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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Wirkliches, in der äußeren Welt Vorhandenes; das sind nur Formen, welche Dein Geist zu den Dingen hinzubringt, Gläser, durch welche Dein Anschauungsvermögen die Dinge betrachtet, Gefäße, in welche Du vermöge einer nothwendigen Einrichtung Deiner Natur die auf Dich eindringenden Dinge einfassest. Was diese Dinge sind ohne Dich, ohne die Formen, die Du an sie heranbringst, also an sich selbst, nach ihrem eigentlichen Wesen und ihrer wahren Natur, das weißt Du nicht. Wir erkennen also die Dinge nur, wie sie uns erscheinen, nicht wie sie sind; ‚das Ding an sich‘ bleibt dem Menschen ewig unbekannt.“ Und unser Dichter spricht ganz im Sinne Kant’s, wenn er unter den „Worten des Wahnes“ die Meinung aufführt, daß dem irdischen Verstande die Wahrheit je werde erscheinen, „ihren Schleier hebt keine sterbliche Hand; wir können nur rathen und meinen; du kerkerst den Geist in ein tönend Wort, doch der freie wandelt im Sturme fort.“

Man folgte dem kühnen Revolutionär im Reiche des Gedankens Schritt für Schritt; man ließ sich die Trugschlüsse aufzeigen, welche die menschliche Vernunft in allen ihren bisherigen Speculationen über Gott und Welt und Menschenseele begangen hatte, und man blickte mit einem gewissen kritischen Wohlgefallen auf diese Trümmerwelt des gewöhnlichen Meinens und Glaubens. Aber so recht wohl wurde es Einem doch nicht in dieser dünnen und scharfen Luft der Kritik. Sobald man nur der Zucht des strengen und scharfsinnigen Meisters einen Augenblick entronnen und sich selbst zurückgegeben war, stellte sich der alte Adam, das gemeine, hausbackene Denken wieder ein und sprach bei sich selbst: „Ja! der Baum, den ich da vor mir sehe, ist doch gewiß ein Baum; ich kann seine Geschichte verfolgen von dem Kerne an, aus dem er erwächst, bis zur Krone, in welcher er sich vollendet – warum sollte er anders sein, als er mir erscheint? Der menschliche Geist mit den nothwendigen Formen seiner Anschauung und seines Denkens wird doch für die Dinge der Welt berechnet sein und diese für ihn; nur weil das Auge sonnenhaft ist, vermag es die Sonne zu erblicken; was nicht etwa ich als Einzelwesen, was der Mensch vermöge der Einrichtung seiner Natur so anschauen und so denken muß, das wird auch in Wirklichkeit so sein. Was der Mensch vermöge der nothwendigen Formen seiner Anschauung und seines Denkens auf Erden bindet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was er also auf Erden löst, das wird auch im Himmel los sein. Ueberdies giebt es, wenn Kant Recht hat, nicht blos keinerlei Erkenntniß des Uebersinnlichen, der Dinge an sich, es giebt im Grunde auch keine Erkenntniß der sinnlichen und wahrnehmbaren Dinge; denn auch von diesen erkennen wir nicht das Wesen, sondern nur den Schein, den sie auf unser Auge werfen; was sie wirklich sind, wissen wir nicht. Es giebt also überhaupt keine Wissenschaft, keine Erkenntniß, keine Wahrheit. ‚Wir können nur rathen und meinen‘, und ‚die Kritik der reinen Vernunft‘ hat zwar das Denken geschult, wie kein anderes philosophisches System, aber in ihrem Ergebnisse hat sie nicht über Pyrrho und Hume, die Zweifler an aller Wahrheit, hinausgeführt.“

Unter diesen und ähnlichen Gedanken fing ich an zu zweifeln, ob ich überhaupt Kant verstanden, seine eigentliche Meinung richtig aufgefaßt habe. Ich wagte nicht meine Unwissenheit gegen irgend Jemand einzugestehen; ich fürchtete, ausgelacht zu werden; denn ich meinte, was mir so viel Kopfzerbrechen mache, sei für die Anderen eine leichte Sache. Ich raffte Alles zusammen, was an Popularisirung und Erläuterung des schweren Buches von Anhängern, zum Theil noch Zeitgenossen des großen Philosophen, im Druck erschienen war, aber das verwirrte nur noch mehr; denn es verbarg die wahre Gestalt des furchtbaren und schwer zugänglichen Kritikers hinter dem Bilde eines brauchbaren, dem gewöhnlichen Verständniß angenäherten Dogmatikers.

Einer Jugend, die gern aus dem Vollen schöpft, die in’s Unbegrenzte schweift, die mit neugierigem Sinn wissen möchte, was die Welt im Innersten zusammenhält, mochte die Selbstbescheidung des greisen Denkers von Königsberg, sein besonnenes Maßhalten, und bedächtiges Grenzensetzen nicht behagen. Man schaute von dem Brod der Entbehrung, das er reichte, nach den vollen Fleischtöpfen, welche die auf ihn folgenden Philosophen in Aussicht stellten. Da sollte das Welträthsel endgültig gelöst, die absolute Philosophie mit der absoluten Religion gefunden und der ewige Friede zwischen Wissen und Glauben geschlossen sein.

Fichte, der Weiterleiter der Kant’schen Philosophie, sprach mich als großer Mensch und granitener Charakter gewaltig an, aber den Denker verstand ich nicht. Die „Wissenschaftslehre“ legte ich nach einigen Versuchen, die Schale zu zerbrechen, wieder weg. Sollte ein Mensch in vollem Ernste der Meinung sein, daß alle Dinge außer ihm, die Häuser, die Berge, die Bäume, die Sterne, die Menschen um ihn nur das Erzeugniß und die Abspiegelung seines eigenen Ich seien? Mochte auch eine solche Annahme als eine natürliche Folgerung aus den Kant’schen Voraussetzungen sich ergeben, so wollt’ ich doch lieber an meine eigene Unfähigkeit, philosophische Gedanken zu fassen, glauben, als an solche Ungeheuerlichkeiten im Gehirne eines Denkers. Ging ich darum in ehrfurchtsvoller Scheu an Fichte vorüber, so stieß mich dagegen Schelling förmlich ab. Er galt mir als der Philosoph der Romantik und der Reaction.

Eine vortreffliche und geistvolle Abhandlung Arnold Ruge’s über „unsere Classiker und Romantiker“ hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht. Hier wurde über die Romantik – in dem weiteren Sinn des Wortes, in welchem bald nachher Strauß einen Friedrich Wilhelm den Vierten von Preußen als den Romantiker auf dem Throne der Cäsaren zeichnete – die unerbittliche Geißel der Satire und des männlichen Zornes geschwungen: sie wurde an den treffenden Beispiele der Tieck, Schlegel, Novalis, Stolberge etc. gezeichnet als das souveräne Belieben des eitlen sich selbst bespiegelnden Ichs, das die ganze Welt zum Spielball seiner Laune und Willkür macht, das geistreiche Wesen, das dilettantische Genießen und Versuchen höher stellt, als den bürgerlichen Fleiß und die tüchtige Arbeit für vernünftige Weltzwecke, für das tägliche Leben eine eigene aristokratische Moral der Genies erfindet und die Gesetze der gemeinen Sittlichkeit mit Füßen tritt, in der Philosophie an die Stelle eines geordneten Denkens geniale Schrullen und geistreiche Aperçus setzt, in der Kunst die Regel und das Gestaltbare verachtet und das Formlose, Unaussprechliche zu gestalten sucht, in der Politik für das Mittelalter schwärmt und in der Religion nach dem Katholicismus hinüberschielt.

Diesem Dämmer der Romantik wird die lichte Welt des Gedankens und der Formenschönheit, der gesunde Realismus eines Kant, Goethe, Schiller als der Classiker der deutschen Nation gegenübergestellt. In diesem saftigen Gemälde erschien Schelling als der Philosoph, als der Johannes der Romantik. Es mag viel Leidenschaft in diesem Urtheil liegen, aber ich konnte ihm doch nicht ganz Unrecht geben, nachdem ich Schelling’s „Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit“ studirt hatte. Das Büchlein ist hübsch, geistreich, gefällig geschrieben, aber die Grundbegriffe desselben: der Gott, der anfänglich noch nicht Gott, sondern sein eigener bewußtloser Ur- und Ungrund ist, aus dem er sich zum Erfassen seiner eigentlichen Gottheit erhebt, der Mensch, der durch eine vor- und außerzeitliche That, also vor seiner Existenz nicht nur seinen sittlichen Charakter, sondern sogar seine Körperbeschaffenheit bestimmt etc. – erschienen als phantastisch und gnostisch, und ein solcher Denker verlor sich in die dunkeln Gründe der Mythologie.

Kam so von dieser Seite her wenig Licht, so stürzte man sich mit um so größerem Vertrauen auf Hegel. Die Hegel’sche Philosophie erlebte eben damals – Anfang und Mitte der vierziger Jahre – ihre schönste Zeit. Noch hatte der allgemeine Geist sich nicht feindselig und mißtrauisch von der Philosophie abgewandt und der Ruf nach Erfahrung und exactem Wissen den Sinn für die Speculation noch nicht ertödtet. Wohl hatte die Hegel’sche Philosophie aufgehört, Staatsphilosophie zu sein, aber das gereichte nur zu ihrem Vortheile; junge, unabhängige Geister waren eben daran, die keimkräftigen und fruchtbaren Gedanken des Systems, zum Theile glücklich befreit von den Klammern der eintönigen, schwerfälligen Formel, in alle Gebiete des Wissens und bald auch des Lebens hinauszutragen. Die „Hallischen Jahrbücher“ legten im Tone des frischen, kecken Jugendmuthes die Grundsätze Hegel’s als Maßstab an die Zustände des Staates und der Kirche an. Strauß, Zeller, Schwegler übersetzten die geheimnißvollen Orakelsprüche des Meisters in ein schönes, verständliches

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_102.jpg&oldid=- (Version vom 4.6.2023)