Die Verfälschung der Lebens- und Genußmittel

Textdaten
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Autor: Dr. Gustav Dannehl
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Titel: Die Verfälschung der Lebens und Genußmittel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 19, S. 317–320
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Die Verfälschung der Lebens- und Genußmittel.
Von Dr. Gustav Dannehl.

Eine sociale Krankheit allerschlimmster Art, weil wir bei der gegenwärtigen schlaffen Handhabung des gesetzlichen Schutzes gegen dieselbe ihren gefährlichen Einflüssen fast wehrlos ausgesetzt sind, breitet sich immer mehr unter uns aus, und es ist nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, daß sie bei uns bereits einen epidemischen Charakter anzunehmen beginnt. Es ist dies die Verfälschung gerade der unentbehrlichsten Nahrungs- und Genußmittel und namentlich der Getränke. Eine Vergleichung der einschlägigen strafgesetzlichen Bestimmungen aller Nachbarländer mit denen Deutschlands ergiebt bis zur Evidenz, daß die Gesetzgebung in diesem Punkte anderswo strenger ist und, was wichtiger sein dürfte, bedeutend energischer gehandhabt wird, als bei uns. Aufmerksamen Beobachtern, welche nach irgend einer Richtung hin über die Grenzen unseres deutschen Vaterlandes hinausgekommen sind, kann es ebenso wenig wie dem Schreiber dieser Zeilen entgangen sein, daß es anderswo um die beregte Sache weniger [318] schlimm steht, als bei uns. In Frankreich kann man den Segen eines solchen strengeren Verfahrens auf Schritt und Tritt beobachten, ebenso in Belgien, und seit einiger Zeit auch in England, wo namentlich durch das Gesetz vom 6. August 1860 und durch die Zusatzacte vom 10. August 1872 gründlich reine Bahn gemacht ist. Ich bin sicherlich nicht der Einzige, dessen Glaube an die nachgerade genug gemißbrauchte deutsche Treue und Biederkeit in Handel und Wandel einen empfindlichen Stoß erlitten hat, sobald er den fremden Boden betrat. Wie tief muß in den Augen unserer Handelswelt der Werth wahrer Rechtlichkeit gesunken sein, wenn ein bekanntes Handelsblatt es wagen darf, Sätze wie folgende aufzustellen: „Die Grundidee des Handels ist, sich auf Kosten Anderer zu bereichern“ – oder: „Es haben sich im mercantilischen Leben verschiedene Gebräuche und Gewohnheiten eingebürgert, welche vor dem Richterstuhle der allgemeinen menschlichen Moral nicht bestehen können, die aber dennoch im ehrenhaften Handelsverkehr geduldet und anerkannt und von Personen befolgt werden, die in ihrem Privatleben durchaus nach den Principien der strikten Moral handeln.“ Oder: „Mancher Fabrikant sieht sich durch den Kampf der Concurrenz veranlaßt, der geforderten guten Waare eine geringere Qualität unterzuschieben, an Maß und Gewicht kleine Verkürzungen eintreten zu lassen und dennoch kann er in seinem Privatleben auf dem Boden der allerstrengsten Rechtschaffenheit stehen etc.“

Wenn nun ein Theil des Handelsstandes nach solchen sauberen Grundsätzen Geschäfte treibt – und fast muß man es glauben, denn es ist, soweit ich habe nachkommen können, kein tausendstimmiger öffentlicher Protest gegen die eben angeführten Sätze erhoben worden – nun, so haben wir ja an ihnen einen genügenden Aufschluß über den betrübend niedrigen Stand der Reellität in unserm Handel und Wandel. Ich habe in meinem simpeln Käufer- und Consumentenverstande immer geglaubt, es gäbe nur eine Moral, und ein Krämer, welcher eine wenn auch „kleine Verkürzung an Maß und Gewicht“ eintreten läßt, ein Schnitthändler, der mir Halbleinen für Leinen, Halbwolle für Wolle, Halbseide für Seide verkauft, ein Weinhändler, der mir Kunstwein für echten Traubenwein schickt, sei einfach ein Betrüger.

Viel lehrreicher, als für mich, ist jedenfalls der angezogene Artikel für alle diejenigen Geschäftsleute, welche in der eben geschilderten Handelspraxis schon einige Routine besitzen, aber noch so blöde sind, zuweilen doch einige Beklemmungen zu empfinden, wenn sie mit der erwähnten Maß- und Gewichtsverkürzung oder mit der Unterschiebung einer geringeren Sorte etwas[WS 1] zu weit gegangen sind. Ihnen stärkt also der erwähnte gefällige Handelsphilosoph das kleingläubig zagende Herz, und auf die Lebensmittelfrage angewendet, würde sein Evangelium etwa so lauten: „Fürchtet euch nicht! Ich verkündige euch große Freude. Wenn ihr auch etwas zweifelhaftes Fett zwischen die Butter schmelzt oder sie durch Butterpulver schwerer macht, wenn ihr auch Kalk oder Gyps unter das Mehl und den Streuzucker, Kalkwasser unter die Milch, Glycerin unter das Bier mischt oder den Käse durch geriebene Kartoffeln 'mildert', oder Cigarrenkistenholz unter den gestoßenen Zimmt reibt und was die Geschäftspraxis sonst so mit sich bringt, – was thut’s? Zwar sind solche Substanzen theilweise nicht gerade zuträglich für den menschlichen Magen, aber was an solchem Nährstoff zu Grunde geht (vielleicht ein paar tausend schwächliche Kinder oder dergleichen), das war schon von Haus aus nicht recht lebensfähig; was kräftig ist, frißt sich schon durch. Ihr aber seid und bleibt bei alledem immer noch ehrenwerthe Geschäftsleute und steht in eurem Privatleben unentwegt auf dem Boden der allerstrengsten Rechtschaffenheit, vorausgesetzt, daß ihr nach Schluß des Geschäfts nicht noch euren Nebenmenschen Uhr und Portemonnaie aus der Tasche zieht oder fremde Thüren in gewinnsüchtiger Absicht mit Ditrichen oder Nachschlüsseln öffnet.“

Doch die Sache ist vielleicht etwas zu ernst, um darüber zu lächeln. Ich erzähle Ihnen also versprochenermaßen lieber etwas von einigen – Bearbeitungen und Vervollkommnungen geringerer Sorten von Lebensmitteln zu bessern, ein Verfahren, das ich mir trotz der neuen Lehre unserer toleranten Handelspresse erlauben werde, einstweilen noch mit dem Namen Verfälschung zu bezeichnen. Und zwar soll diesmal vom Weine die Rede sein.

Die Klagen über das „Taufen und Manschen“ reichen ziemlich weit hinauf. Aber im Allgemeinen sind doch unser Jahrhundert und vorherrschend die letzten Jahrzehnte desselben die Blüthezeit des Verfälschungsschwindels. Mit dem Aufschwung und dem Fortschritt der Chemie hält der Mißbrauch der durch dieselbe gewonnenen Resultate gleichen Schritt. Die Weinverfälschung hat förmlich ihre Geschichte, und wer dieselbe weiter verfolgen will, den verweise ich auf die sehr gründliche criminal-politische Studie des Landgerichts-Assessors Hermann Bresgen: „Der Handel mit verfälschten oder verdorbenen Getränken etc.“, ein wenig übersichtliches, nicht gerade anmuthig sich lesendes Buch, das aber den vagen und unbewiesenen Deklamationen gegenüber, auf die wir meist in unserer wichtigen Frage angewiesen sind, wirkliche Thatsachen und ein mit erstaunlicher Sorgsamkeit und Gründlichkeit zusammengetragenes Material giebt. Wenn man an der Hand dieses Autors die endlosen, auf strengere Handhabung der Gesetze zielenden Schritte der landwirthschaftlichen Vereine, der Oenologen- oder Weinkennercongresse, die vielen Anträge und Petitionen der ehrlichen Weinproducenten überblickt, die sich und ihr ganzes Gewerbe durch die gewissenlosen Weinverfälscher beeinträchtigt sehen und auf energische Verfolgung der unsauberen Elemente dringen, so kann man sich nicht genug über die Zimperlichkeit wundern, mit welcher die Behörden gegen das Uebel vorgehen. Der Hauptgrund dieser ganz unzeitigen Milde scheint der Umstand zu sein, daß factische Beweise, wie z. B. eine chemische Analyse sie gewähren könnte, in Betreff der Verfälschung von gegohrenen Getränken sich schwer beibringen lassen.

Die älteste Methode der „Weinverbesserung“ ist das Chaptalisiren, d. h. das von Chaptal erfundene Zusetzen von Zuckerstoffen zu dem Most, welches dazu dient, eine geringere Sorte oder einen sauren Jahrgang trinkbarer zu machen. Dieses Verfahren ist ziemlich unverfänglich, wenn wirklich, und nicht nur vorgeblich, reiner Candiszucker hierzu genommen würde. Statt dessen wird, wie sich statistisch nachweisen läßt, vorherrschend Traubenzucker verwendet, der zwar chemisch bekanntlich dem in der Traube selbst erzeugten Zuckerstoff zum Verwechseln ähnlich ist, demselben aber dennoch in jeder Weise nachsteht. Auch der beste aus Kartoffelstärke durch Kochen derselben mit Vitriolöl gewonnene Traubenzucker, wie er im Handel vorkommt, ist niemals rein, sondern enthält zehn bis zwanzig Procent fremde, theilweise sehr schädliche Substanzen, welche nicht mit vergähren. Im Uebergangsstadium zum Alkohol verbreitet selbst ein verhältnißmäßig reiner Traubenzucker einen widerwärtigen ekelhaften Geruch. Und doch ist dieses Zusatzverfahren das bei weitem unschuldigste unter den Verfälschungen, und juristische wie medicinische Autoritäten haben Bedenken getragen, dasselbe überhaupt als eine Verfälschung zu kennzeichnen, weil der Wein wegen seiner complicirten Behandlungsart ebenso gut ein Kunstprodukt als ein Naturprodukt sei. Wenn daher auch die Weinbereitung nach Chaptal’s Grundsätzen nicht als Betrug angesehen zu werden braucht, so gilt dies doch von dem Handel mit chaptalisirtem Wein, denn offenbar zielt doch die ganze Behandlung darauf, das Product eines geringeren Jahrganges dem der besseren ähnlich zu machen, um es dann als besseren Jahrgang feilzubieten.

Bei diesem unschuldigen Verfahren blieb man natürlich nicht stehen. Es lohnte ja wenig. In den 1850er Jahren erfand Dr. Ludw. Gall in Trier ein anderes, bei dem schon mehr zu gewinnen war. Die Doctrin, welche er in einer Reihe von Weinbereitungsbroschüren erläutert, läßt sich kurz dahin zusammenfassen: „Es hängt von uns selbst ab, aus geringen und auch aus den edelsten Trauben der besten Lagen durch Zuckerwasserzusatz zum Moste wenigstens doppelt soviel Wein von mindestens gleicher Güte, wie aus dem unvermischten Moste, zu erlangen.“

Die Lehre Gall’s rief einen lebhaften Meinungsaustausch hervor. Es hat nicht an Chemikern gefehlt, welche sie, als wissenschaftlich richtig, vertheidigt haben. Andere griffen sie lebhaft an. Man wies darauf hin, daß der rohe Kartoffelzucker keineswegs mit dem in der Traube enthaltenen Zucker identisch sei. Dieser Kartoffelzucker werde durch die unreine Schwefelsäure blei- oder gar arsenikhaltig; er enthalte oft noch Dextrin, Kalk, Gyps oder sonstige der Gesundheit schädliche Stoffe, und so beantwortete man daraufhin die Frage, ob ein nach Gall’scher Methode bereiteter Wein der Gesundheit schädliche Stoffe enthalte, [319] entschieden bejahend. Die Gall’sche Methode hatte noch den Vortheil, daß die natürliche Säure schlechter Sorten oder Jahrgänge durch den Zusatz von Zuckerwasser verdünnt wurde; wenn dies noch nicht genug half, so wurde die freie Säure durch Pottasche, Kalk, Soda, weinsaures Kali etc. abgestumpft und gefällt. Der Consument bekommt eine oft hundertprocentig mit schädlichen Stoffen versetzte Flüssigkeit, die ihm als reiner Naturwein verkauft wird.

Trotzdem erklärte die Regierung zu Coblenz auf bestimmte, selbst amtliche Anfragen unter dem 10. Juni 1857, daß das Chaptalisiren und Gallisiren nicht unter die gegen Verfälschung etc. gerichteten Strafbestimmungen falle. In Folge dessen wurde denn das „Manschen und Panschen“ von Tag zu Tag offenkundiger getrieben. In der Rheinprovinz ging allmählich eine große Menge von Weinfabrikanten in ihrer Zutraulichkeit und Offenherzigkeit dazu über, das in Gegenwart von Steuerofficianten dem Moste zugegossene Wasser sich von dem Quantum fertigen Weines abziehen zu lassen, ja man declarirte den Wasserzusatz ganz offen auf den Steuerämtern. Man glaube ja nicht, daß die Anwendung dieses Verfahrens vereinzelt dasteht. Schon 1872 bestanden in Preußen allein dreiundvierzig Stärkezuckerfabriken. Während des Jahres 1873 wurden 80,000 Centner Stärkezucker zur Benutzung bei der Weinfabrikation zu Schiffe moselaufwärts geführt.

Wenn die Gesetzgebung wenigstens soweit eingriffe, die Fabrikanten zu zwingen, ein solches Getränk als gemachten Wein im Großhandel zu declariren und den Wiederverkäufer anzuhalten, daß er auf der Weinkarte und auf dem Etiquette nicht immer ganz unentwegt „Liebfrauenmilch“, „Hochheimer“, etc. schreiben darf, sondern etwa: „Kunstwein“ oder „Gallisirter Rhein- oder Moselwein“, so könnte man sich allenfalls beruhigen.

Die folgende Stufe zum Schlimmeren bezeichnet drittens das Petiotisiren. Wenn sich Gall damit begnügt, den Traubensaft zu vervielfältigen, so weiß sich dieser nächste Weinapostel, Pétiot, schon ganz ohne Traubensaft zu behelfen. Sein ganzes dem Weinberge entstammendes Rohmaterial besteht in den Trestern; dazu werden Keime und sonstige Faserstoffe des Weinstockes genommen. Diese übergießt man mit Zuckerwasser und läßt sie tüchtig auslaugen – also eine Art Diffusionsverfahren– und das giebt dann eine nette zweite Auflage des jedesmaligen Jahrganges, den sogenannten Nachwein, wie er natürlich nur bei den Eingeweihten, im Handel aber nie genannt wird. Der Weinreisende offerirt diese Sorten dem vertrauensseligen Kunden etwa mit folgenden Wendungen: „Wenn Sie etwas Billigeres wollen, so habe ich noch einen leichten Rheinwein etc.“. Ja, der ist allerdings ganz leicht – nämlich seinem Werthe und Gehalte nach.

Auch das Petiotisiren wurde noch überboten. Ehe ich Ihnen die vollkommenste und lohnendste Methode der Weinfabrikation kurz skizzire, welche sich, wie die drei erwähnten, ebenfalls wieder an einen bestimmten Namen knüpft, lassen Sie mich eine kleine Blumenlese anderer kleiner Surrogate und Verfahren geben, welche sich so unversehens eingeschlichen haben und die man als namenlose oder wilde Methoden bezeichnen kann! Die unschuldigste ist das Verschneiden, das heißt: die Vermengung des Traubenmostes oder Traubenweines mit Obstmost oder Obstwein, oder mit Mosten und Weinen aus anderen Gegenden, Lagen, Jahrgängen. Wie die Hauptkunst der Cigarrenfabrikation in der „richtigen“, das heißt: geschickten Zusammenstellung verschiedener Sorten aus- und inländischer Blätter besteht, so ist hier dem Weinhändler ein Feld genialster Combination eröffnet. Man denke sich nur zehn der currentesten Sorten, nehme davon die letzten vier bis fünf Jahrgänge, dann von jedem die Sonnen- und die Schattenseite, endlich eine Wenigkeit von Obstweinarten dazu, man mache mit diesen benannten Zahlen eine regelrechte Verwandelung, und man wird eine Fülle von Sorten herausbekommen, die jedem Geschmack genügen wird, selbst für die Ausstattung des größten Reichstagsweinfestes ausreichen würde, wir müssen uns aber auch sagen, daß es dem modernen Menschen solchen Leistungen der Weinproduction gegenüber nicht leicht gemacht wird, sich zu einem Weinkenner auszubilden.

Für jedes Gebrechen seines Erzeugnisses weiß der Weinfabrikant Rath. Ist er mit dem Zucker ein wenig zu derb gekommen, gut, so setzt er im besten Falle Fruchtsäure, Weinstein, im schlimmsten Falle – Schwefelsäure zu. Es ist noch nicht lange her, daß in Baden ein Fabrikant verurtheilt wurde, welcher die Schwefelsäure oxhoftweise verarbeitet hatte. Der Zusatz von Alkohol und von dem ekelhaften Glycerin hat in letzter Zeit eine ganz erschreckende Ausbreitung gewonnen. Zum sogenannten Schönen des Weines, das heißt: zur Fällung der Eiweißkörper und Hefenstoffe verwendet man Gerbsäure (Tannin) oder Leim, Gelatine, Hausenblase und Eiweiß. Der Weinproducent hat es ganz in seiner Gewalt, was für Wein auf seinem Grundstück wachsen soll. Mit dem künstlich bereiteten Bouquet, mit ätherischen Oelen, Gewürzschnitten, Essenzen, Oenanthäther, bei billigen Sorten auch mit Gewürznelken, Hollunderblüthen und andern Pflanzenstoffen läßt sich auch eine „Blume“, die Poesie des Weins, wie man sich genannt hat, auf’s Beste und Billigste herstellen.

Noch sicherer hat man die Erzeugung der Farbe in seiner Gewalt: Mit Heidelbeeren, Kirschen, Maulbeeren, rothen Runkelrüben, Hollunderbeeren, mit sogenannter Zuckercouleur läßt sich jede Schattirung, jede Nüance herstellen. Am meisten scheint, nach der großartigen Nachfrage und Preissteigerung dieses erst seit Kurzem beachteten Surrogats gegenwärtig die schwarze Malvenblüthe angewendet zu werden, und neuerdings das Fuchsin, welches häufig Arsenik enthält. Bresgen weist ferner nach, daß Bleiglätte, Bleizucker, Gyps, Alaun, Safran, schwefelsaurer Kalk, Kreide, Austerschalen etc. in Menge bei der Weinbereitung zur Anwendung gekommen sind. – Und doch war mit all diesen sauberen Erfindungen das Ideal des echten Weinfabrikanten noch nicht erreicht, bis Fr. Jac. Dochnahl die permanente Weinbereitung in’s Leben rief und, nachdem er das Verfahren eine Reihe von Jahren gegen ein Honorar brieflich gelehrt hatte, 1875 durch eine Broschüre anpries. Er hat auf der Basis Petiot's weitergebaut.

Man bedient sich zu der Weinbereitung nach Dochnahl eines Gährfasses, welches mit dem betreffenden Material (Holzfasern in Form von Hobelspähnen, oder Reisig von Schleh- und Weißdorn-, Eichen oder Zwetschen etc.) ein- für allemal gefüllt wird. Diese Füllung bewahrt den Gähreffect permanent und übt ihn vollkommen aus, so oft auch immer eine neue Auffüllung, ein bloßes Hindurchleiten von „Most“, das heißt Trestern und Kartoffelzuckerwasser, oder noch bedenklicheren Flüssigkeiten vorgenommen wird. Man zapft die oben eingefüllten Fluthen einfach unten als Wein ab und setzt die Aufgüsse nach Belieben fort, ohne eine Erschöpfung des das Medium bildenden Materials zu finden. Was will daneben das Wunder von Kana noch bedeuten! Für die Herstellung des Aufgusses giebt Dochnahl in der erwähnten Broschüre („Die permanente Weinbereitung. Ein Beitrag zur Weinvermehrung von Fr. Jac. Dochnahl. Frankfurt am Main bei Chr. Winter 1875.“) eine stattliche Reihe wohlerprobter Recepte.

Da sind z. B. etliche Sorten, welche Dochnahl (natürlich für die Eingeweihten) mit dem vielverheißenden Namen Frankenthaler Kartoffelwein belegt. Man nimmt dazu: hundert Pfund Wasser, zwölf ein halb Pfund Kartoffeln, drei Pfund geschrotenes Gerstenmalz, vier Pfund Rohrzucker, hundert Gramm Hefe, ein halbes Pfund Weinsäure, drei Liter Weingeist von fünfundneunzig Procent. Mit diesem Recept sollen namentlich in den vierziger Jahren hunderttausende von Gulden nach Dochnahl verdient worden sein.

Der rheinische Hefenwein wird dargestellt aus hundert Pfund Wasser, dreißig Pfund Traubenzucker, fünf Pfund gepreßter (zwanzig Pfund flüssiger) Weinhefe, einem halben Pfund Weinsäure, sechszig Gramm Hollunderblüthen, fünfzehn Gramm Tannin. Bei den Rosinenweinen kommen auf die hundert Pfund Wasser zwanzig Pfund Rosinen, zehn Pfund Rohrzucker und ein halbes Pfund Weinsäure, wenn Weißwein daraus werden soll. Dieselbe Sorte in Roth erfordert noch einen Zusatz von fünfzehn Gramm Kino-Gummi, oder dreißig Gramm Tannin, „oder besser einen Absud von vier Pfund Schlehen oder Vogelbeeren, vier Pfund schwarzen Malvenblüthen, dreißig Gramm Veilchenwurzeln, welche mit ein Pfund Himbeersyrup oder zwei Pfund Himbeersaft abgekocht werden“.

Künstlicher Rheinweine kann ein ganzes Sortiment mit Hülfe des Dochnahl’schen Büchleins fabricirt werden. Kartoffel-Zuckerwasser mit Hefe und Weingeist ist immer der Hauptbestandtheil; die „Sorten“ bilden sich, je nachdem Tamarinden, Citronensäure und Kino-Gummi, oder Rosinen, Tamarinden und Bierhefe, oder Gerstenmalz, Veilchenwurzeln und Malvenblüthen zugesetzt werden. [320] Aus hundert Pfund Wasser, zwanzig Pfund Rebenblättern, Ranken oder Gipfeltrieben mit den immer wiederkehrenden Ingredienzen lehrt Herr Dochnahl einen „sehr guten Tischwein“ bereiten, welcher das ganze Liter sich auf fünf Kreuzer, sage fünf Kreuzer, stellt. –

Wo ist je ein größerer Wohlthäter der durstigen Menschheit aufgetreten, und wer hat je der Speculation, dem uns Menschenkindern doch so natürlichen Streben nach schneller Bereicherung ein ergiebigeres Feld seiner Thätigkeit eröffnet? Was kümmern uns nun noch Mißwachs, Nachtfröste und vernichtende Dürre? Reblaus, wo ist dein Stachel? Traubenkrankheit, wo ist dein Sieg? Also heran, ihr unterirdischen Boudiker, ihr billigen Bowlen-Weinhändler, kauft euch Dochnahl's unsterbliche Broschüre und macht euch euren „Wein“ selbst mittelst des permanenten Wassers! Habt ihr armen Opfer gewinnsüchtiger Großhändlerspeculation nicht immer mindestens fünfzig Reichspfennig und mehr für das Liter dieses guten Tischweines zahlen müssen, das Dochnahl für fünf Kreuzer herstellt und, menschenfreundlich wie er ist, herzustellen lehrt?Wie lange sollen Manscher, Panscher und Compagnie und wie sie alle heißen, noch von eurem Marke zehren und euren ehrlichen Verdienst schmälern, jene Groß-Weinhändler des Rheins, der Mosel, der Ahr, deren „eigenes Gewächs“ nicht im rosigen Lichte reift, sondern im Dunkeln, wo gut Munkeln ist, nicht an dem Sonnenhange des Rhein- und Moselufers, sondern in den felsigen Eingeweiden desselben, in dem tiefen Verließ, wo das oben beschriebene wunderthätige Danaidenfaß steht? Und das ist ja gerade das Bequeme, Sichere und Angenehme bei dieser Weinfabrikation, daß man dazu nicht erst einer in's Auge fallenden Fabrik mit einem himmelhoch ragenden Schornsteine bedarf.

Der glückliche Umstand, daß dieser lohnende Industriezweig geeignet ist, so recht im Verborgenen zu blühen, scheint mir ein Haupthebel seiner Verbreitung gewesen zu sein, und ich bin sicher, daß man zu staunenswerthen Resultaten gelangen würde, wenn man einmal der Weinfabrikation und dem Weinhandel ex officio auf den Grund ginge.

Ich habe im Vorstehenden ein wahrheitsgetreues Bild von den Methoden der Verfälschung eines der vielen uns mehr oder weniger unentbehrlichen Lebens- oder Genußmittel gegeben. Vielleicht trägt dieser Artikel dazu bei, arglose optimistische Gemüther aus ihrer Vertrauensseligkeit zu rütteln, und ein energisches Vorgehen Vieler gegen das sociale Uebel der Lebensmittelverfälschung, das fort und fort an Boden gewinnt, anzuregen. So lange die Gesetzgebung sich als unzugänglich erweist und wir noch auf Selbsthülfe angewiesen sind, würde die Ermittelung von Verfälschungen durch landwirthschaftliche, gewerbliche, naturwissenschaftliche und ähnliche Vereine, sowie die schonungsloseste Veröffentlichung erwiesener Fälle durch die Presse treffliche Dienste leisten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ewas