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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Die Mutter des großen Doctor Martin.

Wenn ich des Reformationsfestes gedenke, ersteht auch jedesmal vor mir das Bild meiner lieben Vaterstadt Weimar; mir ist, als sei es erst gestern gewesen, daß ich mit einer ganzen Schaar von Schulkindern hinzog nach dem sogenannten Luthergäßchen, wo die Currendschüler unser herrliches Hohelied: „Eine feste Burg ist unser Gott!“ sangen, zum Andenken daran, daß Luther bei seinem Aufenthalte in Weimar von seiner Wohnung im Vorwerke durch dies Gäßchen in die Stadtkirche gegangen, um zu predigen, und daß er selber einst in Eisenach ein armer Currendschüler gewesen sei. Jetzt ist das Alles anders geworden; die heute sogenannte Luthergasse entspricht nicht eigentlich unserem Luthergäßchen von damals, und der alte Brauch, am 31. October dort das Lutherlied zu singen, hat auch schon seit einer Reihe von Jahren aufgehört. Damals aber, im Anfange der vierziger Jahre, zogen wir großen und kleinen Mädchen in später Abendstunde, ich meine, es wäre um acht Uhr gewesen, zusammen in’s Luthergäßchen. Und wenn wir dann wieder nach Hause kamen und uns im traulichen Stübchen erwärmt hatten, dann holte der Vater ein altes Erbstück hervor, ein ganz vergriffenes Buch; ich weiß nicht einmal, ob es lateinisch oder deutsch geschrieben war; ich erinnere mich aber sehr gut und werde es nie vergessen, so lange ich selbst noch den Reformationstag auf Erden mitfeiere, wie er dann mit seiner armen, kranken Stimme vorlas: „Irmensula Lutheri oder Irmensäule zum Ehrengedächtniß des großen Lutheri“.

Margaretha Lutherin,
eine geborene Lindemännin aus Eisenach.

Und dann folgte, ein Jahr wie das andere, die ausführliche Beschreibung, wie dasjenige Haus, darin Luther zu Eisleben geboren worden, von dem Rathe daselbst auferbaut und am 31. October 1693 zu einem Almosenhause, auch Schreib- und Rechenschule eingeweiht worden, welches der Schreiber des Buches, Herr Gottfried Vogler, Stadtvoigt zu Eisleben, der ganzen evangelischen Kirche durch sein Schriftlein wollte kund machen. Und dann erzähle uns der Vater mehr als er las, obgleich er das Buch immerfort in Händen hielt, ausführlich, wie Luther’s Mutter Margaretha, geborene Lindemann, am 10. November 1483, Abends elf Uhr, in diesem Hause ihr Söhnlein Martin geboren, der dann später durch Gottes weisen Rathschluß der große Reformator geworden sei. Und wir beklagten gar sehr die arme Frau und das kleine Kind, das fast wie unser liebes Jesulein, ohne Vorbereitung auf der Welt empfangen worden war; denn seine Mutter war nur von Mansfeld nach Eisleben zum Jahrmarkte gegangen, und da wurde unerwartet das Söhnchen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 45. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_045.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)