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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


nicht unempfänglich, aber das Wohlgefallen, das er daran fand, mußte alsbald zurücktreten gegen den Aerger, den ihm der erneute über das Pianoforte dahinbrausende Sturmwind der Töne einflößte. Er trat vom Fenster zurück, nahm die Gedichte von Giuseppo Giusti zur Hand, deren epigrammatische Schärfe und galliger Humor zu seiner Stimmung paßten, und vertiefte sich in die Lectüre, so lange es die hereinbrechende Dämmerung erlaubte. Dann warf er wieder einen Blick hinaus und hinüber; endlich zeigte sich die gefährliche Nachbarin, die Drachenjungfrau. Sie stand zurücksprechend an der halbgeöffneten Balconthür; lange blonde Locken wallten über ihre Schultern herab.

„Eine geniale Künstlerin also, wie sie die Conservatorien unsicher machen,“ dachte der Hauptmann; „ich kenne diese löwenmähnigen Musikjüngerinnen; sie besitzen meistens eine schreckenerregende Energie und aus ihren Zügen spricht kein Herz.“

In diesem Augenblick drehte sich die blondgelockte Schöne um und trat zur Lautenschlägerin hinaus. Der Hauptmann nahm seine finstersten Mienen an, um gleichsam die erste Parallele zur Belagerung der feindlichen Festung zu eröffnen; doch unwillkürlich lichteten sich seine Züge wieder. Das war ja ein reizendes Mädchen, und ihre Erscheinung hatte nichts gemein mit der Berserkerwuth, die ihre Fingerspitzen am Clavier beseelte. Die Gestalt war schlank und fein und doch nicht von jener duftigen Zierlichkeit, wie sie manche niedliche Nipptischfiguren besitzen. Alles an ihr, Gestalt und Züge, hatten echt mädchenhaften Reiz. Der Hauptmann konnte nicht umhin, an die Sanct Cäcilie Raphael’s zu denken, als sie ohne Absicht und Koketterie mit ihren blauen Augen zu den rothen Abendwölkchen am Himmel emporsah; der sanfte, schwärmerische Ausdruck ihrer Züge hatte etwas ungemein Gewinnendes. Dem Hauptmann ging die Pfeife aus, und es fehlte nicht viel, so hätte er den schönen Pfeifenkopf, auf welchem das silberne Savoyische Kreuz im rothen Felde schimmerte, an der Fensterbrüstung zerschlagen.

„Das ist die Mamsell, die den großen Spectakel macht,“ ertönte hinter ihm plötzlich die Stimme des wackeren Skarnikatis, welcher sich durch diese Bemerkung in die Gunst seines Herrn einzuschmeicheln hoffte.

„Corpo di bacco! Was erlaubst Du Dir?“ rief der Hauptmann erzürnt, aus seinen Träumereien aufgescheucht.

„Sehr lebensgefährlich sieht sie gerade nicht aus,“ fügte der treue Diener beruhigend hinzu, indem er am Aermel seines Herrn und Gebieters eifrig herumbürstete.

Wie ein Vögelchen, das der Lärm menschlicher Stimme verscheucht, war das Mädchen inzwischen in das Zimmer zurückgehuscht; bald waren an ihrem Fenster die Rouleaux mit ihren unmöglichen grünen Blumen und blauen Blättern heruntergelassen, und nur das hindurchschimmernde Lampenlicht verrieth, daß Sanct Cäcilie noch mit irgend einer stillen Thätigteit beschäftigt war; denn das Clavier blieb stumm.

Ueber Ariosto und Dante hinweg blickte am nächsten Tag der Hauptmann schon in der Frühe nach dem Lebenszeichen seines Gegenüber. Lange blieben die Rouleaux unten. Endlich erklang das Clavier; eine Beethoven’sche Sonate, so ausdrucksvoll gespielt, daß der Hauptmann andächtig zuhörte, tönte herüber und bald darauf erschien das Mädchen wieder auf dem Balcon, so morgenfrisch, so ohne alle Vormittagsblässe, im einfachen lichten Gewande, eine Camellie im Haar. Der Hauptmann, der sich schüchtern etwas vom Fenster zurückgezogen hatte, um sie nicht mit aufdringlichen Blicken zu belästigen, konnte sein Auge nicht abwenden.

Kein Astronom hat den Durchgang der Venus durch die Sonne mit größerem Eifer beobachtet, als der Hauptmann von jetzt ab das Erscheinen und Verschwinden des schönen Sternes, der so plötzlich an seinem Horizonte aufgegangen war. Er wußte genau, wann sie auf den Balcon zu treten pflegte, überhaupt zu welcher Zeit des Tages sie zu Hause war, und verfehlte dann nicht, mit seinen Büchern sich in die Nähe des Fensters zu setzen, daß der Blick hinüber frei war. Wenn sie Clavier spielte, stand sein Fenster offen; er hatte sich auf einmal in einen leidenschaftlichen Musikfreund verwandelt und schlug mit der Pfeife den Tact zu ihrem Spiele. Nur etwas beunruhigte und ärgerte ihn: es ließ sich in den nächsten Tagen bisweilen das A-B-C der musikalischen Kunst hören, kindliche Tonleitern und Accorde, herumtastende und falsche Griffe, und dies beleidigte weniger seinen Geschmack, als der Gedanke, daß ein so reizendes Mädchen zu so kläglichen Unterrichtsstunden verurtheilt sei, sein Gefühl verletzte. Das paßte ihm nicht zu dem Lichte der Verklärung, in dem er seine Sanct Cäcilie sah.

Skarnikatis bemerkte bald, daß der ganze Kalender des Hauptmanns in Unordnung gerathen sei. Zur Zeit, wo er sonst seine täglichen Spaziergänge machte, pflegte die Schöne gegenüber auf dem Balcon zu sitzen, das sinnende Haupt über irgend ein Buch geneigt; so wurde denn die Uhr des Hauptmanns anders gestellt; er verschob seinen Spaziergang auf eine andere Stunde, um ungestört das liebliche Bild von drüben in sich aufnehmen zu können.

Aber was war das für ein sonderbares Gefühl, welches in das Herz des militärischen Sprachlehrers seinen Einzug hielt? Er hatte das Zeitwort „lieben“ in neun Sprachen conjugirt; er hatte in neun Sprachen die Gedichte gelesen, welche der Neigung des Herzens, der Leidenschaft gewidmet waren; doch die Liebe war ihm nur eine Vocabel, wie andere mehr. Weshalb zog es ihn immer an’s Fenster, wenn das blondlockige Mädchen ihm gegenüber saß?

Skarnikatis hatte mit seiner litthauischen Schlauheit bald den Eindruck bemerkt, den die anmuthige Clavierspielerin auf seinen Herrn machte, und auch ihrem Spiel warme Lobeserhebungen gespendet, wobei er nur das Unglück hatte, mehrmals die Fingerübungen ihrer Schüler durch seine glänzenden Censuren auszuzeichnen. Gleichzeitig aber hatte er Erkundigungen eingezogen, was man in dem Nachbarhause von der Dame wußte; er hatte erfahren, daß sie Hulda Freiberg heiße, in dem Städtchen nicht zu Hause sei, sondern von auswärts komme. Im Uebrigen versiechten seine Quellen; man wußte nichts von ihrer Heimath, ihrer Familie.

So vergingen mehrere Wochen; Hulda am Clavier und auf dem Balcon war der immer gleiche Stern, der über den wechselnden Kalenderwochen strahlte. Auf die italienische folgte die französische; Petrarca’s Laura verwandelte sich in eine reizende Ingénue der modernen Komödie Augier’s und Sardou’s, aber trotz der Camellie in ihrem Haar in keine Camelliendame; es giebt ja so harmlos kindliche Mädchengesichter in der Portraitgalerie der neuen französischen Schauspieldichter neben den Damen mit Camellien, Perlen und in Lila. Es folgte die polnische Woche; dem Hauptmann erschien Hulda auf einmal als eine schöne Sarmatin, aus deren Schuh er gern auf ihr Wohl getrunken hätte. Dann kam die spanische Woche; er sah sie, in die Mantilla gehüllt, auf der Giralda in Sevilla stehen. Wie man durch die bunten Scheiben einer Einsiedelei den Himmel und seine Sterne immer in neuen Farben sieht, so sah die erregte Phantasie des Hauptmanns das Mädchen in jeder Woche im Lichte einer andern Volkspoesie, je nachdem diese oder jene Sprache auf seinem Programm stand; im Bildersaal der Weltliteratur war sie das bleibende Titelkupfer.

Wieder war im Reigen der sich ablösenden sprachlichen Wochen die italienische herangekommen. Der Hauptmann saß bei den Sonetten des Petrarca; da trat Skarnikatis plötzlich in großer Aufregung herein; sein ganzes Wesen bewies, daß etwas Ungewöhnliches vorgefallen sei, und dennoch flüsterte er so leise, daß sein Herr ihn erst auf wiederholte Anfrage verstand:

„Das Mädchen von drüben!“

Diesmal ereilte das Savoyische Kreuz auf dem Pfeifenkopf sein unvermeidliches Geschick; der Hauptmann sprang so rasch vom Sopha empor, daß der Kopf am Tischbein zerschellte, und während Skarnikatis in größter Eile die Scherben zusammensuchte, fuhr sein Herr aus dem Schlafrock in den Hausrock und aus dem Hausrock wieder in die Regimentsuniform, die ihm beim Abschied bewilligt worden war; denn nur so erschien er sich würdig genug, die Schöne zu empfangen.

Endlich! Skarnikatis legte sein breites Gesicht in würdige Falten, als er der Dame mittheilte, daß sein Herr sie erwarte.

Hulda trat ein.

Die Lichterscheinung, die in’s Zimmer tritt,
Bringt eines fremden Himmels Schimmer mit.

Sie trat ein, und der Hauptmann begriff nicht, daß dieses große Ereigniß so spurlos in seinem Zimmer vorüberging; ein kleines Erdbeben in diesem Augenblick hätte ihn nicht in Erstaunen gesetzt; er würde es weniger wunderbar gefunden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 835. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_835.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)