenblick eine Meinungsverschiedenheit undenkbar angesichts der Frage, ob man gegen die Nahrungsfälscher zu Felde zu ziehen hätte oder nicht. Gegen Leute, welche aus eitler Gewinnsucht selbst vor der Fälschung derjenigen Stoffe nicht zurückschrecken, die uns zur Erhaltung des Lebens nothwendig sind, da, sollte man meinen, müßten alle Rechtschaffenen aufstehen wie ein Mann und voll Abscheu ausrufen: „Nieder mit den Fälschern!“

Und in der That, wenn wir an die vor etwa Jahresfrist in allen deutschen Blättern jeder Parteirichtung immer und immer wiederkehrenden Aufrufe und an die zahllosen Leitartikel denken, welche lediglich die Bekämpfung der Nahrungsfälscher zum Zwecke hatten, so erscheint der Glaube an diese einmüthige Haltung Aller dem gemeinsamen Feinde gegenüber sehr gerechtfertigt.

Und dennoch giebt es auch hier Differenzen.

Zuerst wurde zwar nur die Zweckmäßigkeit eines Kampfes ohne genügende Vorbereitung angezweifelt und darauf hingewiesen, daß die Methoden der Wissenschaft zu wenig ausgebildet seien, als daß man den Kampf mit Aussicht auf große Erfolge beginnen könne. Dann wies man auf die Nothlage der Industrie hin und zeigte, wie eine Bekämpfung der Fälschungen direct oder indirect auch eine Schädigung der Industrie einschließe, wie die Surrogate für Kaffee, Butter, Wein nicht ein Schaden, sondern ein großer Segen für die Menschheit seien, gegen den nur das thörichte Vorurtheil des Publicums sich noch sperre. Endlich aber wurde der Beweis versucht, daß in Anbetracht unserer an und für sich naturwidrigen Lebensweise gar nicht festzustellen sei, wann ein gefälschtes Nahrungsmittel als gesundheitsgefährlich betrachtet werde müsse, und daß daher jede Agitation nicht nur überflüssig, sondern geradezu Unsinn sei.

Diese letztere Ansicht wurde von einigen der hervorragendsten Vertreter der Wissenschaft, gegen deren Charakter auch nicht das leiseste Mißtrauen Platz haben konnte, ausgesprochen, und sie wird auch heute noch von ihnen als die einzig richtige bezeichnet.

Inzwischen verfolgte die Agitation, unbeirrt von dieser entgegenstehenden Ansicht Einzelner, allein geleitet durch Gefühl und Gewissen der Gesammtheit, ihren Weg. Das Nächstliegende war die Appellation an das Reichsgesundheitsamt und die an dasselbe gerichtete Aufforderung, die bestehenden Uebelstände zu ermitteln und eine einheitliche Lösung der Frage durch Reichsgesetze zu erstreben. Dann aber ging man daran, Mittel und Wege ausfindig zu machen, durch welche man in den Gemeinden selbst dem Uebel begegnen könne; man bildete Vereine, errichtete Laboratorien, orientirte sich über die Art und den Umfang der Verfälschungen auf den einzelnen Gebieten, zog nach Möglichkeit die Fälscher vor Gericht und veröffentlichte ihre Namen in den Tagesblättern.

Heute sind wir bereits im Stande, den Erfolg aller jener Maßnahmen einigermaßen zu übersehen. Das Reichsgesundheitsamt hat den erbetenen Entwurf, mit fleißiger Benutzung des vom Auslande in dieser Angelegenheit gebotenen Materials, geschaffen und auch bereits aus den Commissionsberathungen fast unversehrt soweit geborgen, daß derselbe jederzeit vom Reichstag in Berathung gezogen werden kann. Wir werden im Falle der Genehmigung ein Gesetz haben, das einen besseren Schutz gegen die Fälscher und außerdem den großen Vortheil bietet, daß es in vielen Punkten erweiterungsfähig ist.

Unter den Errungenschaften in den Gemeinden selbst sind die neu geschaffenen Laboratorien die weitaus wichtigsten. Denn an sie lehnt sich naturgemäß alles Uebrige, was zu thun war, und aus ihnen geht auch naturgemäß alles hervor, was bis jetzt in den Gemeinden geleistet worden ist.

Wollen wir uns daher über den augenblicklichen Stand der Lebensmittelverfälschungen unterrichten, so werden wir uns zuerst die Resultate jener eigens von den Gemeinden oder Vereinen errichteten Laboratorien ansehen müssen. Einzelne derselben haben in besonderen Broschüren über ihre Thätigkeit berichtet und so die Möglichkeit geboten, daß Jedermann sich sein Urtheil selbst bilden kann. Sehr übersichtlich hat z. B. das Lebensmittel-Untersuchungsamt in Hannover[1] diesen Bericht erstattet, und zwar hat der Leiter des Laboratoriums sich nicht allein damit begnügt, die vorgekommenen Verfälschungen aufzuzählen, sondern er hat gleichzeitig die bei jedem einzelnen Gegenstand eingehaltene Grundsätze entwickelt, welche er für maßgebend hielt. Andere Vereine haben in den geeigneten Fachzeitungen ihre Resultate niedergelegt, und es verlohnt sich wohl, aus dem Gesammtergebniß die wichtigsten Thatsachen hervorzuheben.

Die überwiegend meisten Verfälschungen wurden beim Wein und bei der Milch entdeckt. Beim Wein bestätigen sich im Großen und Ganzen die Ausführungen, welche bereits vor zwei Jahren an dieser Stelle („Gartenlaube“ 1877, S. 317) gemacht wurden.

Kartoffelzucker und Wasser finden bei der Weinbereitung eine unglaublich ausgedehnte Verwendung, und zwar bei einzelnen Sorten in so hohem Grade, daß es zweifelhaft wird, ob nur Kartoffelzuckerwasser oder ob außerdem auch noch etwas Traubenmost bei der Herstellung in Arbeit genommen wurde. Hunderte von Analysen geben darüber jetzt unzweifelhafte Auskunft, nachdem es gelungen ist, durch Einführung des Polarisationsinstruments in die Weinanalyse jeden Zusatz von Kartoffelzucker sofort zu erkennen. Noch vor etwa zwei Jahren war man in dieser Hinsicht vollkommen rathlos und erklärte sich außer Stande, die Frage zu beantworten, ob ein Wein durch Kartoffelzucker und Wasser verfälscht war oder nicht.

Was von der Erkennung des Kartoffelzuckers gilt, findet auch bei den sicheren Methoden Anwendung, welche in der neuesten Zeit ausfindig gemacht sind, um selbst Spuren von Fuchsin und Methylviolett im Rothwein zu entdecken, und es ist sicher vorauszusehen, daß durch diese Hülfsmittel dem Unfug, welcher in der Zumischung jener Farbstoffe zum Wein liegt, bald ein Ende gemacht sein wird.

Die Milch hat sich als ein zur Verfälschung ganz besonders gut geeignetes Nahrungsmittel erwiesen. Sind auch die in früheren Abhandlungen aufgeführten Verfälschungen, wie Vermischung mit Stärke, Weizen-, Erbsen-, Reis- und Pfeilwurzmehl, mit süßen Mandeln und Hanfsamen, mit Gummi, Potasche, Kalk, Seife und Hammelgehirn, nach den neueren Erfahrungen der Untersuchungsämter lediglich als müßige Erfindungen aufzufassen – denn in Wirklichkeit sind sie nie constatirt worden – so giebt es doch zwei Verfälschungsarten bei der Milch, welche so lange bestehen werden, wie unsere Weltordnung selbst: der Zusatz von Wasser zur Milch und ferner deren Entrahmung. Beide Verfälschungsarten sind leicht auszuführen und dabei, wenn sie in einigermaßen verständiger Weise betrieben werden, so schwer nachzuweisen, daß oft nicht einmal die genaue chemische Analyse zu ihrer Feststellung genügt, sondern noch weitere Erhebungen im Stalle des Lieferanten erforderlich werden. Die Furcht vor Entdeckung ist somit verhältnißmäßig gering. Um so mehr ist daher aber auch die umfangreichste Controlle geboten. Hier können nur häufige chemische Untersuchungen der Milch bei sämmtlichen Milchlieferanten etwas nützen, und allein die Vereinigung der aus diesen Untersuchungen gewonnenen Resultate in einer Hand liefert Aussicht auf allmähliche Besserung der erstaunlich laxen Milchhändlermoral.

Hier ist das eigentliche Gebiet, auf dem sich die Lebensmittel-Untersuchungsämter in Verbindung mit den polizeilichen Behörden tummeln müssen, und wo der Nutzen, den sie der Gesammtheit bringen, hundertmal größer ist, als die Unterhaltungskosten aller Stationen zusammengenommen. Viel zu wenig macht man sich klar, um welch kolossale Summen es sich dabei handelt. Der Consum an frischer Milch beträgt in Deutschland durchschnittlich pro Kopf 120 Liter jährlich, das heißt für eine Stadt von 100,000 Einwohnern 12 Millionen Liter. Berechnet man 1 Liter Milch mit 15 Pfennig, so repräsentirt dieses Quantum einen Werth von 1,800,000 Mark, und bessert sich durch energische Controlle in einer solche Stadt die Milch nur um 10 Procent, so wird dadurch den Milchfälschern eine jährliche Rente von 180,000 Mark entzogen. Wie niedrig dabei gerechnet ist, geht am besten aus der Thatsache hervor, daß aus den statistischen Veröffentlichungen der Lebensmittel-Untersuchungsämter die Verfälschung der Milch mit Wasser nicht selten bis zu 100 Procent steigt, das heißt: 1 Liter Milch und 1 Liter Wasser geben zusammen 2 Liter Milch.

Günstiger lauten die Erfahrungen, welche in den Bieruntersuchungen

  1. Jahresbericht des Lebensmittel-Untersuchungsamtes 1877/78. Verlag von Th. Schäfer. Hannover. 32 Seiten Royal 8°.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_309.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)